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DAS KARTENSPIEL

Teil 12 - Der Mond

von Marion Stamatu-Wilting



"Wie?" fragte Paul nicht sonderlich intelligent und gaffte die junge Frau an. Sie hatte bronzefarbene Locken und graue Augen, die sehr groß wirkten in dem schmalen, kantigen Gesicht.

Verwirrt blickte er auf seine Hände hinab, starrte die Karte "Gerechtigkeit" an und sah wieder auf. "Wo zum Teufel bin ich jetzt schon wieder?" fragte er verstört. Er stand auf knarrenden Holzdielen in einem Raum, der sich offenbar direkt unter dem Dach eines Hauses befand, denn eine Wand war schräg.

Die junge Frau erhob sich von ihrem Platz hinter einem wuchtigen dunklen Schreibtisch, der übersät war mit Büchern und Papieren, und kam auf ihn zu.

"In meiner Wohnung," sagte sie trocken, "in meinem Wohnzimmer, um genau zu sein. Was hatten Sie denn erwartet, wenn ich fragen darf?"

Paul überlief es abwechselnd heiß und kalt. "Ja - nun ja. Ich... ich weiß nicht genau... ich habe eigentlich keine Ahnung, wie ich hierher komme," stotterte er panisch. Er mußte hier weg - er war einfach im Wohnzimmer einer fremden Frau in seiner eigenen Welt aufgetaucht, und ihm fiel absolut keine einleuchtende Erklärung dafür ein. Wie sollte er einem Menschen seiner Welt erklären, daß er ein erfolgloser Weltenwanderer war, der zwischen verschiedenen Realitäten umherirrte? Ganz zu schweigen davon, daß es überhaupt zwei Realitäten gab?

Sein Blick irrte hektisch durch das Zimmer, streifte auf der Suche nach der Tür ein altertümliches weinrotes Samtsofa, einen antiken Schachtisch und eine große Harfe.

"Beruhigen Sie sich," sagte die Frau, als spräche sie mit einem Kind, "es ist alles in Ordnung. Kommen Sie, setzen Sie sich - Sie sehen aus, als würden Sie jeden Moment in Ohnmacht fallen."

Sie faßte seinen Arm und schob ihn energisch zu dem großen Sofa.

"Aber...aber... ich..."

"Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich," wiederholte die Frau freundlich, aber bestimmt. "Sie waren auf dem Weg nach Eiris, nicht wahr?"

Paul riß die Augen auf. "Sie... Sie kennen..? Ich meine, Sie wissen..? Woher wissen Sie..?" stammelte er.

"Gleich. Warten Sie. Ich hole Ihnen etwas zu trinken. Seien Sie ganz ruhig." Ihre weiche Altstimme hatte etwas seltsam Zwingendes, und Paul begann tatsächlich, sich zu entspannen.

"Hier." Sie drückte ihm einen Becher mit heißem Tee in die Hand, den sie aus einer Thermoskanne auf ihrem Schreibtisch eingegossen hatte. "Trinken Sie, dann fühlen Sie sich besser. Ich bin Maya von Franken." Sie setzte sich neben ihn und sah ihn aufmerksam an. "Ich bin eine Mittlerin zwischen den Welten," erklärte sie so selbstverständlich, als sei das der alltäglichste Job der Welt. "Besser?"

Paul nickte.

"Gut," sagte Maya von Franken, "dann verraten Sie mir, wer Sie sind und was Sie angestellt haben, daß Sie bei mir gelandet sind."

"Ich bin Paul Dorléans, das immerhin weiß ich. Wieso ich bei Ihnen gelandet bin, kann ich allerdings nicht sagen." Er hob die Schultern, und die junge Frau krauste die Stirn. "Ich kenne Ihren Namen. Sind Sie der Schriftsteller Dorléans? Ich mag Ihre Märchen."

Paul lächelte schwach. "Das freut mich." Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. "Großer Gott, ich bin völlig durcheinander," gestand er. "Sind Sie wirklich hier? Ist diese Wohnung wirklich real? Sind wir in Deutschland? In unserer normalen Welt?"

"Wir sind in Deutschland, und ich bin ebenso real wie meine Wohnung," bestätigte sie und fügte lachend hinzu: "Inwieweit diese Welt allerdings normal ist, wage ich nicht zu beurteilen."

"Nein," murmelte er, "ich auch nicht. Ich glaube, ich brauche einen Psychiater."

"Dann sind Sie hier richtig," verkündete Maya von Franken fröhlich, "ich bin Psychiater."

Paul riß die Augen auf, aber die Frau grinste nur. "Keine Panik. Glauben Sie mir, niemand eignet sich besser zum Psychiater als jemand, der weiß, daß es verschiedene Realitäten gibt und der sie auch unterscheiden kann."

