GÖTTINNEN
Spiegel des Weiblichen im Zeitenlauf

von Christel Scheja



Bei meiner Beschäftigung mit weiblicher Kulturgeschichte bleibt es nicht aus, dass ich mich auch einmal mit den Göttinnen beschäftigen würde. Einige von ihnen - Isis, Ishtar und Aphrodite/Venus etwa - sind bis in die heutige Zeit als wichtige Göttinnen der Liebe und Fruchtbarkeit bekannt, aber nicht mehr in allen Facetten, in denen sie einst verehrt wurden.

Viele andere Göttinnen sind in der Zwischenzeit vergessen worden, wie Kali Sinn- und Vorbilder für dämonische Wesen oder nur noch als Gefährtinnen ihrer göttlichen Gemahle bekannt, obwohl sie in ihrer Religion einstmals vielfältige Aufgaben hatten. Deshalb habe ich ein wenig Quellenstudium betrieben, um nach diesen Spuren zu suchen.

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Die Urmütter der Steinzeit

Welche Götter und vor allem Göttinnen unsere fernsten Vorfahren verehrten, können wir heute nur vermuten. Funde wie die "Venus von Willendorf" - kleine Statuetten mit ausgeprägtem Becken und Brüsten, die zumeist mit einer Hand festgehalten werden können - oder Wandmalereien sind stumme Zeugen, die nicht eindeutig aussagen, welche Funktion sie vor vielen Jahrtausenden hatten. Aber aufgrund ihrer gehäuften Zahl an über 60 Orten und im Vergleich mit anderen Funden aus diesen Epochen können wir Rückschlüsse ziehen.

Damals kannte man noch nicht die Bedeutung beider Partner im Zeugungsakt. Sichtbar war für die Menschen nur, daß die Frau die Kinder gebar und somit neues Leben hervorbrachte. Wie leicht entstand da der Glaube, dass das überirdische Wesen, welches das Leben hervorbrachte, auch weiblich sein musste, eben die "Erdmutter", "Große Frau", "Alte Frau", "Tiermutter", "Namenlose" oder "Die, die nicht heiraten sollte". Urmütter gaben und nahmen Leben, und wie das Kind sich an die Mutter klammerte, umklammerte der Gläubige das Bild der Göttin.

Es scheint wohl auch so zu sein, dass schon in der Altsteinzeit die Aufgabenteilung vorherrschte, die wir in vielen späteren Kulturen wiederfinden. Vielleicht hat es auch Ausnahmen von dieser Regel gegeben: Während die Männer in Gruppen auf die Jagd zogen, blieben die Frauen zurück, um die Kinder zu beschützen. Sie sammelten Körner, Eier und Beeren, holten das Wasser oder hüteten das Feuer - und sicherten so das Leben der Sippe/des Stammes, auch wenn die Männer mit leeren Händen zurückkamen. So trugen auch die Göttinnenbilder Hörner mit Flüssigkeit und Korn/Früchten, um zu jeder Zeit für Nahrung zu sorgen.

Dies übertrug sich auf die Jungsteinzeit. Die Frauen, die schon vorher wesentlich weniger mobil als die Männer waren, übernahmen das Sammeln von Eiern, Beeren und Wildobst, das Säen der Körner (wer anderes als eine Frau, die tagtäglich damit beschäftigt war konnte durch Beobachtung den Lebenszyklus einer Pflanze und die Bedeutung des Bodens erkennen?), fingen Kleintiere und Fische, stellten Kleidung und Werkzeuge her, hüteten den Herd und bewahrten die Vorräte. Die "Kornmütter" und "Tiermütter" wandelten ihre Gestalt: Sie waren nun kleinbrüstig und breithüftig, besaßen Haare oder Perücken und die Genitalregion wurde deutlich durch ein auf die Spitze gestelltes Dreieck dargestellt.

