Ragtime... (in Arbeit / under construction)

Mit dem Begriff Ragtime (wörtl.: "zerrissenes Zeitmaß", "zerrissener Takt") verbinden die meisten heute wohl jene Musik, die in Filmen wie "The Sting" (deutsch: "Der Clou") oder "Ragtime" (nach dem gleichnamigen Roman von E. L. Doctorow) zu hören war: Synkopierte Tanz- bzw. Unterhaltungsmusik der Jahrhundertwende, bisweilen auch ein wenig an Marschmusik erinnernd, zumindest was Form, Melodik und Harmonik anbelangt. Wesentliche Elemente bzw. Merkmale des Ragtime (im engeren Sinne) sind:

[Mehr dazu auf: John Roache's Ragtime MIDI Library (What is Ragtime ...?) und
Parlor Songs - The Musical Origins of The Piano Rag (beide englischsprachig)]

Die bedeutendsten Komponisten des "Classic Ragtime" in seiner "reinsten" und "charakteristischsten" Form waren (um nur die wichtigsten zu nennen):

Komponist Bedeutende Rag-Kompositionen (Auswahl)
Scott Joplin (1868 - 1917) Maple Leaf Rag (1899), The Entertainer (1902)
Louis Chauvin (1881 - 1908) Heliotrope Bouquet (1907, in Zusammenarbeit mit Joplin)
Arthur Marshall (1881 - 1968) Swipesy Cakewalk (1900, in Zusammenarbeit mit Joplin), Kinklets (1906)
Scott Hayden (1882 - 1915) Sunflower Slow Drag (1901, in Zusammenarbeit mit Joplin)
James S. Scott (1886 - 1938) Frog Legs rag (1906), Grace And Beauty (1909), Ragtime Oriole (1911)  
Joseph F. Lamb (1887 - 1960) Sensation Rag (1908), Champagne Rag (1910), Ragtime Nightingale (1915)

Hervorragende, als Piano - Interpretationen gesetzte MIDI - Sequenzen dieser und noch vieler anderer (klassischer) Ragtime - Stücke finden sich auf folgenden Websites:


...und Rag-music

Ragtimeverwandte oder -beeinflusste Musik (Cake Walks, Two Steps, Coon Songs, ...)

Heute kennt man eine doch ziemlich kategorische Einteilung verschiedener Formen und Stile, die im weiteren Sinne dem Ragtime und seinen Vor- bzw. Nebenformen zuzuordnen sind. Begriffe wie "Coon Song", "Cake Walk", "Novelty Rag" usw. können heute unter verschiedenen Gesichtspunkten (z. B. nach musikalischen oder historischen Kriterien) definiert und mehr oder weniger genau zugeordnet werden (1).


