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GLAUBE


von Christel Scheja



Verärgert warf der dunkel gekleidete Mann die Tür seines Wagens zu und starrte einen Moment auf das kleine Fachwerkhaus hinter den Bäumen, ehe er den Schlüssel hervorzog und die Zentralverriegelung einrasten ließ.

"Guten Morgen, Herr Pfarrer! Schon zurück?"

"Guten Morgen Frau Bernholz! Wie ist heute ihr Befinden?"

"Ach, lieber Gott, mir geht es heute ganz gut. Die Knie' schmerzen wenigstens nicht. Die Sonne scheint, und ich werde den Nachmittag wohl mit einer schönen Zeitschrift auf dem Balkon verbringen."

Der Mann lächelte und deutete auf die Tüte, die die kleine, runzlige Frau mit sich schleppte. Er kannte sie gut, denn Frau Bernholz war eine der eifrigsten Kirchgängerinnen. Wenn sie einmal fehlte, dann war sie wirklich krank. "Warten sie, ich trage ihnen die Tüten bis zur Wohnungstür."

"Das ist aber sehr freundlich, Herr Pfarrer!" strahlte die alte Frau und überreichte ihm die Tüten, ehe sie ihren Mantel glatt zupfte. Sie wohnte nicht weit entfernt in dem großen, sechsstöckigen Mietshaus.

Sie trippelte neben dem Geistlichen her und erzählte von ihren Sorgen und Nöten, aber auch von ihren Mitbewohnern. Es war der übliche Klatsch: von frechen Kindern, unfreundlichen jungen Ehepaaren, die "keinen Anstand mehr besaßen", und dem Streit der Familien unter und neben der alten Frau.

Als sie mit dem klapprigen Fahrstuhl in die oberste Etage des Mietshauses fuhren, beendete die Frau ihren Redeschwall mit den Worten: "Ach ja, und die kleine Corinna Meier von nebenan ist ein seltsames Mädchen geworden. Sie war einmal ein so liebes und ordentliches Kind, aber jetzt läd sie oft andere Mädchen - und Jungen ein, und dann lärmen sie und rufen etwas von Drachen, Schwertern und anderem ... Zeug!"

Sie verließen den Fahrstuhl. Frau Bernholz kramte ihren Schlüssel hervor und öffnete die Wohnungstüre. Drinnen roch es nach Gewürzen. "Oh", sagte sie dann. "Jetzt muß ich sie für die Mühe aber noch zu einem Kaffee und Plätzchen einladen. Ich habe sie selber gebacken."

Ralf Godertz dachte an die unerledigte Arbeit, die noch im Pfarrhaus auf ihn wartete und lehnte freundlich aber bestimmt ab. Er war erleichtert, als die Frau die Flurtür hinter ihm schloß und blieb einen Moment auf der Treppe stehen. Sein Blick fiel auf ein anderes Türschild, und er seufzte.



Corinna Meier. Gerade dieses junge Mädchen hatte ihn heute mit ihren provozierenden Bemerkungen geärgert, als er in der Religionsstunde über das Thema "phantastische Literatur und ihre Gefahren" gesprochen hatte. Nicht, daß er alle Bücher dieses Genres verdammte, aber Corinna hatte ihre Lieblingslektüre vehement verteidigt, und ihn zum Nachdenken gebracht.

So schreckte er zusammen, als er gegen eine Gestalt prallte und sich am Treppengeländer festhalten mußte. "Oh, Corinna!" murmelte er verlegen, während sich das blonde Mädchen schon bückte, um ein Buch aufzuheben, daß ihr heruntergefallen war. Ralf Godertz konnte den Titel lesen: "Die Weiße Göttin - Mythos und Wahrheit". Erstaunt blickte er die Schülerin an. "Glaubst du etwa daran?"

"Das ist ein wissenschaftlich fundiertes Sachbuch aus der Stadtbibliothek", ging Corinna gleich in Abwehr. "Ich finde dieses Thema einfach interessant, und ich will mich darüber informieren!" Trotzig streckte sie ihm das Kinn entgegen.

"Nun...", räusperte sich der Pfarrer. "Wir können unsere Diskussion ja am Donnerstag im Unterricht fortsetzen", sagte er hastig. Er dachte an Frau Bernholz, die bestimmt an ihrer Wohnungstür lauschte, und ehe die alte Dame noch über ihn zu tuscheln begann, ergriff er lieber die Flucht. "Einen schönen Tag noch, Corinna!"