Der Mond (in den meisten Sprachen übrigens weiblich) wurde schon bald mit den Muttergöttinnen in Verbindung gebracht. Wie die Frauen durchläuft er in genau der gleichen Zeit seinen Zyklus. Untersuchungen haben ergeben, dass sich der Menstruationszyklus der Frauen bei den Naturvölkern sogar den Mondphasen anpasst. So blieb der Schluss nicht lange aus, dass der Mond dem Weiblichen zugeordnet ist, weil er wie sie den Zyklus des Werdens und Vergehens kennt. Neben den Fruchtbarkeitssymbolen Ähre, Frucht und Wasser wurde nun auch die Mondsichel oder der Halbmond den Göttinnen zugeordnet. Die Mondgöttinnen wurden Beherrscherinnen der Nacht, Spinnen in ihren Netzen, Spinnerinnen und Weberinnen des Schicksals, Herrinnen über die Geschöpfe der Nacht: Katze, Fuchs, Schnecke, Hase/Kaninchen, Frosch, Kröte und manchmal auch den Bären.



Die alten Kulturen des fruchtbaren Halbmondes

Die Mythen und Glaubensvorstellungen der Jungsteinzeit übertrugen sich nun auch in die frühen Kulturen des Niltales und Zweistromlandes, wenngleich hier auch eine Veränderung eintrat: "Die Eine" erhielt nun viele Gesichter und viele Namen, ihre Aufgabenbereiche wurden aufgespalten.

Die Ägypter waren ein tiefreligiöses Volk. Wie bei keinem anderen Volk vorher oder nachher spielte der Glaube eine so große Rolle - die Götter waren allgegenwärtig, griffen ständig in die Geschicke der Menschen ein oder überwachten sie. Die Lokalgötter der einzelnen Siedlungen wurden mit den Jahrhunderten in das Pantheon aufgenommen oder verschmolzen mit bereits vorhandenen.

Frauen wurden als gleichwertig anerkannt: Sie übten Berufe aus, besaßen hohe Stellungen am Hofe, bewegten sich frei und ungebunden - und der Pharao konnte nur lange Zeit durch die Heirat mit der Erbtochter inthronisiert werden, eine Stellung die später die "Große Königsgemahlin" (meistens eine (Halb)Schwester des Königs übernahm). Sein Herrschaftsanspruch definierte sich also über die weibliche Linie.

Die Göttinnen jedenfalls haben ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit wie leicht zu erkennen sein wird. Die bedeutendsten und bemerkenswertesten von ihnen waren:

Tefnut bringt jeden Morgen den lebensspendenden Tau, die Feuchtigkeit, ohne die kein Wesen lange existieren kann. Sie ist die Osiris beschützende Löwin, die jeden Morgen die Sonne gebiert.

Nut ist die Himmelsgöttin, die sich auf Hände und Füße gestützt über die Erde beugt

Isis war ursprünglich eine unabhängige Lokalgöttin, die erst durch den Osiris-Mythus große Bedeutung gewann. Indem sie Osiris heiratete, führte sie die Ehe ein und wurde zum Sinnbild der treuen leidenden Frau. Ihr Wissen als "Große Zauberin" ließ sie Osiris, nachdem dieser von seinem Bruder Set ermordet und zerstückelt worden war, wieder zusammensetzen und für kurze Zeit zum Leben erwecken, um von ihm Horus zu empfangen. Isis ist die Herrin aller Göttinnen, dargestellt als Frau, die als Kopfschmuck die Sonnenscheibe zwischen zwei Kuhhörnern oder eine Feder trägt (Attribute anderer Göttinnen). Ihr Symbol ist der Gürtel. Nephytis half ihrer Schwester Isis, Osiris zu retten und steht auch später den Toten bei.

