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NÄCHTLICHE PANNE

von Thomas Kager



"Das darf doch nicht war sein", seufzte Günter und betätigte noch einmal den Anlasser. Der Starter jaulte auf, der Motor hustete ein paar mal, dann herrschte wieder Ruhe in dem nächtlichen Wald.

"Es tut mir leid", meinte Ursula.

Etwas irritiert blickte Günter zu seiner Frau. "Aber es ist doch nicht deine Schuld, daß die Karre hier verreckt."

"Aber ich hätte nicht darauf bestehen sollen, daß wir in diese Seitenstraße einbiegen, nur weil ich neugierig war, was an ihrem Ende liegt."

"Ach, laß nur", winkte Günter ab und versuchte noch einmal den Motor zu starten. Jedoch war das Ergebnis nicht besser als vorher.

"Aus", meinte Günter schließlich und lehnte sich zurück. "Das wird nichts mehr. Wir müssen irgendwo Hilfe holen."

"Die letzten paar Häuser liegen mindestens 3 Kilometer zurück."

"Mist. Und keine Taschenlampe dabei."

Für ein paar Minuten herrschte bedrücktes Schweigen.

"Da vorne", begann Ursula schließlich.

"Was?" Günter schreckte aus seinen Gedanken hoch. "Was ist da vorne?"

"Ich glaube, da vorne ist ein Haus."

Günter folgte den Fingerzeig seiner Frau, und wirklich, da vorne meinte er die Umrisse eines Gebäudes zu erkennen.

"Klasse. Ich werde mal hingehen."

"Aber Günter", begann seine Frau.

"Sei doch nicht so ängstlich. Du bleibst hier im Wagen und verschließt die Türen. Und ich bin schnell wieder zurück."

"Aber Günter..."

"Ja, ich passe schon auf", versuchte er Ursula zu beruhigen und drückte ihr noch einen Kuß auf die Stirn. Dann stieg er aus dem Wagen und versuchte in der Dunkelheit einen Weg zu dem Haus zu finden.

Es war ein recht beeindruckendes Gebäude. Alt, groß und ausladend. Wahrscheinlich wurde es früher von einem reichen oder adeligen Besitzers als Landhaus genutzt. Aber jetzt wirkte es verlassen und dunkel. Günter hoffte, daß es doch noch bewohnt war und er Hilfe holen könnte.

Erleichtert atmete er auf, als sich, kurz nachdem er den schweren Türklopfer betätigt hatte, etwas im Inneren regte. Das Licht ging an, leichte Schritte näherten sich der Tür und öffneten.

"Ja, bitte", fragte die junge Dame in ihrem langen weißen Kleid, das man heutzutage nur mehr auf gehobenen Bällen zu sehen bekam, jedoch perfekt zu dem alten Haus paßte.

"Guten Abend", grüßte Günter ein wenig befangen. "Mein Name ist Weiding. Günter Weiding. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber ich hatte mit meinem Wagen eine Panne. Wären Sie so freundlich, daß ich kurz ihr Telefon benutzen kann, um einen Abschleppdienst zu rufen?"

"Aber selbstverständlich", erwiderte die Dame mit einem freundlichen Lächeln und vollführte mit dem zart bestickten Taschentuch in ihrer Hand eine einladende Handbewegung. "Kommen Sie nur herein." Sie trat zur Seite, wobei ihr Kleid leise über den Boden raschelte. "Das Telefon steht hinten im Salon."

Günter verschlug es beim Eintreten fast den Atem, da er meinte in eine andere Zeitepoche versetzt worden zu sein. Die komplette Einrichtung bestand aus Antiquitäten. Angefangen von den Teppichen am Boden, über die Schränke, Tisch und Stühle, bis hinauf zu den Leuchtern an der Decke. Günter hatte in dieser Beziehung wenig Ahnung, aber er schätzte, daß es ein größeres Vermögen gekostet hatte.

"Es funktioniert nicht", sagte Günter enttäuscht, als kein Ton in dem geschwungenen Hörer des Telefons zu hören war.

