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VORNAME MISTER

Folge 14

von Fred H. Schütz



Von den Rädern der Kutsche aufgewirbelter Staub legte sich wie ein grauer Schleier über die Sitzpolster und über ihre Kleidung, aber es war natürlich unmöglich, bei der herrschenden Hitze die Fenster zu schließen. Molly fühlte ihn sogar auf der Zunge, aber sicher war es nur ihr trockener Mund, der ihr das Gefühl vorgaukelte, sie kaute auf Sand. Dazu fühlte sie sich hundeelend, aber daran war der schlechte Zustand der Straße, worüber das Gefährt mehr holperte als glitt, nur zum Teil schuld.

Mehr noch als die Schaukelei plagte sie das schlechte Gewissen, weil sie mit ihrer Hysterie den gestrigen Abend gestört hatte - sogar der Kaiser hatte sich ungehalten gezeigt - aber woher hätte sie wissen sollen, daß man quasi nebenbei ihre Verlobung feiern würde! Wie konnte man nur so ausgelassen sein, wo es doch offensichtlich war, daß sie drauf und dran war, Schande über sich und diese lieben Menschen zu bringen! Sie sah Pedros Gesicht vor sich, wie er sie anblicken würde, wenn er erfuhr, daß sie von einem anderen schwanger war ...

Die Prinzessin sah die Tränenspuren auf Mollys Wangen und faßte ihre Hand. "Ich weiß, wie du dich fühlst, mein Kind," sagte sie mit bewegter Stimme, "ich saß auch am Lager meines Vaters, als er starb ..." Mister Trecee hatte den Gästen erklärt, daß sie ihre Eltern im Bürgerkrieg verloren hätte und um sie trauerte. Das stimmte sogar, zumindest teilweise, denn Vater Boris hatte ihr erzählt, wie ihre Eltern umkamen, als die Kolonie um die Freiheit kämpfte. Von einem amerikanischen Bürgerkrieg hatte sie keine Ahnung, ließ aber die mit Beileidsbezeugungen der Gäste verbundenen Anzüglichkeiten auf das große Land nördlich des Rio Grande mit einem stummen Nicken über sich ergehen.

Molly hatte nicht die innere Kraft zu einem Gespräch. Sie saß stumm und mit tränennassen Augen neben ihrer zukünftigen Schwiegermutter, und wenn die Prinzessin eine Gemütsbewegung wegen ihrer Verfassung spürte, so zeigte sich dies ausschließlich in der Energie, mit der sie ihren Fächer flattern ließ. Ihnen gegenüber saß Conchita zwischen zwei riesigen Proviantkörben, aus denen sie von Zeit zu Zeit irgendeine Erfrischung klaubte und sie den Damen anbot.

"Dona Anita" klappte ihren Fächer zu und tappte damit auf Mollys nackten Unterarm. "Hörst du das Lied," sagte sie und ihre Stimme bestätigte das Lächeln auf ihren Zügen. "Ich möchte wetten, daß ich weiß, wer wem ein Ständchen bringt." Durch die offenen Fenster drangen deutlich die Stimmen zweier Männer, die irgendein schmachtendes Liebeslied vortrugen - irgend etwas von einem Paar Augen, die nicht aufschlagen wollten, und dem Liebhaber, der sein Herz anstelle allen Reichtums anbot. "Nun, ich kann nicht gemeint sein," sagte sie leise und ihren steifen Gesichtszüge widersetzten sich dem Anflug eines Lächelns, "ich bin ja nicht aus Málaga."

"Málaga liegt auch nicht in Mexiko," erwiderte die Prinzessin und lachte vergnügt. "Aber wenn hierzulande ein Mann für die Frau singt, die er liebt, dann singt er La Malaguena!" Dann seufzte sie. "Ja, Mexiko ist ein gesangfreudiges Land. Solange ich ihn kenne, hat der Oberst keine Gelegenheit ausgelassen, dieses Lied für mich zu singen - und nun tut es Pedro für dich!"

"Como el candor de una rosa!" schmetterten die beiden Männer und Molly fühlte sich in ihrem Innersten berührt. Irgend etwas, das ihr Herz umklammert hatte, löste sich und sie atmete auf. Es war schön, sich geliebt zu wissen. Das gedämpfte Trappeln der Pferdehufe auf dem weichen Grund bildete eine besondere Geräuschkulisse - irgendwie beruhigend, und das wirkte auch auf das Pochen ihres Herzens. Sie begann, sich die Landschaft anzusehen, die fortan ihre Heimat sein würde.