Hathor war einst die allumfassende Muttergottheit, die Herrin der Freude, Mutterschaft, der weiblichen Reize, des Tanzes, der Vergnügungen und der Musik, aber sie konnte auch wie Sachmet zur reißenden Bestie werden. Dargestellt wurde sie meist als Kuh, die die Sonnenscheibe zwischen den Hörnern trug, oder als Frau mit breitem Kopf und einem ebensolchen Kopfschmuck.

Bevor ihr Gemahl Thot auch diese Dinge für sich in Anspruch nahm, war Seschat die Göttin der Schreibkunst, des Messwesens, der Bücher, der Arithmetik und der Architektur. Dargestellt wurde sie meist als Frau mit Sternenemblem oder Blumenschmuck auf dem Haupt, in ein Leopardenfell gekleidet und mit einer Feder und Tafel in den Händen.

Nechbet, dargestellt als Geier (Frau mit Geierkopf), war die Beschützerin Oberägyptens, die die weiße Krone trug, während Uto, dargestellt als Schlange (Frau mit Schlangenkopf) die rote Krone tragend Unterägypten beschützte.

Bastet die Katzengöttin war eine wohltätige Macht, die die beiden Länder beschützte wie eine Sonne. Ihr Kult war dem der Hathor ähnlich. Dargestellt wurde sie als Frau mit Katzenkopf.

Neith, eine alte Jagd- und Kriegsgöttin, deren Zeichen der Schild und zwei gekreuzte Speere waren, war in der Frühzeit und im Alten Reich die Mutter der Götter und Große Göttin der Frauen, der die Erbtöchter und Königsgemahlinnen dienten und folgten, die Wegöffnerin ins Totenreich.

Sachmet die Löwenköpfige war die wilde Göttin der Krieger und des Kampfes, die mit ihrem Blutrausch viel Schaden anrichten konnte.

Maat war die Göttin der Gerechtigkeit und Wahrheit, die das Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen bewahrte. In einer Sonnenbarke stehend, mit einer langen Straußenfeder im Haar hielt sie ein Gewicht und die Waagschale in Händen.



Während das ägyptische Reich über drei Jahrtausende hinweg als kulturelle Einheit bestand, fegten über das Zweistromland immer wieder neue Nomadenvölker aus Asien hinweg, begonnen mit den Sumerern bis hin zu den Persern. Keines der Reiche hatte auch nur annähernd so lange Bestand wie das im Niltal.

Zumindest bei den Sumerern hatten die Frauen offenbar noch die Möglichkeit, Berufe auszuüben, selbst Geschäfte und Verträge abzuschließen, als Zeugen und Vormünder zu dienen. Es gab noch keine geweihte Ehe, es war aber möglich ein Vertrag zwischen den Partnern abzuschließen, um die Vermögensverhältnisse festzulegen. Die Welt der Sumerer war jedenfalls schon damals eine Welt voller Geister und Dämonen, wie der bösartigen Lamaschtu, die Unbill und Schrecken brachte und als Lillith/Lamia in anderen Kulturen Eingang fand.

Inanna die große alte Muttergöttin des Zweistromlandes sollte später mit der babylonischen Ishtar verschmelzen, einer Göttin, die noch heute als Sinnbild der ewigen Hure verschrieen ist. Inanna jedenfalls zog aus, um ihren Gefährten Dumuz aus der Unterwelt zu retten. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie sich ihm später unterwarf, sondern sie regierte Götter und Menschen weiterhin als Herrin, und er blieb ihr Anhängsel.

Innana/Ishtar war das Land, und der König wurde durch die "Heilige Hochzeit" immer wieder in seiner weltlichen Herrschaft bestätigt.