In seiner Zeit war "Ragtime" jedoch keineswegs eine Musik, die im Bewußtsein des durchschnittlichen Musikkonsumenten sonderlich genauer Abgrenzungen zu ähnlichen, wenngleich auch verwandten Produkten der damaligen Musikindustrie bedurfte. Das gilt nicht ausschließlich, aber insbesondere für Europa, das schon bald nach der Jahrhundertwende mit einer relativ hohen Zahl kommerzieller, ragtimebeeinflußter Schlager (sog. "Ragtime-Songs") aus den USA Bekanntschaft machen sollte. Nicht selten wurde diese frühe "Popmusik" dann auch noch für den heimischen Markt entsprechend adaptiert: Was Instrumentation, Text und Interpretation anbelangt, versuchte die lokale Musikindustrie also, die Hits aus den USA entweder dem oft nach wie vor eher bodenständigen Geschmack ihres Publikums anzupassen. Oder aber man schneiderte die Tin-Pan-Alley - Schlager verkaufsfördernd maßgerecht auf einen regional gerade beliebten Interpreten zu. So kam es, dass manche dieser frühen "Cover-Versionen" (falls man es so nennen kann) in ihrer adaptierten Form im jeweiligen Land höhere Verkaufsziffern erreichten als in den USA selbst (ob nun in Form von Noten oder Schallplatten ist wieder eine andere Frage). Und auch, wenn man davon ausgehen kann, dass der Begriff "Ragtime" in Europa vor dem 1. Weltkrieg zunehmend bekannt wurde, so war es der überwiegenden Zahl der Hörer doch sicher oft ziemlich gleichgültig, ob und was die konsumierte Musik mit Ragtime (noch) zu tun hatte.  (2).
Über den musiksoziologischen Hintergrund der in den USA um die Jahrhundertwende so populären, oft recht rassistisch untertönten "Coon Songs" wurde schon viel veröffentlicht. Wirft man indessen einen Blick auf die Rezeptionsgewohnheiten des europäischen Publikums um 1900, so wird schnell klar, wie wenig die europäische Unterhaltungsindustrie (z. B. im deutschsprachigen Raum) mit den damals in den USA gängigen, populären Stereotypen des Farbigen anfangen konnte. All die Attribute, die der amerikanische Coon-Song dem farbigen Mitbürger ironisch bis gehässig zuwies, von "Watermelon Eating" über "Stealing Chicken" (also Unehrlichkeit) bis hin zu "Razor Fights" (Gewalttätigkeit) entsprachen einem sehr US - kulturspezifischen  gesellschaftlichen Image, welches der amerikanische Farbige im damals zumindest ethnisch relativ homogenen deutschsprachigen Raum nur sehr bedingt haben konnte. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu einer effektiven Vermarktung des spezifischen "Coon - Image" durch die Unterhaltungsindustrie fehlten hier ganz einfach.

Nichtsdestoweniger kann man insofern von einem europäischen Äquivalent dieser Coon-Songs sprechen, als nicht wenige der zeitgenössischen (Ragtime-) Schlager in ihren (z. B. deutschen) Texten sehr wohl versuchten, ein bestimmtes Bild des "Exoten" zu zeichnen.  Diese europäischen Klischees wiesen aber ganz andere Merkmale auf als die amerikanischen. Der Rassismus deutschsprachiger Schlager, die das Thema des Farbigen zum Inhalt hatten, war weitaus subtiler, also deutlich weniger offensiv bzw. aggressiv. Vor allem aber waren die Texte nicht so spezifisch auf eine satirische Darstellung der farbigen Bevölkerungsgruppe in den USA angelegt. Allenfalls handelte es sich um eine triviale, im wesentlichen sentimental-romantische Verklärung des Afro- Amerikaners, wobei oft nicht einmal merkliche Unterschiede zwischen amerikanischem Farbigen, Afrikaner oder sonstigem "Naturvolk" gemacht wurden. Das Bild des Farbigen entsprach dann höchstens dem eines naiven, jedoch in ursprünglicher Freiheit lebenden Wilden, den der "kultivierte Europäer" mit selbstgefälligem Wohlwollen zum Inhalt seines vorgeblich harmlosen Liedchens machte. Das diffamierende Zerrbild eines "Jim Crow" oder "Zip Coon" war hier hingegen so gut wie völlig unbekannt. Als typische Bespiele für diese Schlagerkategorie können folgende Lieder angeführt werden:

Molly, mein kleiner Nigger, 1903
Das Lied vom Negerlein, ca. 1906
Der arme kleine Niggerboy, ca. 1908
Zamona, "Tropen - Idyll", 1912
Malongo vom Kongo, 1913
Das kleine Niggergirl, 1913
Auch Kompositionen, die ursprünglich als reine Instrumental - Tanznummern oder instrumentale Unterhaltungsmusik vorgesehen waren, bedienen sich gelegentlich im Titel bzw. Untertitel entsprechender Konnotationen, sobald es z. B. um Cake Walks oder sonstige Stücke geht, denen man ein wirkliches oder vermeintliches afro-amerikanisches Flair verleihen wollte. Ob es sich dabei nun um amerikanische oder außeramerikanische Original - Kompositionen handelt, spielt dabei keine Rolle.
Demnach wurde damals vieles auf Tonträgern oder in Notenform publiziert, was zwar (in welcher Weise auch immer) ragtimeverwandt oder -beeinflusst war, mit dem klassischen Ragtime eines Scott Joplin oder Arthur Marshall im Grunde nichts (mehr) zu tun hatte (abgesehen vielleicht von der amerikanischen Herkunft der Stücke und von einfacheren Synkopierungen, wie sie ja auch im Classic Ragtime vorkommen). Immerhin aber genossen qualitativ anspruchsvollere instrumentale Rags weißer New Yorker Ragtime - Komponisten wie etwa George Botsford oder Henry Lodge auch in Europa eine gewisse Popularität. Rags wie "Black and White Rag" [MIDI] (George Botsford, 1908) oder "Temptation Rag" [MIDI]" (Henry Lodge, 1909) stehen dem Classic Ragtime trotz ihrer verhältnismäßig überschaubaren kompositorischen Merkmale noch relativ nahe. Dass solche Stücke etwa auch in Deutschland vergleichsweise bekannt und beliebt waren, erklärt sich zumindest zum Teil einerseits aus einem schon damals recht effektiven internationalen Vertriebssystem, das ihre Verleger entwickelt hatten. Andererseits aber auch aus der Tatsache, dass die populären New Yorker Rags weitaus eher die musikalischen Kriterien einer international tanzbaren U-Musik ("Rag Time Two-Step") erfüllten als die komplex synkopierten Classic Rags der oben genannten farbigen Komponisten.
Dieser (zugegeben eher summarische) Überblick zeigt schon, dass man den Begriff "Ragtime", so wie wir ihn heute landläufig verwenden, kaum auf diese vielfältigen Formen der damaligen ragtimeverwandten Unterhaltungsmusik anwenden kann. "Echte" Rags, Cake Walks, Two Steps, kaum synkopierte "Ragtime"-Songs, sogenannte Tropenballaden, seichte Salon- und Charakterstücke, Potpourris "nach amerikanischen Negermelodien", ja sogar "Indianische Intermezzi" und leicht synkopierte Märsche mit amerikanischem Flair ... All das und noch vieles mehr findet man auf Schellack - Schallplatten aus der Zeit etwa zwischen 1900 und 1925. Und das gilt nicht nur für die europäische Produktion, sondern durchaus auch für die amerikanische. Für Musik, die sich demnach entweder durch Form, Rhythmus, Text oder bloß im Titel als afro-amerikanisch im weitesten Sinne ausweist, könnte man (Rainer Lotz folgend) also durchaus den Begriff "Rag-music" verwenden, gleichsam als Oberbegriff für alles, was inner- und außerhalb der USA an musikalischen Afro-Amerikanismen produziert wurde. Zumindest für ein weiter gefaßtes Verständnis jener Musik, die man als Sammler auf alten Platten hört, macht dieser weit gefaßte Begriff der "Rag-music" durchaus Sinn. Und selbst wenn man einräumen muss, dass das Repertoire der damaligen Schallplattenindustrie nicht unbedingt einen absolut zuverlässigen Indikator für den damals tatsächlich gespielten Anteil an Rag-music oder für deren "live" gebotene Authentizität darstellt (nicht alles wurde ja auf Schallplatten veröffentlicht): Es kann faszinierend sein, sich den ersten akustisch dokumentierten, wenngleich auch verwässerten oder noch blassen Vorboten des Jazz auf discophile Weise zu nähern.

 

(wird in Abständen aktualisiert bzw. fortgesetzt)


(1) vgl. z. B. Ingeborg Harer: "Ragtime - Versuch einer Typologie", Verl. Hans Schneider, Tutzing 1989

(2) vgl. Rainer E. Lotz: "Foolishness Rag - Ragtime in Europa", in: "Jazzforschung" (Nr. 21), Adeva 1989


 

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