Der Unterschied zum Mars konnte nicht größer sein. Drückte dort ein niedriger düsterer Himmel auf ebenso düsteres totes Gestein und war alles in ein graurotes und dennoch farblos wirkendes, fahles Licht getaucht, spannte hier ein leuchtend blauer Himmel, hier und dort mit schneeweißen Wattebäuschen gleichen Wölkchen besetzt, hoch über einem in Farben schwelgenden Grund: schwefelgelb und ockerfarben, helles orange und umbra mit einem bläulichen Kontralicht. Auf dem Mars hatte man eine Begrünung versucht und war dort mit einer Art Sandsegge, die aber rasch verdorrte und den unheimlichen Farbton ihrer Umgebung annahm, halbwegs erfolgreich gewesen; hier war das ganze Land mit Vegetation bedeckt. Freilich konnte sich diese Halbwüste nicht mit der Prachtstraße messen, die sie gestern durchfahren hatte und die Pflanzen waren eher graugrün als grün - vorherrschend kleine schüttere Bäumchen mit kahl wirkendem Geäst und hochragende Stämme, wie karge hutlose Männer mit gereckten Armen - und alles, aber auch alles, stand in voller Blüte. Molly fühlte sich von dem Farbenspiel berauscht und war auch dem Staub nicht mehr gram, der sich über alles breitete.

Hätte man ihr jetzt gesagt, daß sie es noch erleben würde, in einer staubgeschützten Limousine dieselbe Strecke auf einer gut befestigten Straße zu bereisen, wäre sie sicherlich ob der abstrusen Idee sehr belustigt gewesen.

Zur Mittagszeit machten sie Rast in einem breiten flachen Tal, durch das ein kleiner Bach lustig plätscherte. Frei fließendes Wasser, das hatte Molly noch nie gesehen; sie wanderte die kurze Strecke zum Ufer und schaute neugierig in die glucksende Flut. Wasser, das ohne ersichtlichen Zweck nur so dahin floß - reinste Verschwendung war das!

"Man könnte glauben, du hättest noch nie einen Bach gesehen!" Die Prinzessin lachte vergnügt, als sie sich neben Molly auf den Boden kauerte. "Komm, wir wollen uns erfrischen! Die Gelegenheit bietet sich kaum noch einmal!" Molly tat es ihr nach und wusch sich Gesicht und Hände - das Wasser war eiskalt! "Es kommt aus der Sierra," erklärte Annette, "dort oben liegt sogar Schnee!"

Schnee gibt es auf dem Mars nicht, aber Molly wußte aus den Büchern, die sie gelesen hatte, daß es sich dabei um gefrorenes Wasser handelte. Wie konnte in diesem heißen Land Wasser gefrieren? Mit der Frage bereits auf der Zunge fiel ihr ein, daß sie Pedros Mutter besser nicht verraten durfte, daß sie ihr ganzes bisheriges Leben auf dem Mars verbracht hatte. Sie schluckte die Frage hinunter und beschloß, Mister Trecee darüber zu befragen, wenn sie ihn wiedertraf. Falls sie ihn wiedertraf ...

Als sie zur Kutsche zurückkehrten, hatten der Kutscher - es war José der Kopfolt, der ihr freundlich entgegen blinzelte - und sein Gehilfe ein Zeltdach aufgespannt, und Conchita hatte ein prasselndes Feuer entzündet - woher sie das Material nahm, blieb ihr Geheimnis - und hantierte mit Schüsseln und Pfannen, aus denen alsbald ein herrliches Aroma aufstieg. Was Wunder, daß Molly einen Hunger verspürte, als ob sie drei Wochen gefastet hätte. So langte sie zu, daß es eine Wonne war, ihr zuzusehen - so jedenfalls drückte es Pedro aus, der sein einzelnes Auge nicht von ihr lassen konnte.

Nicht weit von der Kutsche befand sich eine Grasfläche, die ihr saftiges Grün wohl dem Bach verdankte. José hatte die Kutschpferde ausgespannt und ließ sie auf der Wiese weiden, hielt aber seine Augen wachsam auf sie gerichtet. Der Grund für seine Aufmerksamkeit waren die beiden Rösser, auf denen Pedro und sein Vater der Kutsche vorausgeritten waren, und selbst Mollys ungeübtes Auge erkannte den Unterschied zwischen ihnen und den Gäulen, die die Kutsche zogen.

Auf dem Mars gab es kaum Tiere und schon gar keine Pferde. Daß es sich hier um Exemplare der Gattung Equus handelte, wußte sie einzig aus den Illustrationen in den Büchern, die sie in der Bibliothek der Kolonie gelesen hatte. Nun sah sie, daß nicht jedes Pferd wie das andere ist.