Ishtar war zunächst eine semitische Vegetations- und Mondgöttin. Später stieg sie dann in ihrer Bedeutung: "In der Gestalt der Ishtar finden sich die Göttinnen verschiedener Völker miteinander verschmolzen, von denen die sumerische Inanna die bedeutendste war. Als Göttin der Liebe und Sexualität, als Hetäre und Jungfrau, als Schützerin der Geburt, des Familienlebens, aber auch als Göttin der Verführung und Promiskuität stand Ishtar ihrem Bruder, dem Sonnengott Marduk, gegenüber. (...) Die Symboltiere der Ishtar weisen auf ihre Machtbereiche als Herrscherin der Ende und des Tages (Löwe in seiner Feuer/Sonnensymbolik) sowie der nächtlichen Unterwelt (Eule) hin. Die mit dem Uterus assoziierte Form des Eulenleibes versinnbildlicht den dualen Charakter der Göttin. Ihr Schoß gibt Fruchtbarkeit, die "Dunkle Höhle ihres Leibes" gleicht aber auch dem Grab und nimmt - wie die Erde - alles Leben zurück. Der Kopf der Göttin ist mit vier Hörnerpaaren geschmückt, den Hals ziert das symbolträchtige Halsband (Liebesband) Ihre Krallenfüße stehen fest auf den zwei Löwen: "Luft" und "Erde" verbinden sich. (...) Der Wunsch "Ishtar möge dich gesund halten" gehörte zu den gebräuchlichsten Höflichkeitsformeln, denn durch ihre Allmacht galt die Göttin auch als Heilerin und Helferin. In Fragen der Gerechtigkeit galt Ishtar als Richterin. (...)

Wenngleich sich die ungestüme und leidenschaftliche Göttin auf der ständigen Suche nach immer neuen Liebhabern befand, so galt sie doch als ewige Jungfrau und auch Mutter. Ein wesentliches Element der Verehrung der Ishtar bildete der Tammuz-Kult. Das Mysteriendrama war im ganzen mittleren Orient bis in die frühchristliche Zeit verbreitet. an diesen Riten um Leben, Sterben und Auferstehung nahm die gesamte Frauen- und Männerwelt teil. (...) In der Weiterentwicklung sumerischer Göttermythologien und alter Fruchtbarkeitskulte wird bereits das Motiv der liebenden Göttin entworfen, die sich auf die Suche nach ihrem in die Unterwelt entführten Gatten oder Sohngeliebten (der Vegetationsgottheit) befindet."

Die Gestalt der Ishtar war so beeindruckend, daß sie bald unter den verschiedensten Namen im ganzen östlichen Mittelmeerraum wiederzufinden war und selbst in den Isis-Kult einfloss: Astarte, Kybele oder gar die Aschera/ Atagartis der Kanaaniter, die in einigen Fundstücken sogar als Gefährtin des Jahwe genannt wird.

Selbst die Artemis der kleinasiatischen Griechen trug Ishtars Züge.

Weitere Göttinnen des Zweistromlandes waren:

Gula, die Ärztin, die Krankheiten heilen, aber auch verhängen konnte und die in einem Garten mit Apfelbäumen lebte

Nansche, eine Wassergöttin, die Träume und Vorzeichen brachte

Nidaba, die Schriftbringerin und Lehrmeisterin

Ereschgikal, die schreckliche, grausame Göttin der Unterwelt



Auch auf Kreta entwickelte sich eine eigenständige Kultur, in der offenbar die Muttergöttinnen und ihre Priesterinnen größere Bedeutung besaßen, aber leider ist mir zu diesem Zeitpunkt wenig darüber bekannt.



Griechen und Römer

Die Griechen kannten eine Vielzahl von kleinen Göttern, aber nur zwölf (davon fünf weiblich) erkannten sie als wirklich groß an. Sie entstanden, als sie die Kulte und Gottheiten der indogermanischen Einwanderer mit denen der Ureinwohner und den orientalischen vermischten, so dass später eine eigenständige Mythologie und ein Pantheon entstand, welches sich vor allem in einem von dem anderer Völker unterschied: Die Götter waren Spiegelbilder der Menschen, sie lebten wie diese Beziehungen und Konflikte aus, kannten Liebe, Begehren, Eifersucht und Hass, standen also nicht unbedingt über den Dingen.

