Bericht von Andrea Hess über den Besuch bei ihrem Schwiegervater Rudolf Hess am 16. August 1983, in der Zeit von 10.30 bis 11.30 Uhr.

Der Flug München-Berlin ist reibungslos verlaufen, das Taxi hat mich an der Melanchthon-Kirche abgesetzt, die letzten zweihundert Meter möchte ich ganz allein gehen, noch einmal tief durchatmen, die Gedanken auf die kommende Stunde richten.

Ein Radfahrer dreht sich neugierig um, als ich in die Gefängnisauffahrt einbiege. Das ist doch verboten, wie die großen Tafeln zweisprachig ankündigen ! Aber was weiß der... ! Auf diesem kurzen breiten Kopfsteinpflasterstück überfällt mich immer wieder das gleiche Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht: Das riesige Gefängnistor, Stacheldraht, Mauer und Wachtürme, alles strahlt Ablehnung aus und da mitten hinein führt dieser Weg !

Die Gefängnisglocke schrillt unangenehm, ich höre Schritte auf Steinpflaster, in Kopfhöhe wird eine kleine Luke geöffnet. Selten habe ich erlebt, daß die kleine Tür zum Einlaß gleich geöffnet wurde, vielmehr wird hochoffiziell angefragt, was ich wolle, gerade so, als sei es ein ganz unerwartetes Ereignis, daß ich vor der Tür stehe. Wohlgemerkt muß der Besuch drei Wochen vorher schriftlich beantragt werden und wird seitens der Gefängnisleitung mit exakter Besuchszeitangabe schriftlich bestätigt.

Innen immer wieder eine ähnliche Szenerie: Neugierige Blicke der lässig herumstehenden amerikanischen Wachsoldaten... "Legen Sie bitte die Tasche ab...". "Schreiben Sie sich bitte hier ein...". Im Besucherbuch die wiederkehrenden Namen der Familienmitglieder: W.R. Hess, Ilse Hess, Margarethe Rauch, Ingeborg Pröhl, Monika Hess, Andrea Hess.

Heute habe ich für Vati nur einige wenige Fotos dabei, außerdem einen Schmalfilm, auf dem hauptsächlich unsere Kinder zu sehen sind und ein kleines Glas selbstgemachter Marmelade.

Wie üblich werde ich abgeholt und über den kleinen Hof ins Hauptgebäude geführt. Kastanienbäume rauschen hier, den Treppenaufgang zieren Blumenkästen. Heute stellt mein Begleiter nicht die sonst üblichen Fragen nach dem Flug und dem Wetter in München...

Zu meiner Überraschung kommt uns im Gebäude der amerikanische Direktor mit energischen Schritten aus dem Zellengang entgegen, ein kleiner Mann, sein normalerweise roter Kopf ist heute dunkelrot. Er grüßt äußerst knapp und verschwindet im Direktionszimmer, dicht gefolgt von seinem "assistant", der das Dreifache von ihm an Größe und Umfang ist. Von den anderen Direktoren ist noch keiner anwesend. Ich werde in den Besucherraum geführt. "Bitte, hier können Sie sich eintragen...", d.h., daß mir die übliche Mappe vorgelegt wird, links die 9 Punkte der Gefängnisordnung, rechts die Unterschriften der Besucher, die hiermit die Regelungen anerkennen - auch anerkennen, daß sie bei Zuwiderhandeln ebenfalls in Haft genommen werden können. Ich unterschreibe. Noch immer bin ich alleine. Ich blättere in der Mappe zurück und finde, was ich suche: "Andrea Hess, 18.8.1976" Das war mein erster Besuch, heute ist es mein zehnter Besuch, sieben Jahre sind seither vergangen !

Ein Wärter holt meine Fotos und den Film zur Begutachtung ab, von den Direktoren ist noch immer keiner zu sehen. Mein Blick wandert durch den kargen hohen Raum. Auf dem Tisch rechts von mir liegt ein Stapel weißer Blätter und vier gespitzte Bleistifte, auch ich habe Papier und Bleistift vor mir. Linkerhand noch weitere Stühle, es gibt genügend Platz für Zuhörer ! Der Wärter kommt etwas verlegen zurück, die Herren Direktoren wollen das inzwischen leicht klebrige Marmeladenglas auch sehen ! Aber bitte, gerne. Monsieur Planet, der französische Direktor kommt, mit stets gleichbleibender Freundlichkeit werde ich begrüßt. Er erkundigt sich nach der Familie und ich erkundige mich nach der Gesundheit meines Schwiegervaters. Respekt schwingt mit, als er antwortet: "Gut, sehr gut für einen Mann seines Alters." Kurz darauf bin ich wieder allein, alles ist etwas ungewöhnlich heute. Mein Blick wandert weiter. In der anderen Hälfte des Raumes, durch eine Wand mit einem großen Ausschnitt von der Besucherseite getrennt, bemerke ich zum ersten Mal, daß das hohe Fenster nicht nur vergittert ist, sondern auch mit einem schwarzen metallenen Sichtschutz von außen verblendet ist, der nur das obere Viertel des Fensters freiläßt. Ich schaue auf rote Backsteinmauern, über die gelegentlich Vogelschatten huschen.