Die Kutschpferde - alles braune mit brauner oder schwarzer Mähne und eines oder das andere mit einem oder zwei weißen Beinen - interessierten sich einzig für das saftige Gras, das sie in sich hinein fraßen, aber die beiden Hengste - nun ja, daß es Hengste waren, erfuhr Molly erst viel später, nämlich, als sie begann, sich mit der Pferdezucht auf der Hacienda vertraut zu machen - spielten miteinander, indem sie hin und her rannten, nach einander bissen und auskeilten, und nur hin wieder anhielten, um einen Bissen Gras auszurupfen. Das machte die Kutschpferde scheu und José mußte mehr als einmal aufstehen, um "nach dem Rechten zu sehen."

Zum Schluß blieb ihm nichts anderes übrig, als die an seiner Hand erstaunlich fügsamen Tiere an gegenüberliegende Seiten der Wiese zu führen und dort an Pflöcken anzubinden, die er in den Boden schlug. Erst dann gaben die temperamentvollen Hengste Ruhe, wenngleich sie von Zeit zu Zeit die Köpfe vorstreckten und laut wieherten. "Sie betrachten das Gespann als ihre Herde und jeder will sie für sich," sagte José schmunzelnd, als er zum Lagerfeuer zurückkam.

Molly betrachtete die Hengste mit einem an Faszination grenzenden Erstaunen. Kreaturen wie diese - kohlschwarz die eine, silbrig schimmernd die andere, feingliedrig und dennoch kraftvoll mit anmutigen Bewegungen - mußte man lieben. Ihre Schönheit nahm ihre Sinne gefangen, so daß sie darüber ihre Sorgen vergaß.

Pedro sah es mit Freude. "Möchtest du gerne reiten?" fragte er sie.

"Ja, aber - aber, ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen. Ich weiß nicht, wie man mit ihnen umgeht."

"Das macht nichts," sagte er. "Wenn du dem Pferd zeigst, daß du es liebst, wird es dir gehorchen. Ich nehme dich mit auf mein Pferd, dann wirst du es sehen!"

Diesem Angebot konnte Molly nicht widerstehen, und so kam es, daß sie nachdem alles Geschirr abgebaut und in der Kutsche verstaut war, zu Pedro hinaufgereicht wurde, als der bereits im Sattel saß. Allerdings ließ sie die Prinzessin nicht aufsitzen, bis sie sich bereit erklärte, einen riesigen Strohhut zu tragen, den Conchita aus dem Gepäck hervorkramte. Sehr bald sollte ihr jedoch klar werden, daß der lächerliche Kopfputz sie vor den gefährlichen Einwirkungen einer gnadenlos herniederbrennenden Sonne schützte.

Sie hatte erwartet, daß sie hinter Pedro auf der Kruppe des Pferdes sitzen würde, wie sie es am Morgen bei Bast beobachtet hatte. Bast war zu ihr ins Zimmer gekommen und hatte sie geweckt. Die angebliche Gräfin wirkte bekümmert, als sie sich von ihr verabschiedete. "Auch eine Göttin weiß nicht immer, was auf sie zukommt," sagte sie leise und umarmte Molly, wobei dem Mädchen vom Wildkatzengeruch beinahe die Sinne schwanden. "Seien Sie gesegnet, denn wir werden uns wohl nicht wiedersehen."

Als sie ans Fenster trat, sah Molly Cesar im Hof, der zuerst seine Eltern und dann Pedro in die Arme schloß. Dann bestieg er ein kohlrabenschwarzes Pferd, das Molly, als sie zurückdachte, wie der Zwilling des Hengstes erschien, den Pedro jetzt ritt. Dann nahm Bast hinter ihm Platz, und als der große Hengst antrabte, hob sie den Blick und sandte ein trauriges Lächeln zu Molly hinauf.

"Auf der Kruppe?" Pedro schmunzelte breit und nickte. "Ja, in der Stadt, auf einer kurzen ebenen Strecke mag das angehen, und Cesar -" Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Hier ist es was anders!" Er rutschte im Sattel zurück, dann wurde sie von kräftigen Männerhänden emporgehoben und saß schließlich quer vor Pedro auf seinen Schenkeln. Er schloß seine Arme um sie und hielt sie fest. "So möchte ich mit dir in aller Ewigkeit dahin reiten, Querida!"

Sie schmiegte sich an ihn und fühlte das Pochen seines Herzens das ihre beruhigen, als das große Pferd antrabte und unter ihr dahinglitt, wie eine Barke auf einem stillen See ...

Gegen Mittag des vierten Reisetages änderte sich das Landschaftsbild. Der Wildwuchs machte in regelmäßigen Reihen hochragenden Pflanzen mit Rosetten stacheliger dicker und spitziger Blätter Platz. In der Mitte jeder Pflanze reckte sich ein dicker, von einem Kugelkopf gekrönter Stamm in die Höhe. Molly blinzelte über Pedros Schulter, sah sich inmitten eines Meeres der merkwürdigen Pflanzen. "Pedro, was ist das?"

