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DIE RICHTIGE WAHL


von Christel Scheja



Fröhliches Kinderlachen erklang in den sonst so ruhigen und ehrwürdigen Hallen der Akademie des vierstrahligen Sterns. Großmeister Ptorioleus hob den Kopf und schmunzelte.

Er mochte es, wenn die jungen Prüflinge, für die sich in diesen Wochen entschied, ob sie die arkane Kunst studieren sollten oder ihre Gabe verkümmerte, Leben und Unruhe in die verstaubten Hallen brachten. Die wenigen Kinder, die immer hier lebten, wagten es normalerweise nicht, sich so bemerkbar zu machen. Aber während der Prüfungszeit waren selbst die strengsten Meister freundlich und nachsichtig.

Der alte Mann blickte aus dem Fenster. Ein paar Kinder befanden sich auf dem Hof. Er entdeckte den braunen Schopf seiner Enkeltochter Tasmira. Für die Kleine würde sich in diesem Jahr entscheiden, ob sie die Ausbildung zur Magierin erhalten konnte, oder damit leben mußte, daß ihre Fähigkeiten verkümmern und schließlich ganz erlöschen würden.

Der Großmeister zweifelte aber nicht daran, daß seine Enkeltochter dem Beispiel ihres älteren Bruders und ihrer Eltern folgen würde. Das Kind besaß vielversprechende Gaben.

"Ich bin schon gespannt, in welche Richtung sich ihre Fähigkeiten wenden werden", murmelte er dann zu sich selber. "Bald werde ich es wissen."

Die erste - und schwerste - Prüfung hatte bereits begonnen. Um überhaupt zu den anderen zugelassen zu werden, mußten die Kinder einen Vertrauten finden, der von nun an Anker und Zentrum ihrer Gaben sein würde. Ein Greif, wie ihn Tasmiras Vater an sich gebunden hatte, verstärkte den Willen und die Fähigkeit, den Geist anderer zu unterwerfen, der Partner einer Katze konnte durch seine Fingerfertigkeit die komplizierten Gesten einer Beschwörung oder eines Rituals besonders leicht ausführen...



Tasmira streifte wie ihre Freunde und die vielen fremden Kinder aus allen Ecken des Landes durch die Akademie. Gerade wich sie einem grinsenden Schüler aus der Klasse ihres Bruders aus und zog eine Schnute, als der ihr hinterher rief "Na, was wirst du denn anschleppen - eine Spinne, eine Ratte ... oder einen Ackergaul?"

Tasmira blieb stehen, drehte sich um und streckte dem frechen Kerl die Zunge heraus. "Wirst du schon sehen! Bestimmt was besseres als so einen blöden Vogel wie du!"

Dann rannte das Mädchen weiter. Bis heute Abend mußte sie unbedingt einen Vertrauten finden. Einen ganz besonderen, das hatte sie sich fest vorgenommen. Bisher hatte es nur nicht geklappt.

Tasmira kam gerade aus dem Stall. Die Pferde mochten sie jedenfalls nicht und hatten ausgetreten, die Spinnen waren eher vor ihr davongelaufen als auf die Hand gekrabbelt. Die Welpen aus Lissas neuem Wurf hatten sie ins Bein gezwickt.

Eine Ratte wollte sie nicht, nachdem Tolas schon eine als Vertrauten gefunden hatte. Die paßte auch zu ihm, war sie doch genauso struppig und schmutzig wie der Aufschneider und bestimmt wesentlich klüger.

Plötzlich blieb sie stehen. Am Eingang zum Wohnhaus stand Miri, oder Miriashin von Edoi, die immer damit angab, die Tochter eines Edlen zu sein, und eines Tages die Magierin des Fürsten sein wollte. Ein Schildpattkätzchen turnte auf der Schulter des blonden Mädchens herum.

Tasmira biß sich auf die Lippen. Es wurmte sie, daß Miri schon eine Vertraute gefunden hatte. Jetzt würde sie bestimmt wieder damit angeben. Es war besser, ganz schnell zu verschwinden, denn ...

Zu spät! Nun sah die dumme Ziege auch noch zu ihr hin und trat in den Weg, so daß sich Tasmira nicht mehr an ihr vorbeischlängeln konnte.

Miri hob das Kätzchen von der Schulter. "Schau mal, ist das nicht süß? Ich habe die schönste Vertraute der Welt, Tassi!" Sie streckte das zappelnde Tier urplötzlich Tasmira entgegen.

