Ragtime... (in Arbeit / under construction)
Mit dem Begriff Ragtime (wörtl.: "zerrissenes Zeitmaß", "zerrissener Takt") verbinden die meisten heute wohl jene Musik, die in Filmen wie "The Sting" (deutsch: "Der Clou") oder "Ragtime" (nach dem gleichnamigen Roman von E. L. Doctorow) zu hören war: Synkopierte Tanz- bzw. Unterhaltungsmusik der Jahrhundertwende, bisweilen auch ein wenig an Marschmusik erinnernd, zumindest was Form, Melodik und Harmonik anbelangt. Wesentliche Elemente bzw. Merkmale des Ragtime (im engeren Sinne) sind:
Eine spezielle rhythmische Qualität, die sich im abendländischen Musikempfinden bzw. in der traditionellen europäischen Notenschrift zwar als "Synkopierung" niederschlägt, ihren Ursprung allerdings zu einem wesentlichen Teil in afro-amerikanischen Traditionen des Rhythmisierens hat. Zumindest alle Rags des sog. "Classic Ragtime" wurden ursprünglich als Klaviermusik geschrieben, und als Klavierinterpretation offenbart sich diese rhythmische Qualität dem Zuhörer auch am deutlichsten: Die rechte Hand des Pianisten spielt eine synkopierte ("ragged") Melodie, während seine linke Hand einen gleichmäßig akzentuierten "Beat" durchspielt. Dieses Merkmal findet sich übrigens in vielen Stilrichtungen späterer Jazzstile wieder - dann allerdings auch in mannigfachen Modifikationen.
Eine relativ einheitliche formale Struktur, nach welcher die einzelnen "Strains" (Teile) angeordnet sind, z.B. nach dem Muster: <(Intro)AABBACCDD> oder <AABB(Interlude)CCA>
eine im wesentlichen auf Elementen europäischer Musiktradition aufbauende Melodik und Harmonik Dies trifft allerdings nicht mehr auf viele der späteren Rags (nach ca. 1912) zu. Im Laufe der 10er und frühen 20er Jahre macht sich diesbezüglich zunehmend der Einfluss des Blues bemerkbar, insbesondere im "Novelty Ragtime" und im "Stride Piano"
[Mehr dazu auf: John Roache's Ragtime MIDI Library (What is Ragtime ...?) und |
Parlor Songs - The Musical
Origins of The Piano Rag (beide englischsprachig)] |
Die bedeutendsten Komponisten des "Classic Ragtime" in seiner "reinsten" und "charakteristischsten" Form waren (um nur die wichtigsten zu nennen):
Komponist | Bedeutende Rag-Kompositionen (Auswahl) |
Scott Joplin (1868 - 1917) | Maple Leaf Rag (1899), The Entertainer (1902) |
Louis Chauvin (1881 - 1908) | Heliotrope Bouquet (1907, in Zusammenarbeit mit Joplin) |
Arthur Marshall (1881 - 1968) | Swipesy Cakewalk (1900, in Zusammenarbeit mit Joplin), Kinklets (1906) |
Scott Hayden (1882 - 1915) | Sunflower Slow Drag (1901, in Zusammenarbeit mit Joplin) |
James S. Scott (1886 - 1938) | Frog Legs rag (1906), Grace And Beauty (1909), Ragtime Oriole (1911) |
Joseph F. Lamb (1887 - 1960) | Sensation Rag (1908), Champagne Rag (1910), Ragtime Nightingale (1915) |
Hervorragende, als Piano - Interpretationen gesetzte MIDI - Sequenzen dieser und noch vieler anderer (klassischer) Ragtime - Stücke finden sich auf folgenden Websites:
...und Rag-music
Ragtimeverwandte oder -beeinflusste Musik (Cake Walks, Two Steps, Coon Songs, ...)
Heute kennt man eine doch ziemlich kategorische Einteilung verschiedener Formen und Stile, die im weiteren Sinne dem Ragtime und seinen Vor- bzw. Nebenformen zuzuordnen sind. Begriffe wie "Coon Song", "Cake Walk", "Novelty Rag" usw. können heute unter verschiedenen Gesichtspunkten (z. B. nach musikalischen oder historischen Kriterien) definiert und mehr oder weniger genau zugeordnet werden (1). |
In seiner Zeit war
"Ragtime" jedoch keineswegs eine Musik, die im Bewußtsein des
durchschnittlichen Musikkonsumenten sonderlich genauer Abgrenzungen zu ähnlichen,
wenngleich auch verwandten Produkten der damaligen Musikindustrie bedurfte. Das gilt nicht
ausschließlich, aber insbesondere für Europa, das schon bald nach der Jahrhundertwende
mit einer relativ hohen Zahl kommerzieller, ragtimebeeinflußter Schlager (sog.