"Blaue Agave," brummte er. Er stellte sich in die Steigbügel und reckte sich, um weiter blicken zu können. "Merkwürdig. Keine Wächter zu sehen!"

Molly wußte, daß man Felder kultivieren muß, um ernten zu können, und daß daher immer irgendwelche Leute auf den Äckern zu sehen waren; daß man sie bewachen mußte, war ihr neu. "Wozu muß man sie bewachen?" fragte sie naiv und sah Pedro neugierig an.

Er lächelte humorlos. "Weil die Agaven wertvoll sind. Die Blätter liefern Fasern für allerlei Gespinste - dein Hut zum Beispiel ist aus solchen Fasern geflochten - und aus den Blütenköpfen brennt man Tequila. Da wollen manche ernten, die nicht gesät haben."

"Tequila?" Molly machte große Augen, und der Oberst warf ein, "Die Leute haben Angst."

"Ach," sagte Molly, "vor den Räubern?"

"Vor den Juaristas," sagte der Oberst und seine Stimme klang bitter. Pedro setzte hinzu, "Tequila ist Agavenschnaps."

"Ach," sagte Molly wieder. Sie schmiegte sich enger an Pedro. "Ich habe keine Angst solange ich bei dir bin." Sie schwieg einen Augenblick. "Aber ich wünschte, wir wären schon auf der Hacienda."

Da lachte Pedro. "Wir sind bereits mittendrin, mein Liebes!"

Während der Mittagsrast, hingekauert in den kargen Schatten einiger mit scharlachroten Blüten übersäter und mit scharfen Stacheln bewehrten sperriger Bäume, wandte sich Molly an die Prinzessin. "Warum haben die Leute Angst vor den Juaristas? Wer sind die?"

Annette seufzte tief. "Anhänger von Benito Juarez. Er gilt als Bauerngeneral und erhebt Anspruch auf die Regierungsgewalt in diesem Land. Leider ist er in der Übermacht. Unsere Leute fürchten seine Rache, weil wir dem Kaiser dienen."

"Aber wenn er gegen den Kaiser rebelliert, warum läßt ihn dieser nicht gefangensetzen?"

"Maximilian hat keine Macht mehr. Deswegen fährt er ja jetzt nach Frankreich, um Napoleons Unterstützung zu erreichen."

"Napoleon? Was hat der mit Mexiko zu tun?"

"Kind, weißt du das nicht?" Die Prinzessin schüttelte betroffen den Kopf. "Er hat doch Maximilian überhaupt erst als unseren Kaiser eingesetzt!"

Molly schwieg betreten. Es hatte einen Kaiser Napoleon gegeben, das wußte sie; aber der war doch selber verbannt worden. Und wie konnte ein Franzose jemanden als Kaiser von Mexiko einsetzen, zumal der offensichtlich kein Mexikaner war? Maximilian und Pedros Mutter sprachen dieselbe Sprache, also stammte der Kaiser auch aus Österreich und das erklärte die Treue der Prinzessin. Hier gab es Dinge, die nicht zueinander paßten, aber das konnte sie nicht in einem Gespräch mit Leuten klären, die nicht wissen durften, daß sie - Molly - aus der Zukunft kam. Sie würde warten müssen, bis sie mit Mister Trecee sprechen konnte - falls der überhaupt noch einmal auftauchte; zuletzt hatte sie ihn an ihrem Verlobungsabend gesehen und das war schon vier Tage her ..

Als die Männer begannen, das Geschirr abzuräumen, schreckte sie auf und als sie Annettes betrübte Miene sah, beschloß sie, ihr die Zeit zu vertreiben, denn diese liebe Frau traurig zu sehen, tat ihr im Herzen weh; also stieg sie zu ihr in den Wagen und begann zu plappern. Sie erzählte, was ihr gerade einfiel und das hätte sie besser sein lassen, denn sie schlitterte ein paarmal haarscharf an der Katastrophe vorbei - wieso ein irischer Priester Boris hieß, oder was ein Preisboxer war, nämlich ein Faustkämpfer und das galt Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht gerade als ein ehrlicher Beruf, hätte sie nie erklären können - aber die Prinzessin, die lange ihrer Trübseligkeit nachhing, achtete nicht darauf. Erst als die sinkende Sonne die nahe Abenddämmerung ankündigte, kehrte ihre natürliche Heiterkeit zurück, und dann klang aus dem Inneren der Kutsche das Gelächter von Frauen und machte die Männer schmunzeln.

Als der Rand der Sonne den Horizont küßte, zügelte Pedro sein Pferd, bis es neben der Kutsche hertrabte. "Mirad!" rief er und deutete nach vorn, "Seht, die Hacienda del Almirante!"



Fortsetzung folgt, wenn Ihr wollt


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