Die wich zurück und japste und hustete heftig. "Pah, Katzen sind ja sooo gewöhnlich. So was hat fast jeder!" bemerkte Tasmira abfällig und versuchte die andere nicht anmerken zu lassen, daß sie vor Wut zitterte. Miri war ja so gemein, wußte sie doch ganz genau, daß Tasmira keine Luft bekam und sich die Seele aus dem Leib hustete, wenn eine Katze in ihre Nähe kam. Die Heilerin gab ihr Medizin, aber die half nur ein bißchen gegen die Atemnot.

"Ach, was willst du dann für einen Vertrauten finden?" stichelte Miri. "Etwa einen Greifen wie dein Vater?"

"Mindestens! Schließlich ist mein Vater der Herr über die Tiere und seit ich laufen kann, war ich mit ihm im Zaubergarten, ätsch! Du wirst schon sehen, ich bekomme etwas ganz besonderes!" Dann hob Tasmira den Kopf und stolzierte davon.

Miri war vergessen. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht, ihren Vater zu fragen? Das Mädchen beschloß jedoch, vorher in einem der Bücher nachzusehen, die sie zum von ihrem Großvater geschenkt bekommen hatte, welches Tier am besten zu ihr paßte.

Und wenn sie ganz freundlich bat und ihm versprach zu helfen, würde der Vater ihr bestimmt erlauben, die Fabelwesen, die Hohen Tiere, die dann und wann im Schutz der Akademie lebten, zu besuchen und ihren Wunsch vorzutragen.



Um ihrem Raum auf kürzestem Wege zu erreichen Tasmira das Zimmer ihres Bruders durchqueren.

Tasmira rümpfte die Nase. Es sah wie üblich aus - so als habe ein Wirbelsturm in dem Raum gewütet. Kleidung und Bücher lagen wüst auf einem Haufen neben dem Bett, die Fliegen summten um ein halb gegessenes Honigbrot und einen halbvollen Becher mit Saft, Sirupspritzer klebten die Blätter daneben zusammen.

Eines der Regale über seinem Bett hatte die vielen aufeinander gestapelten Bücher und Kästchen nicht mehr ausgehalten und war nach vorne weggekippt.

Mitleidig nahm Tasmira eine Schiefertafel vom Laubfroschglas, schnappte geschickt ein paar Fliegen und ließ die im Gefäß wieder frei. "Autsch! Die Luft die aus dem Gefäß entwich war heiß, und der Frosch, der am Boden hockte dadurch einfach zu matt, um die flinken Insekten zu fangen.

Rasch schob Tasmira das Glas aus der prallen Sonne. Das sie nicht früher daran gedacht hatte!

"Ach du armer Kerl. Wenn Yano dich weiter so behandelt, dann laß ich dich frei, auch wenn er mir dann eine Regenwolke ins Zimmer hext!" versprach sie. Der Frosch blinzelte ihr dankbar zu.

Tasmira seufzte. Sie verstand nicht, warum ihr Bruder darauf beharrte, sich unbedingt einen Wetterfrosch halten zu müssen, wenn er doch selber mit einem einfachen Spruch herausfinden konnte, wie das Wetter am Nachmittag oder nächsten Tag werden würde.

Jedenfalls bedauerte sie auch seine Schlange. Die war aber ziemlich genügsam und fing sich Mäuse, Schaben und Spinnen, wenn er sie mal wieder zu füttern vergaß.

Tasmira warf dem Frosch noch einen letzten Blick zu, dann huschte sie in ihr Zimmer, warf sich auf das Bett und zog ein großes Buch - ihr Lieblingsbuch mit den spannenden Lehrballaden - aus dem Regal. Eifrig blätterte sie die Seiten durch, bis sie die Seite fand, die an den vier Seiten mit den Hohen Tieren verziert war. Zwar konnte sie die Verse schon auswendig hersagen, aber sie fuhr trotzdem jedes Wort mit dem Finger nach.

"Ein Rat an junge Magier:
Deinen Zorn der Feuervogel spürt
und auch deine Furcht
bleibt ihm nicht verborgen
nur einer dieser Gedanken
ihn zu dir führt..."

Sie las über den unberechenbaren und temperamentvollen Feuervogel, über Zorn, Angst und Neid böse wurde, und den Eisdrachen, der nur darauf lauerte, alles noch schlimmer zu machen, als es war, weil er sich von Trauer und Hoffnungslosigkeit nährte. Von dem Kyree, der alles durchschaute und dem stolzen Greifen, der nur mit einem starken Willen zu bezwingen war.