Inzwischen ist es auf dem Gang unruhig geworden, der englische Direktor und der Russe, heute in Zivil, sind eingetroffen, die Begrüßung ist knapp. Ich stehe auf, um so auf Vati zu warten.

Der farbige Wächter tritt als erster in die andere Hälfte des Besucherraumes, er trägt Vatis Sachen: Die gerollte Decke legt er auf den Stuhl, (Vati benutzt sie als Polster, wenn er die Beine hochlegt), das große Notizbuch auf den Tisch. Seit meinem letzten Besuch ist einige Zeit vergangen, und so erschrecke ich ein wenig, als Vati hereinkommt: Er geht ungestützt und frei, aber doch sehr langsam und seine ganze Gestalt hat etwas zerbrechliches angenommen. Zur Begrüßung werden ein paar Worte gewechselt; Berührungen jeder Art sind nach wie vor untersagt und durch den breiten Tisch, der den Besucherteil von dem Gefangenenteil trennt, wird auch schon jeder Versuch unmöglich gemacht. Bevor Vati sich setzt, bittet er den Wärter, der bei ihm bleibt, auf Englisch, ihm fünf Minuten vor Ende Bescheid zu sagen. Dann stellt er seinen Taschenwecker auf und bittet mich, Platz zu nehmen. Auf mein Danke hin antwortet er: "Ich bedanke mich für diesen stehenden Empfang. Und bevor ich es vergesse, gratuliere ich Dir zu Deinem Geburtstag, den Du in drei Tagen haben wirst. Ich wünsche Dir alles Gute, Gesundheit und soviel Glück, wie Du bisher hattest. Du hast einen tüchtigen Mann und drei gesunde kleine Kinder, das, finde ich ist ein sehr großes Glück !"

Inzwischen hat sich auch der amerikanische Direktor geräuschvoll zu den anderen Herren gesetzt, auf meine Frage, ob ich die Fotos zurückhaben könne, bekomme ich die unwirsche Antwort, sie kämen gleich. Die Fotos erleichterten bisher immer sehr den Anfang unseres 60-Minuten-Gesprächs. Auf Startschuß, unter Zeitdruck und unter Aufsicht mit Vati ein ganz persönliches Familiengespräch zu beginnen, habe ich in den Jahren nicht gelernt, es ist auch wohl nicht erlernbar !

Ich fange mit den Kindern an, davon, daß sie seit über einer Woche bei meinen Eltern in der Heide sind und dort eine herrliche Zeit verleben werden. Wolf und ich fahren dafür eine Woche nach Bayreuth, um dort Wagners "Ring des Nibelungen" anzuschauen, der dieses Jahr in einer Neuinszenierung geboten wird, ganz naturalistisch, so naturalistisch, daß die Rheintöchter im Adamskostüm auftreten ! Verschmitzt berichtigt mich Vati: "Du meinst im Evaskostüm." Im übrigen beneide er uns, den Ring sähe er auch gerne einmal.

Ein weiteres Thema ist unser erstes Schulkind Friederike: Vati erkundigt sich nach dem Schulweg und meint, er hätte diesbezüglich doch einige Sorgen. Ich erkläre ihm, daß der Schulweg nicht allzu lang ist und Friederike ihn schon kennt, daß wir ja auch oft genug durch den Ort gehen und die beiden Großen die Straße schon alleine mit Hilfe der Fußgängerampel überqueren können. Da Vati sich unter einer Fußgängerampel nichts vorstellen kann, läßt er sie sich von mir erklären.