"Das tut mir aber leid", entgegnete ihm die Dame betrübt. "Aber das passiert leider hin und wieder."

"Dann werde ich es eben wo anders versuchen. Vielen Dank für ihre Freundlichkeit."

"Aber warten Sie doch noch ein wenig", hielt ihn die Dame mit freundlichen Lächeln zurück. "Ich habe so selten Besuch. Kann ich ihnen einen Tee und etwas Gebäck anbieten?"

"Nein, vielen Dank. Meine Frau wartet draußen im Wagen und macht sich sicherlich schon Sorgen, wo ich bleibe."

"Ihre Frau", wiederholte die Dame ein wenig enttäuscht. "Aber holen Sie sie doch auch herein. Ich bin sicher..."

In diesem Moment wurde die Tür kraftvoll geöffnet und wieder geschlossen. Schritte waren zu hören.

"Oh, mein Mann", erklärte die Dame ein wenig erschrocken. "Er kommt früh nach Hause. Ich werde Sie ihm vorstellen."

Ein Mann gekleidet in der gleichen Zeitepoche wie die Dame, betrat den Salon und blieb wie angewurzelt stehen.

"Wer ist das?" verlangte er barsch zu wissen.

"Das ist Herr Weiding", stellte die Dame Günter vor. "Sein Wagen hatte eine Panne und er wollte..."

"Lüge nicht", unterbrach er sie mit sichtbarem Ärger und Wut. "Das ist nur wieder einer deiner vielen Liebhaber."

"Aber nein, Liebling. Glaube mir. Ich liebe doch nur dich."

"Schlampe! Hure! Jetzt endlich habe ich den Beweis für deine Treulosigkeit. Ich verfluche dich. Auf ewig sollst du dafür bezahlen."

Mit diesen Worten zog der Mann eine Waffe aus der Jacke. Im Unterbewußtsein registrierte Günter, der die ganze Szene mit wachsender Bestürzung und Unglauben verfolgt hatte, daß es ein alter Vorderlader war, dessen Lauf sich da auf die Dame richtete, die in ihrer Verzweiflung zurück wich und ihr Taschentuch gegen den Mund preßte.

Noch bevor er richtig wußte, was er tat, sprang er nach vor und umklammerte die Waffenhand. Verzweifelt versucht Güter den Lauf auf die Seite zu schieben und ein heftiges Gerangel begann.

Plötzlich löste sich ein Schuß. Zutiefst erschrocken erstarrte Günter. War er getroffen? Aber er spürte keinen Schmerz. Während der noch darüber nachdachte, sank der Andere in sich zusammen und stürzte zu Boden.

Fassungslos starrte Günter auf den Toten. Und noch bevor er so richtig begriff, was da passiert war, begann sich das Innere des Hauses zu verändern. Das Licht verblaßte und alles schien in Sekundenschnelle zu altern. Die gesamte Einrichtung verfiel vor seinen Augen. Die Schränke wurden wurmstichig und vermoderten, die Teppiche bekamen Flecken und die Tapeten verblaßten und lösten sich von den Wänden.

Schließlich war es nur mehr ein altes, schon lange unbewohntes Haus. Einzig die Dame in ihrem weißen Kleid war noch da. Sie sah Günter mit einer Mischung aus unsagbarem Leid und großer Freude an.

"Ich danke Ihnen", sagte sie, als sie näher trat, Günters Hand nahm und drückte. "Sie haben mich endlich erlöst."

Ihr Kuß auf Günters Wange war wie ein Hauch, wie ein sanfter Luftstrom, als auch sie verblaßte und verschwand.

Panisch und kopflos stürmte Günter durch die schief in ihren Angeln hängende Tür hinaus und lief so schnell ihn seine Beine trugen zurück zu seinem Wagen und seiner Frau.

Als er sich endlich wieder beruhigt und Ursula stockend alles erzählt hatte, fand er auch eine plausible Erklärung für das Geschehene.

Es war alles nur Einbildung. Eine Illusion, ausgelöst durch seine Angst, verbunden mit der schlechten Luft im Haus.

Aber warum hielt er in seiner Hand ein zart besticktes weißes Taschentuch?


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