"Ragtime-Songs") aus den USA Bekanntschaft machen sollte. Nicht selten wurde
diese frühe "Popmusik" dann auch noch für den heimischen Markt entsprechend
adaptiert: Was Instrumentation, Text und Interpretation anbelangt, versuchte die lokale
Musikindustrie also, die Hits aus den USA entweder dem oft nach wie vor eher
bodenständigen Geschmack ihres Publikums anzupassen. Oder aber man schneiderte die
Tin-Pan-Alley - Schlager verkaufsfördernd maßgerecht auf einen regional gerade beliebten
Interpreten zu. So kam es, dass manche dieser frühen "Cover-Versionen" (falls
man es so nennen kann) in ihrer adaptierten Form im jeweiligen Land höhere
Verkaufsziffern erreichten als in den USA selbst (ob nun in Form von Noten oder
Schallplatten ist wieder eine andere Frage). Und auch, wenn man davon ausgehen kann, dass
der Begriff "Ragtime" in Europa vor dem 1. Weltkrieg zunehmend bekannt wurde, so
war es der überwiegenden Zahl der Hörer doch sicher oft ziemlich gleichgültig, ob und
was die konsumierte Musik mit Ragtime (noch) zu tun hatte. (2). |
Über den
musiksoziologischen Hintergrund der in den USA um die Jahrhundertwende so populären, oft
recht rassistisch untertönten "Coon Songs" wurde schon viel veröffentlicht.
Wirft man indessen einen Blick auf die Rezeptionsgewohnheiten des europäischen Publikums
um 1900, so wird schnell klar, wie wenig die europäische Unterhaltungsindustrie (z. B. im
deutschsprachigen Raum) mit den damals in den USA gängigen, populären Stereotypen des
Farbigen anfangen konnte. All die Attribute, die der amerikanische Coon-Song dem farbigen
Mitbürger ironisch bis gehässig zuwies, von "Watermelon Eating" über
"Stealing Chicken" (also Unehrlichkeit) bis hin zu "Razor Fights"
(Gewalttätigkeit) entsprachen einem sehr US - kulturspezifischen gesellschaftlichen
Image, welches der amerikanische Farbige im damals zumindest ethnisch relativ homogenen
deutschsprachigen Raum nur sehr bedingt haben konnte. Die gesellschaftlichen
Voraussetzungen zu einer effektiven Vermarktung des spezifischen "Coon - Image"
durch die Unterhaltungsindustrie fehlten hier ganz einfach. Nichtsdestoweniger kann man insofern von einem europäischen Äquivalent dieser Coon-Songs sprechen, als nicht wenige der zeitgenössischen (Ragtime-) Schlager in ihren (z. B. deutschen) Texten sehr wohl versuchten, ein bestimmtes Bild des "Exoten" zu zeichnen. Diese europäischen Klischees wiesen aber ganz andere Merkmale auf als die amerikanischen. Der Rassismus deutschsprachiger Schlager, die das Thema des Farbigen zum Inhalt hatten, war weitaus subtiler, also deutlich weniger offensiv bzw. aggressiv. Vor allem aber waren die Texte nicht so spezifisch auf eine satirische Darstellung der farbigen Bevölkerungsgruppe in den USA angelegt. Allenfalls handelte es sich um eine triviale, im wesentlichen sentimental-romantische Verklärung des Afro- Amerikaners, wobei oft nicht einmal merkliche Unterschiede zwischen amerikanischem Farbigen, Afrikaner oder sonstigem "Naturvolk" gemacht wurden. Das Bild des Farbigen entsprach dann höchstens dem eines naiven, jedoch in ursprünglicher Freiheit lebenden Wilden, den der "kultivierte Europäer" mit selbstgefälligem Wohlwollen zum Inhalt seines vorgeblich harmlosen Liedchens machte. Das diffamierende Zerrbild eines "Jim Crow" oder "Zip Coon" war hier hingegen so gut wie völlig unbekannt. Als typische Bespiele für diese Schlagerkategorie können folgende Lieder angeführt werden:
|
Auch
Kompositionen, die ursprünglich als reine Instrumental - Tanznummern oder instrumentale
Unterhaltungsmusik vorgesehen waren, bedienen sich gelegentlich im Titel bzw. Untertitel
entsprechender Konnotationen, sobald es z. B. um Cake Walks oder sonstige Stücke geht,
denen man ein wirkliches oder vermeintliches afro-amerikanisches Flair verleihen wollte.