"Auf Wiedersehen, Herr Godertz!"



Auf dem Heimweg grübelte Ralf Godertz nachdenklich vor sich hin. Er erinnerte sich an das, was er über Corinna wußte: Sie war ein Einzelkind, und die Eltern arbeiteten beide, um die Miete zu bezahlen und einen bescheidenen Lebensstandard beizubehalten. Das Mädchen hatte mehr Freiheiten, war aber auch selbständiger als viele andere Teenager ihres Alters. Aber sie hatte sich offensichtlich dazu verleiten lassen, sich mit Esoterik, Okkultismus und anderen, bedenklichen Dingen zu beschäftigen. Wohin das führen konnte untermauerten viele, ihm vorliegende Berichte. Und sie schien andere noch dazu anzustiften, sich ebenfalls mit diesen Themen zu beschäftigen. Der Deutschlehrer der 10B hatte ihm erzählt, das mindestens fünf weitere Schüler der Klasse die bunten Schundromane mit dem Label "Fantasy" lasen, oder sich

in der Pause gewalttätige Geschichten erzählten.

Das machte ihm Sorgen. Wenn das so weiterging, konnte Corinna sich dazu verleiten lassen, okkulte Riten auszuführen und sich dem Satanismus zuwenden. Im Nachbarort hatten bereits drei, als vernünftig geltende, Gymnasiasten einen Mitschüler in einem satanischen Ritus getötet. Ralf Godertz wollte diesen teuflischen Keim so schnell es ging, ersticken, aber wie?



Inzwischen hatte er das Pfarrhaus erreicht. Ralf Godertz schloß die Tür auf und trat in die Kühle des Flurs. Ein seltsamer Geruch zog durch den Raum, den er nicht einzuordnen wußte. Hatte...

Der Priester schüttelte den Kopf. Er hatte das Gefühl, in einem Wald, fernab jeder Fabrik zu stehen. Und je näher er seinem Arbeitszimmer kam, desto intensiver wurde der Duft. Zögernd öffnete er die Tür und erstarrte: An seinem Schreibtisch saß eine Frau und blätterte in der Bibel, die immer dort lag. Sie trug ein blaues Kleid. Ihre roten Haare besaßen einen metallisch schimmernden, kupfernen Ton und waren mit altertümlichen Metallkämmen auf Kopf festgesteckt.

Ralf Godertz schluckte. Wut stieg in ihm hoch. Da erlaubte sich doch jemand einen Scherz mit ihm. Wenn Corinna dahinter steckte...

"Mir reicht es jetzt! Solche Scherze könnt ihr euch nur einmal erlauben. Jetzt verschwinde, dann werde ich von einem Anruf bei euren Eltern absehen!"

Die Frau blickte auf, und der Priester starrte auf ihr Gesicht. Das Zeichen, ein blauer Halbmond, auf ihrer Stirn war eintätowiert. Es schien zu leuchten. "Ich verstehe nicht", sagte sie schwerfällig und mit einem seltsamen Akzent. "Aber ich spüre deinen Zorn."

"Wer... wer sind sie?"

"Mein Name ist Myrcaellan ni Vivienne. Ich diene meiner Herrin mit der gleichen Liebe, wie du deinem Gott." Ihre grauen Augen sahen Ralf dabei sanft an. Erst jetzt begann der Priester zu begreifen. "Das muß gerade mir passieren", rief er mit einem leicht hysterischen Unterton, während seine Gedanken durcheinander wirbelten. "Ich versuche den Kindern beizubringen, das das, an was sie glauben Unsinn und Lügen sind, aber ... haben meine Schüler sie angeheuert, Frau Myrcaellan? Steckt eine gewisse Corinna Meier dahinter?"

Die rothaarige Frau schüttelte den Kopf. "Ich kann dir nicht erklären, wie, und warum ich zu dir kam, und ich darf auch nicht darüber sprechen. Du selber hast mich mit deinen Fragen gerufen." Sie verstummte einen Moment und fügte dann hinzu: "Du bist ein Christenpriester, und ich weiß aus eigener Erfahrung, daß die Christen nur das glauben, an das sie glauben wollen."