"Bitte keine Metaphysik mehr," bat Paul gequält. "Ich weiß schon nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich habe blauhäutige, vierarmige und geflügelte Wesen gesehen, eine Art Göttin namens Nitor, einen Phönix, einen Wüstenelfen, einen Dschinn, einen leicht verrückten Zauberer aus dem ewigen Eis, einen - eine Art Gott, der aussah wie ein Mönch, einen Haufen normale Elfen und einen Zwerg. Sehen Sie, ich fange schon an, gewöhnliche Elfen als "normal" zu bezeichnen. Sagen Sie mir, daß ich unter fortgeschrittenen Wahnvorstellungen leide!"

"Das tun Sie nicht, und das wissen Sie auch," sagte Maya streng. "Reißen Sie sich zusammen, und erklären Sie mir lieber, wie Sie überhaupt nach Eiris gekommen sind."

Paul seufzte. "Mit einem Kartenspiel." Und er erzählte, was geschehen war, seit er das geheimnisvolle Kästchen geöffnet hatte.

Als er geendet hatte, nickte die junge Frau versonnen. "Ich bin die Mittlerin, von der Urek sprach. Ich habe von den Tor-Artefakten gehört, aber ich bin noch nie einem Weltenwanderer begegnet."

"Einem gescheiterten," verbesserte Paul niedergeschlagen.

"Hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden," schimpfte Maya. "Daß es nicht funktioniert, liegt an Ihnen, aber es liegt auch an Ihnen, das zu ändern. Und hören Sie endlich mit Ihrem Gejammer über Metaphysik auf! Sie brauchen keine Metaphysik. Ich hätte wirklich gedacht, daß ein Märchenschreiber etwas mehr Verstand besitzt. Sie klingen wie ein gefolterter Intellektueller!"

Paul kicherte über diesen wenig schmeichelhaften Vergleich.

"Danke für die Blumen. Sind Sie wirklich Psychiater? Dann haben Sie jedenfalls ein Talent, Depressive zum Lachen zu bringen." Er wurde wieder ernst. "Können Sie mir erklären, warum ich bei Ihnen gelandet bin? Und was hat diese Karte zu bedeuten? Wieso lande ich überhaupt manchmal irgendwo und habe dann eine Karte in der Hand, die ich gar nicht ausgesucht habe?"

"Sie haben sich die Karte ausgesucht," erklärte Maya geduldig. "Verstehen Sie das denn nicht? Von dem Moment an, als Sie zum ersten Mal mit Hilfe einer der Karten nach Eiris gelangten, wurden Sie ein Teil beider Welten. Ein Teil unserer Welt und ein Teil der magischen Welt. Die Karten sind ein Hilfsmittel, ein Ausdruck Ihrer Gedanken, aber Ihre Gedanken funktionieren auch ohne die Karten, seit Sie ein Teil der Magie sind. Sie versuchen noch immer, zu unterscheiden. Hier die Karten, da die Gedanken, hier die eine Welt, da die andere. Aber beides ist eins für Sie. Sie müssen eins werden mit Ihren Gedanken, auch mit denen, die sie nicht bewußt denken."

"Und diese Karte hier? Was bedeutet sie? Was habe ich mir da gedacht? Weshalb hat sie mich zu Ihnen geführt?"

"Weil Sie Hilfe suchten. Sie brauchten jemanden, der ebenfalls Teil beider Welten ist. Wie sollte jemand, der nur in einer Welt lebt, Ihnen dabei helfen, beide Teile zu vereinigen? In Pyrrhion, bei Aboku, waren Sie dicht dran, aber..." Maya lachte. "Mit Ihrer Metaphysik haben Sie einfach viel zu viel gedacht und zu wenig gefühlt." Sie folgte seinem ratlosen Blick auf die Tarotkarte und fügte mit sanftem Spott hinzu: "Und sagen Sie bloß nicht, Sie wüßten nicht, was diese Karte bedeutet!"

Paul lehnte sich zurück, schloß die Augen - und fuhr erschrocken hoch, als etwas Schweres, Weiches fauchend in seinem Schoß landete.

"Rufus," schalt die junge Frau, "du sollst ihn nicht erschrecken!"

Der rostbraune Kater, der mit gesträubtem Fell und peitschendem Schwanz auf Pauls Knien balancierte, miaute in einem Ton, der beinahe wie menschliches Schimpfen klang. Es durchlief Paul heiß und kalt, während er gleichzeitig zusammenzuckte, als sich die Krallen des haltsuchenden Tieres in seine Knie gruben.

Maya herrschte den Kater in einer Sprache an, die Paul nicht verstand, und der Kater antwortete mit einem erneuten nachdrücklichen, ärgerlichen Miauen.

Gerade als Paul um eine Erklärung bitten wollte, wandte der Kater ihm sein undurchdringliches Katzengesicht zu und fauchte mit zitternden Schnurrhaaren.

Und Paul verstand das Fauchen!

"Gut," sagte der Kater, ließ sich nieder und begann, hingebungsvoll sein Fell zu putzen.

"Bist du auch ein Mittler zwischen den Welten, oder ist das nur eine Marotte von dir?" fragte Paul schwach.

"Sei nicht albern." Das Miauen klang wie ein Grollen. "Ich bin ein Magier."