Ob es sich dabei nun um amerikanische oder außeramerikanische Original - Kompositionen
handelt, spielt dabei keine Rolle. |
Demnach wurde
damals vieles auf Tonträgern oder in Notenform publiziert, was zwar (in welcher Weise
auch immer) ragtimeverwandt oder -beeinflusst war, mit dem klassischen Ragtime eines Scott
Joplin oder Arthur Marshall im Grunde nichts (mehr) zu tun hatte (abgesehen vielleicht von
der amerikanischen Herkunft der Stücke und von einfacheren Synkopierungen, wie sie ja
auch im Classic Ragtime vorkommen). Immerhin aber genossen qualitativ anspruchsvollere
instrumentale Rags weißer New Yorker Ragtime - Komponisten wie etwa George Botsford oder
Henry Lodge auch in Europa eine gewisse Popularität. Rags wie "Black and White Rag" [MIDI]
(George Botsford, 1908) oder "Temptation
Rag" [MIDI]" (Henry Lodge, 1909) stehen dem Classic Ragtime trotz
ihrer verhältnismäßig überschaubaren kompositorischen Merkmale noch relativ nahe. Dass
solche Stücke etwa auch in Deutschland vergleichsweise bekannt und beliebt waren,
erklärt sich zumindest zum Teil einerseits aus einem schon damals recht effektiven
internationalen Vertriebssystem, das ihre Verleger entwickelt hatten. Andererseits aber
auch aus der Tatsache, dass die populären New Yorker Rags weitaus eher die musikalischen
Kriterien einer international tanzbaren U-Musik ("Rag Time Two-Step") erfüllten
als die komplex synkopierten Classic Rags der oben genannten farbigen Komponisten. |
Dieser (zugegeben
eher summarische) Überblick zeigt schon, dass man den Begriff "Ragtime", so wie
wir ihn heute landläufig verwenden, kaum auf diese vielfältigen Formen der damaligen
ragtimeverwandten Unterhaltungsmusik anwenden kann. "Echte" Rags, Cake Walks,
Two Steps, kaum synkopierte "Ragtime"-Songs, sogenannte Tropenballaden, seichte
Salon- und Charakterstücke, Potpourris "nach amerikanischen Negermelodien", ja
sogar "Indianische Intermezzi" und leicht synkopierte Märsche mit
amerikanischem Flair ... All das und noch vieles mehr findet man auf Schellack -
Schallplatten aus der Zeit etwa zwischen 1900 und 1925. Und das gilt nicht nur für die
europäische Produktion, sondern durchaus auch für die amerikanische. Für Musik, die
sich demnach entweder durch Form, Rhythmus, Text oder bloß im Titel als afro-amerikanisch
im weitesten Sinne ausweist, könnte man (Rainer Lotz folgend) also durchaus den Begriff
"Rag-music" verwenden, gleichsam als Oberbegriff für alles, was inner- und
außerhalb der USA an musikalischen Afro-Amerikanismen produziert wurde. Zumindest für
ein weiter gefaßtes Verständnis jener Musik, die man als Sammler auf alten Platten
hört, macht dieser weit gefaßte Begriff der "Rag-music" durchaus Sinn. Und
selbst wenn man einräumen muss, dass das Repertoire der damaligen Schallplattenindustrie
nicht unbedingt einen absolut zuverlässigen Indikator für den damals tatsächlich
gespielten Anteil an Rag-music oder für deren "live" gebotene Authentizität
darstellt (nicht alles wurde ja auf Schallplatten veröffentlicht): Es kann faszinierend
sein, sich den ersten akustisch dokumentierten, wenngleich auch verwässerten oder noch
blassen Vorboten des Jazz auf discophile Weise zu nähern. |
(wird in Abständen aktualisiert bzw. fortgesetzt)
(1) vgl. z. B. Ingeborg Harer: "Ragtime - Versuch einer Typologie", Verl. Hans Schneider, Tutzing 1989
(2) vgl. Rainer E. Lotz: "Foolishness Rag - Ragtime in Europa", in: "Jazzforschung" (Nr. 21), Adeva 1989