"Der Glaube ist einer der Grundpfeiler der Kirche. Nur durch ihn haben die Menschen Hoffnung. Und es ist wichtig, diesen zu erhalten. Gefährliche Tendenzen zu okkultem Gedankengut und heidnischen Religionen verwirren die Menschen nur und machen sie krank. In unserer heutigen Zeit gibt es viele Beispiele dafür. Ich versuche den Menschen, die mir anvertraut sind, einen festen und erprobten Glauben zu vermitteln."

"Es liebt mir fern, deine Gedanken zu verspotten. Ich achte sie, denn du bist auch für die andere Seite, für die ich jetzt sprechen möchte, offen. Nicht um dich zu überzeugen, sondern um dir einen Einblick zu geben. Ein wichtiger Punkt unseres Glaubens ist schließlich, daß wir unsere unsterbliche Seele nicht verlieren, solange wir unser Leben nicht sinnlos vergeuden. Die Mutter gab es uns mit der Aufgabe das Beste daraus zu machen."

"Das mag stimmen, aber wie sieht es in Ihrem Glauben mit dem Leben nach dem Tode aus? Gott der Herr verheißt mehr als ein irdisches Leben..." Der Priester verstummte abrupt und gab zu: "Ich habe mich kaum mit heidnischen Religionen beschäftigt."

Die Priesterin lächelte verstehend. "Auch in meiner Zeit war das so, aber es ist keine Schande. Ihr Christenpriester denkt nur an euch und wollt die andere Seite gar nicht kennen lernen. Wir sind offener. Für uns sind alle Götter ein Gott. Wir verehren nur verschiedene Aspekte der selben Wesenheit, und unsere Ideale sind Liebe und Einssein mit der Natur."

"Das sind zum Teil auch unsere Lehren ...."

"Und doch betrachtest du jene mit Mißtrauen, die sich anders verhalten. Aber das liegt an deiner Zeit. Die Menschen haben viel von der Verbundenheit mit der Natur verloren. Ich sah die Bäume und Tiere sterben. Staub vergiftet die Kinder und läßt sie krank werden, viele Frauen verstehen ihren Zyklus nicht mehr. Die Menschen erkennen nicht mehr, welches Wunder die Natur ist. Sie sehen nur den Nutzen, den sie daraus ziehen können." Sie verstummte. Dann schüttelte die Frau den Kopf. "Nein, ich kann das nicht verallgemeinern. Auch in meiner Zeit dachten eine Menge Menschen so, in der deinen gibt es aber auch welche, die sich von dem Fortschrittsdenken der letzten Jahrhunderte abgewandt haben. Ihr nennt sie "grüne Spinner" oder auch New-Age-Fanatiker."

"Einen Moment", wandte Ralf Godertz ein. "Gerade in der New-Age Bewegung werden viele Menschen von Scharlatanen ausgenutzt, die aus der Suche dieser Leute nach Harmonie Geld schlagen wollen. Ob sie nun Bücher herausbringen, oder aber die Männer und Frauen selber unterweisen. Diese ganze Sensibilisierung hat zu gefährlichen Auswüchsen geführt. Und ich habe ein Mädchen in meiner Klasse, daß mir in dieser Hinsicht Sorge macht. Der christliche Glaube ist immerhin seit zweitausend Jahren erprobt."

"Wirklich?" Die Frau senkte den Blick. "Auf meiner Reise habe ich auch die Zukunft gesehen", murmelte sie traurig. "Um dich besser zu verstehen, aber was ich sah, machte mich traurig. Die Männer, die sich zu meiner Zeit Christenpriester nannten, waren so menschlich wie alle anderen.

Dein Gott hat irgendwann als Mittel der Machtgewinnung über andere Menschen gedient, die in Furcht und Schrecken vor seinen Strafen leben. Ich habe schon in meiner Zeit Christen als verbitterte und fanatische Personen kennen gelernt, keine andere Religion neben der ihren gelten ließen und je mehr die Jahre verstrichen, um so schlimmer wurde es. Jeder, der von der festgelegten Richtung abwich, wurde verfolgt und später mit glühenden Eisen und flammendem Feuer gequält. Oder, was noch schlimmer war, mit Worten, die Schuldgefühle weckten und die Seele der Menschen in eiserne Fesseln banden. die Geschichte der Kirche ist eine von Machtmißbrauch, Schmerz, Qual, Bitternis und Tod.