Die griechischen Volksstämme waren patriarchalisch ausgerichtet, wenngleich es auch verschiedene Ausprägungen gab - von den ins Haus eingeschlossenen, gering geschätzten Athenerinnen, bis hin zu den recht selbstständigen, handeltreibenden und machtvollen Frauen Spartas und Gortyns. Dies wirkte sich auch auf das Göttinnenbild aus: "Die olympischen Göttinnen scheinen im Mythos nur sehr begrenzte Funktionen gehabt zu haben, trotz der beträchtlichen Bedeutung ihrer Kulte für die griechischen Städte. Dagegen stand die Göttern ein wesentlich breiteres Tätigkeitsfeld offen.

So übernehmen beispielsweise Zeus und Apollon die Rolle des Herrschers, des Intellektuellen, des Richters, des Kriegers, des Vaters und des Partners in homosexuellen wie heterosexuellen Liebesbeziehungen. Kein Bereich menschlicher Tätigkeit bleibt ihnen vorenthalten, Unter den Göttern ist keiner keusch, und Promiskuität - Vergewaltigung einbegriffen - hat auch bei den verheirateten Göttern keinen Anstoß erregt. Im Gegensatz dazu sind drei der

fünf olympischen Göttinnen Jungfrauen: Athene die Kriegerin, Richterin und Spenderin der Weisheit ist vermännlicht und meidet sexuelle Aktivität und Mutterschaft; Artemis ist Jägerin und Kriegerin, bleibt dabei jedoch Jungfrau Und Hestia wird gerade als alte Jungfer in Ehren gehalten. auch die beiden anderen Göttinnen schneiden nicht viel besser ab: Aphrodite beschränkt sich auf die sexuelle Liebe, die sie mit entschiedener Verantwortungslosigkeit ausübt. Hera ist Gattin, Mutter und Herrscherin, aber sie muss immer wieder den Ehebruch ihres Gatten ertragen und ihm dabei selbst treu bleiben.

Die Göttinnen sind archetypische Frauenbilder aus der männlichen Perspektive. Die Verteilung der verschiedenen begehrenswerten Qualitäten auf mehrere Frauen entspricht der patriarchalischen Gesellschaftsform. (...) Bei der Betrachtung zwischen Göttinnen und sterblichen Frauen müssen wir zwischen Mythos und Kult unterscheiden. In den Mythen sind die Göttinnen den Frauen häufig feindselig gesinnt und üben Tätigkeiten aus, die dem Erfahrungsbereich sterblicher Frauen fremd sind. Im Kult dagegen, bei der zeremoniellen Verehrung dieser Gottheiten durch Frauen also, wird den Bedürfnissen von Frauen und ihrer gesellschaftlichen Rolle Rechnung getragen. Als Schutzgöttinnen des Spinnens und Webens, der Ehe und der Niederkunft waren Athene, Hera und Artemis außerordentlich wichtig für die Frauen, diese Funktionen der Göttinnen werden dagegen im Mythos nur am Rande erwähnt."

Artemis ist die einzige der alten Göttinnen, der es gelang, in den Kreis der Hauptgötter aufzusteigen. Ihren orientalischen Wurzeln trägt sie Rechnung, indem sie als "Jungfrau" viele kurzzeitige Geliebte hatte, aber nie eine Ehe einging - mit dem Begriff war also nicht die körperliche Unversehrtheit gemeint. Erdgöttinnen wie Demeter oder Gaia spielten eher eine untergeordnete Rolle. Die erdgebundene Titanin Hekate war eher schreckenerregend, obwohl sie die Kreuzwege behütete. Aber sie war auch die Hüterin der Zauberkunst, die Herrin der Hexen und Huren, des Spuks und der Totenbeschwörung. Und nicht vergessen werden sollen noch die vielen kleinen Göttinnen der Quellen, Flüsse und der Natur...