Enttäuscht stützte Tasmira das Kinn auf die Hände, als sie mit der Seite fertig war. Der Wunsch, eines dieser Tiere ihren Gefährten zu nennen, war verflogen. "Puh", meinte das Mädchen traurig. "Das ist ja schrecklich schwer mit denen auszukommen. Wenn ich einen Feuervogel kriege, dann darf ich niemals mehr wütend oder neidisch sein, denn dann kommt er angeflogen und verbrennt mich mit seinem Feuer. Bei einem Kyree darf ich kein Geheimnis haben, denn der findet ja jedes sofort raus und petzt oder schimpft mich aus, wenn ich schwindle. Nein, der gefällt mir auch nicht, der ist so schrecklich erwachsen..."

Und ein Greif? Tasmira überlief eine Gänsehaut, als sie an den Gefährten ihres Vaters dachte, vor dessen scharfen Klauen sie gehörigen Respekt hatte. Und vor dem letzten Eisdrachen, der den Zaubergarten besucht hat, war sie davongelaufen...

Es gab keine Hoffnung. Ihr Traum, einen besonderen Vertrauten zu finden, zerplatzte wie eine Seifenblase. Tasmira schluckte, als sie an ihre Erlebnisse im Stall dachte. Vielleicht mochte sie ja gar kein Tier so gern, daß es sich mit ihr verbinden wollte ...



Eine ganze Weile lag Tasmira unschlüssig auf dem Bett, starrte die Bilder an und malte die Verzierungen mit dem Finger nach. Sie versuchte ihre Angst zu bezwingen.

Die Nachmittagsglocke hatte schon geläutet, und bald würde es Essen geben. Wenn sie bis dahin kein Wesen gefunden hatte, das sie ...

"Ich bin ja fast so dumm wie Tolas!" Plötzlich hob das Mädchen den Kopf, sprang wie von einer Wespe gestochen auf und riß die Tür zum immer noch leeren Zimmer ihres Bruders auf.

Um so besser!

Tasmira rannte zum Glas und sah den Frosch erwartungsvoll an: "Willst du nicht mein Vertrauter sein?"

Der vorher so matte Frosch öffnete die Augen und hüpfte mit einem großen Satz auf die Leiter. Seine Schallblasen schwollen an, und ein erwartungsvolles, fröhliches "Quack!" erklang.

"Ja? Wirklich?"

"Quaaack!" Das klang zustimmend und ungeduldig zugleich.

Tasmira hielt vorsichtig die Hand in das Glas und spürte im nächsten Moment das kühle Gewicht auf ihren Fingern. Sie hob den Frosch vor ihre Augen. Seine Luftsäcke bliesen sich unruhig auf. "Quak, quak!"

Ein Kribbeln durchfuhr den Körper des Mädchens wie ein Blitzschlag. Es brannte und juckte am ganzen Körper - kein Zweifel, das war wie Tasmiras Bruder immer erzählt hatte: "Du glaubst, daß Tausende von Ameisen über deine Haut krabbeln, wenn sich das Band schließt!"

Sie verstand plötzlich, was der Frosch in ihrer Hand sagte. Stolz über sein Lob tanzte Tasmira jauchzend durch das Zimmer und an ihrem völlig verblüfften Bruder vorbei nach draußen.

Ihre Eltern und der Großvater mußten ihren Vertrauten unbedingt kennenlernen!



"Ein Frosch!" Großmeister Ptorioleus. "Ich wußte zwar, daß Tasmira begabt ist, aber daß sie mich einmal stolz machen würde, hätte ich nicht gedacht!" Er strich seine Robe glatt mit vor Aufregung zitternden Fingern glatt. "So klein ein Frosch auch sein mag, die Mächte des Schicksals haben ihn mit besonderen Gaben ausgestattet: Er ist der Erneuerer des Lebens, Aus seiner scheinbaren Schwäche erwächst Stärke, Überfluß und Fruchtbarkeit. Tasmira wird eines Tages einmal hochgeschätzt sein, weil sie tiefer als alle anderen in die Macht eintauchen und die Gaben der anderen bündeln und lenken kann", murmelte er selbstvergessen. "Vielleicht wird sie ja sogar einmal meine Nachfolgerin ..."

Der alte Mann hielt in seiner Rede inne und blickte in eine lichtdurchflutete Ecke seines Arbeitszimmers. "Oder hattest du vielleicht deine Finger im Spiel, mein Freund?"

Der dicke Ochsenfrosch, der sich faul auf einem großen Stein sonnte, rührte sich zunächst nicht, bequemte sich dann aber mit einem Blinzeln zu einer Antwort.

"Quock!"


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