Die Wurzeln des Christentums waren wohlmeinend und gut, aber was die Menschen daraus machten ist genauso falsch, wie das, was du anprangertest. Ich weiß, daß ist auch das, was dir solche wie Corinna vorwerfen würden - aber ist nicht wenigstens ein Teil davon wahr?"

Der Pfarrer schwieg und dachte an sein Studium und die Zeit als Referendar. Vieles hatte er verdrängt, sich nicht damit beschäftigen wollen. Es gab Dinge, die ihn nachdenklich gemacht hatten, aber: "Die Kirche ist nicht die Religion. Der christliche Glaube verkörpert Liebe und Güte."

Die Frau nickte. "Aber deine Kirche vertritt und formt diese Gedanken nach ihren Gutdünken. Liebe ist zum Beispiel auch eine unserer Stützen des Glaubens. Warum verspüren die Christen dann bei einer zärtlichen Berührung Scham? Warum verleugnen sie die natürliche Liebe, auch die, die sich durch den Körper ausdrückt? Euer Jesus hat, soweit ich weiß, nie dagegen gesprochen. Warum haben ihm dann einige eurer Lehrer diese anderen Worte in den Mund gelegt? Ich bedaure die Menschen, die in dieses starre Gerüst aus Regeln und Dogmen gebunden sind und mit leerem Herzen in deinem Tempel sitzen. Nur wenige kommen zu dir, weil sie sich offen zu den wirklichen Worten deines Glaubens bekennen, und auch danach leben; aber manche werden von den anderen verspottet und argwöhnisch beäugt, weil sie sich anders benehmen ... ist es nicht so?"

Sie erhob sich und kam auf Ralf Godertz zu. Der Priester wich einen Schritt zurück, dann nickte er. "In gewisser Weise schon", sagte er nachdenklich und erinnerte sich an Herrn und Frau Budde aus seiner Nachbarschaft, die zwar nie in die Kirche gegangen waren, weil sie von der Kirchengemeinde ausgestoßen gewesen waren, die er als Aspirant aber immer ob ihrer Anteilnahme bewundert hatte. Die Kirchgänger hatte über das schamlose Ehepaar, daß acht Jahre in wilder Ehe zusammengelebt und darin bereits zwei Kinder hatten, getuschelt, hatten über die Frau, die als gefallenes Mädchen galt gespottet - aber alle hatten ihre Hilfsbereitschaft und Toleranz übersehen. Ihr Engagement in sozialen Belangen und ihre ehrenamtliche Mitarbeit in entsprechenden Einrichtungen.



Er nickte, und in diesem Augenblick verblaßte die Priesterin vor seinen Augen. Ralf Godde blinzelte und atmete tief durch. Er mußte sich erst einmal setzen, um herauszufinden, was geschehen war. War er einer Halluzination erlegen, einem Trugbild, oder ...

Er blätterte in der Bibel und zuckte zusammen, als er in dieser ein brüchiges Stück Pergament fand. In lateinischer Schrift und Sprache hatte dort jemand etwas geschrieben - und der Priester wußte nun, daß er dies alles erlebt hatte.

"Der Gott der Christen und die Große Mutter sind wie andere Gottheiten nur Ausprägungen der Gedanken und des Willens der Menschen, die an sie glauben und in die sie ihre guten oder schlechten Eigenschaften projizieren. Deshalb sind wir einander ähnlicher, als wir denken, und das ist die Anregungen, weswegen ich zu dir kam. Wahrer Glaube - ob nun an IHN oder SIE ist eher das Verhalten anderen Gegenüber, auch der Natur. Je mehr wir sie zerstören, desto mehr stirbt auch unsere Seele. Das sind die wahren Sünden, denen wir uns schuldig machen - wenn wir vergessen, daß wir nur ein Teil des Ganzen sind, und jede Tat, jedes Worte eine Antwort findet. Kannst du mir zustimmen?"

Ralf Godertz nickte unwillkürlich und stützte das Kinn auf die Hand. Er seufzte leise, aber er lächelte. "Ich glaube, ich habe ein neues Thema für die Schüler", murmelte er zu sich selber.

Und dann verspürte er wieder den würzigen Duft eines Waldes, den es schon lange nicht mehr gab.


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