Die Römer machten es sich einfach. Sie übernahmen das griechische Pantheon und gaben den Göttern und Göttinnen nur andere Namen: Hera wurde zu Juno, Artemis zu Minerva, Aphrodite zu Venus, Artemis zu Diana und Hestia zu Vesta. Dass in spätrömischer Zeit auch andere Kulte, wie die um Isis und Ishtar willkommen geheißen wurden, steht auf einem anderen Blatt.



In der nordischen Welt

Kein anderes Volk wird heute so verherrlicht wie die Kelten - die im Grunde keine echte Volksge-meinschaft waren, sondern nur indogermanische Stämme, die um 1000 - 800 v. Chr. nach Mittel- und Westeuropa vordrangen, denen der gleiche Sprachstamm und kulturelle Ähnlichkeiten gemeinsam waren. Durch die verschiedenen Ureinwohner entwickelten sich die keltischen Kulturen auseinander, so daß die Inselkelten später nicht mehr viel mit denen des Rheintales gemein hatten.

So vielfältig wie die Stämmen waren daher auch die Gottheiten. Es gibt drei keltische Siedlungsgebiete, in denen Göttinnen und mutterrechtliche Sozialstrukturen Bedeutung hatten: in der Provence, im Rheinland und

auf Irland. Dort finden wir die dreieinigen Muttergestalten (Matronae), die Herrinnen der Flüsse und Quellen. Die Seine etwa ist nach der Göttin Sequana benannt, der irische Shannon nach Sinann. Auch Donau, Rhein, Neckar, Main, Lahn, Ruhr und Lippe sind nach weiblichen Gottheiten benannt.

So ist ihre Zahl immens, daß an dieser Stelle nur die bedeutsamsten und interessantesten genannt werden sollen.

Andraste war eine britische Mond- und Fruchtbarkeitsgöttin, während Arduinna die waldreichen Gebiete beschützte und den, sie ehrenden Jäger ernährte.

Die Morrigan (Morrigu) kennen wir als eine der großen negativen Muttergöttinnen. Die "Kriegskrähe" und große Königin liebte die Auseinandersetzungen und den Kampf. Sie wurde auch oft mit Badh(b) und Nemain oder Macha eine dreieinige Gottheit. Badh(b) konnte sich in einen schwarzen Raben verwandeln und tat sich am Fleisch der Gefallenen gütlich.

Ihre Waffe war jedoch ihr markdurchdringender Schrei, ihr schrecklicher Anblick - und die Todesfurcht die sie damit bei ihren Gegnern verursacht. Macha erntet die Köpfe der Gefallenen, aber sie ist eigentlich nur die zur Kriegsgöttin gewordene Muttergöttin, die alle drei Aspekte des inselkeltischen Lebens verkörpert: die königlich sakrale, die kriegerische und die Fruchtbarkeit bewahrende.

Nemain hingegen versetzt wie Badh(b) durch ihren Schrei die Krieger in Raserei - egal ob Freund oder Feind- und versetzt sie in einen Blutrausch.

Scathach dagegen ist mehr die schattenhafte Lehrerin der Krieger, die auch solche Helden wie Cuchulainn ausgebildet hat.

Brigid ist die große irische Göttin überhaupt: Sie ist Dichterin, Prophetin, Schutzherrin der Ärzte, Schmiede und Handwerker, der Landwirtschaft, des Viehs und der Ernte, der Geburt; die große Heilerin und Feuerbringerin (mit einem swastikaähnlichen Sonnensymbol), aber auch Kriegsherrin. Ihr festländisches Gegenstück ist Rigani.

Cessair ist die göttliche Stammmutter aus einem Sintflutmythos, die mit 50 anderen Frauen Irland besiedelte.