Wir streifen noch kurz das Thema des Häuserbauens in jüngster Zeit, wozu wir in unserer Umgebung feststellen können, daß es sehr gelungene Beispiele gibt, die von der eintönigen Betonfassade wegführen. Dann frage ich erneut nach den Fotos, der Ami deutet auf den russischen Direktor, der die Fotos daraufhin aus seinem Jackett zieht und anfängt, sie zu begutachten. In der Zwischenzeit kündige ich Vati unsere hausgemachte Marmelade aus eigener Ernte an, die aber noch bei der "Zensur" sei. Vati meint daraufhin lächelnd, daß er nicht wisse, ob er die bekommen könne ! Als mir der russische Direktor die Fotos endlich aushändigt, ist nur ein kleiner Stapel übriggeblieben; er deutet auf einen zweiten Stapel vor sich auf dem Tisch und bemerkt rügend, es seien fremde Personen auf diesen Bildern, sie dürften daher nicht gezeigt werden. So erkläre ich anhand der wenigen das Kindergartenfest, das unter dem Motto "Zirkus" stand. Vati bewundert Friederikes Gelenkigkeit als Schlangenmensch, ihren Auftritt als Pferdchen und Bujas Maske als wilder Löwe, und möchte daneben noch einiges mehr über unseren Kindergarten wissen. Auch über die Schwimmfortschritte der Kinder in diesem herrlich warmen Sommer freut er sich, da ihm dieses Thema immer sehr am Herzen gelegen ist.

Wir kommen auch auf die Jägerei zu sprechen und darauf, daß wir Fotos von ihm gesehen haben, die ihn als stolzen Waidmann zeigen. Vati sagt, daß er sich daran nicht erinnern kann. Als ich erzähle, daß Wolf jetzt seinen Jagdschein auch machen will, meint er spöttisch: "Da muß man aber sehr viel Geduld haben". Er fragt, welches Wild wir jagen und ob wir auch Pistolenschießen geübt hätten. Nein, das nicht, aber Gewehr und Flinte ! Während dieser Unterhaltung kratzt hinter mir ein Bleistift eifrig übers Papier, alles wird notiert. Immer wieder störende Unruhe im Hintergrund verbreitet der amerikanische Direktor durch wiederholtes Aufstehen und gedämpfte Unterhaltungen mit dem russischen Direktor, eine grobe Unhöflichkeit, nachdem Vati mich bereits schon einmal gebeten hatte, lauter zu sprechen, da er mich so schlecht verstünde !

Auch wenn seine Augen unter den noch immer buschigen grauen Augenbrauen auf mich einen leicht trüben Eindruck machen, verblüfft er mich plötzlich durch die Frage, was ich für einen schönen Schmuck trage, er müßte ihn schon die ganze Zeit ansehen !

Da ich auf seinen ausdrücklichen Wunsch noch etwas von den Kindern erzählen soll, erzähle ich ihm von Katharinas wachsender Ähnlichkeit mit der Omi Hess, in ihrer ganzen Art, ihrem Aussehen und ihren Vorlieben, was ihn sichtlich erfreut und er lächelnd meint: "Wie das so kommt... !"

Am Ende dieser Besuchsstunde, als Vati mit einigen Mühen aus dem Sessel aufgestanden ist und die Fotos eingesteckt hat, fordert der amerikanische Direktor sie barsch zum Stempeln wieder heraus. Der Wärter hat Vati sehr rücksichtsvoll und vorsichtig die Decke und das Buch wieder abgenommen und geht voraus. Vati gibt mir noch Grüße für alle mit, dann geht er langsam und vornübergeneigt hinter dem Wärter her, den Weg zurück in seine Zelle.

Die Verabschiedung durch die Direktoren ist hastig und unwirsch, auf dem Hof mit den Kastanien zanken ein paar Spatzen, die amerikanischen Wachsoldaten im Torbogen stehen ihre Pflicht hier noch immer recht lässig ab.

Wie vor sieben Jahren gehe ich durch das große Tor hinaus in einen strahlenden Augusttag, nur gehe ich heute mit dem Gefühl ohnmächtiger Wut und Bitterkeit, das noch gesteigert wird durch die Gedanken an das beschämend lächerliche und ungezogene Benehmen der Direktoren gegenüber einem 89jährigen Gefangenen von der menschlichen Größe von Rudolf Hess !

Zu Hause in München erfahre ich von Wolf, daß die FAZ in ihrer heutigen Ausgabe einen ausführlichen Artikel von Dr. Fromme über die Verfassungsbeschwerde wegen Hafturlaub gebracht hat.

Das scheint eine Erklärung für die etwas ungewöhnliche Atmosphäre zu sein: wahrscheinlich war der Artikel durch die Zensur gerutscht und der amerikanische Direktor hatte sich von seinem russischen Kollegen hierüber Vorhaltungen machen lassen müssen.

[Unterschrift Andrea Hess]


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