"Ein verwandelter Magier," korrigierte Maya finster. "Und ich begreife täglich mehr, warum. Er ist ein Magier aus Eiris, aus Ruberon, nehme ich an," sie deutete auf sein rostrotes Fell, "und er ist zu leichtfertig mit den Gesetzen der Hohen Magie umgegangen. Deswegen haben sie ihn in einen Kater verwandelt und in diese Welt verbannt. Er spricht nicht viel über seine Vergangenheit."

"Verstehe," sagte Paul, obwohl er nur die Hälfte begriff.

"Jedenfalls macht er hier einen guten Job," fuhr Maya fröhlich fort, "auch wenn seine Manieren etwas ruppig sind."

"Und was ist sein Job?"

"Oh, er hilft mir bei meinen Aufgaben. Sie gehören auch zu meinen Aufgaben, wissen Sie."

"Aha?"

"Ja, natürlich. Ich bin eine Mittlerin, richtig? Was tut eine Mittlerin?"

"Sie - vermittelt. Oh. Ich verstehe." Diesmal war es ehrlich gemeint. "Sie helfen anderen, die plötzlich orientierungslos zwischen den Welten stehen, die Orientierung wiederzufinden."

"Genau." Sie sah ihm gerade in die Augen, und Rufus fing unvermittelt an behaglich zu schnurren, als habe er Paul aufrütteln wollen und sei nun zufrieden, seine Arbeit erledigt zu haben.

Automatisch streichelte Paul den Kater, während er wie hypnotisiert in die klugen grauen Augen blickte.

"Der Zugang zur jenseitigen Welt ist Ihnen in einer Form gewährt worden, die Sie kennen, die Sie auch verstehen können. Was ist ein Tarotspiel? Was zeigen Ihnen die Karten des Großen Arkanum?"

"Die Reise des Narren," sagte Paul.

"Ja. Und was ist die Reise des Narren? Denken Sie an Aboku, an Djin."

"Transformation," antwortete er leise. "Unsere innere Reise und Verwandlung zum - zum Weisen."

"Ja. Sie haben sich auf die Reise gemacht, haben viele Dinge erlebt und gesehen, und Sie wollten noch mehr Dinge sehen und erleben. Aber das können Sie nicht, wenn Sie sich nicht mitverwandeln. Zuerst müssen Sie die Verwandlung durchlaufen, dann erleben Sie die Dinge außen. Nicht umgekehrt. Wie innen, so außen," zitierte sie den Spruch, den Paul bei seinem ersten Abenteuer auf dem Tempel der Nitor gesehen hatte.

"Ich dachte immer, dieser angeblich hermetische Spruch wie oben, so unten sei einfach nur ein Spruch von einem griechischen Grabstein. Der Tote solle in der Unterwelt so leben wie in der Oberwelt."

"Na und? Sie denken ja schon wieder," spottete sie gutmütig. "Ist ein Spruch deswegen weniger wahr, nur weil er eine einfache Botschaft vermittelt? Ihre arg strapazierte Metaphysik ist etwas Einfaches."

Paul schwieg verblüfft. Sie hatte recht!

Natürlich hat sie recht, raunte eine miauende Stimme in seinen Gedanken. Du bist auf der Reise, und nun bist du an dem Punkt, dich zu entscheiden. Gerechtigkeit. Sie ist unbestechlich, und du mußt nun alles in die Waagschale legen. Wäge ab, ob du weiter gehen willst bis zur Verwandlung, oder ob du lieber den Weg abbrichst.

Rufus putzte ungerührt weiter sein Fell und schnurrte dabei wie ein kleiner Motor, aber seine Worte waren unmißverständlich gewesen.

"Ich will den Weg weitergehen." Paul erwiderte den Blick der jungen Frau so strahlend, daß sie lächelte.

"Gut. Dann gehen Sie." Sie nickte sacht. "Wir werden uns wieder sehen."

"Danke." Er fühlte ein Strahlen in sich, das er noch nie erlebt hatte. Ja, dachte er glücklich, ich gehe weiter.

Das Strahlen breitete sich aus, bis es den ganzen Raum füllte. Es war hell und silbern, aber nicht kalt, sondern angenehm warm, und es erfüllte ihn mit der Gewißheit, daß es ihn nie wieder vollständig verlassen würde.

Er stand auf einer silbernen Mondscheibe vor einem silberweißen, zierlichen Einhorn, das wie ein Traum schien, und doch unbändige Kraft ausstrahlte. Er hörte etwas wie das leise Klingeln kleiner Silberglöckchen in der Ferne - er hörte es nicht nur, er roch und sah den Klang. Und zugleich hörte er die mystische und doch überwältigend reale Gestalt des Einhorns, und er sah den Duft, den es verströmte...

Alle seine Sinne schienen eins zu sein und schienen zugleich doch zu zerfließen. Traum und Wirklichkeit waren eins, Denken und Fühlen waren eins, sogar Zweifel und Gewißheit waren eins.

Das Einhorn bewegte sacht den Kopf mit dem filigranen silbernen Horn. Ich bin Selene, hörte, sah, roch, schmeckte und fühlte er die Glockenstimme sagen.



...to be continued


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