Cerydwen (Kerydwen) ist die große walisische Muttergöttin, deren Züge aber auch bei Arianrhod und Rhiannon wiederzufinden sind. Rhiannon, die von den Sterblichen faszinierte Fee und Göttin verläßt ihr unterirdisches Reich, um nach einem langen Leidensweg gereift und voller Weisheit anerkannt zu werden. Arianrhod ist hingegen die Mittlerin zwischen den Welten.

Henwen, die Muttersau, eine walisische Göttin wanderte mit ihrem Hüter durch das Land, um Leben hervorzubringen - egal ob es den Menschen Wohlstand brachte wie Biene, Weizen und Gerste oder Zerstörung wie Wolf Adler und Katze.

Nantosvelta wurde auf dem Festland verehrt, eine Göttin mit Füllhorn und Raben, die als geschmückte, diademgekrönte Frau dargestellt ist.

Nehalennia, die große Muttergöttin Westhollands hatte da schon vielfältigere Aufgaben: Sie war eine Lotsin und gute Steuerfrau, der Schifffahrt sehr zugetan, eine schöne hoheitsvolle Dame im Thronsessel, die nicht nur die Reisenden sicher geleitet, sondern auch die Toten ins Totenreich. Sie bringt Wohlstand und Fülle - vor allem den Kaufleuten.

Sequana wurde nicht nur als Quellgöttin, sondern auch als große Heilerin angerufen. Man "gab die Krankheit einfach bei ihr ab, in der Hoffnung, die Gesundheit zurück zu bekommen". Es gehörte dazu, in das Wasser ihrer Quelle einzutauchen. Dargestellt wurde sie als in einem Boot mit Entenkopf stehende, hoheitsvolle Dame.

Sirona eine im Main-Mosel-Gebiet verehrte Nachtgöttin

wurde mit dem Zepter einer Himmelskönigin, aber auch Gaben der Fruchtbarkeit dargestellt, sie war für die Verbindung zur Anderswelt, aber auch für das Leben selber verantwortlich.



Die nordischen und germanischen Göttinnen zusammenzufassen, fällt mir allerdings ein wenig schwerer, weil sich gerade dort die verschiedensten Mythen miteinander verflochten und verwoben haben. Viele von ihnen gelten als Dienerinnen/Maiden der großen Göttin Frigga( Bertha, Holda, Frigg, Nerthus, Fríja), die an der Seite ihres Gatten Odin/Wotan regiert.

Da ist einmal Groa (Grua), die Göttin der Medizin (die Heilkunst war in der nordischen Mythologie immer eine Sache der Frauen), dann Gna (Liod), die Botin Friggas, die den Apfel als Sinnbild der Fruchtbarkeit überbringt, Snotra, die Bewahrerin der Tugend. Lofni die Tröstliche überwachte die Liebe der Menschen.

Idun, die "Verjüngende" war die Wächterin über die ewige Jugend, Vör wachte über die Verträge, Völva, gab den Wahrsagerinnen Einsicht in Vergangenheit und Zukunft, während Wyrd ("Schicksal") die Mutter der Nornen, der Schicksalsfrauen wurde: Skuld (die Werdende), Urd (die Gewordene) und Verdandi (die Seiende).

Freyja schließlich ist die bedeutendste nordische Göttin, die schöne aufreizende Herrin der Liebenden und Fruchtbarkeit, die Lehrerin der Magie.

Hel wurde erst spät als Göttin der Unterwelt Hel personifiziert, in die nur die an Krankheit und Schwäche gestorbenen Menschen eingehen. Die Krieger werden von den Walküren, den göttlichen Schildmaiden auf Geheiß Odins nach Walhall geholt - auch wenn die Walküren einst eher Todesdämoninnen waren, die unersättlich nach dem Blut der Krieger gierten...



In christlicher Zeit

Auch der christliche Glaube konnte die Göttinnen nicht aus dem Gedächtnis der Menschen bannen: Wenn ihnen gar nichts anderes übrig blieb, machten die Missionare die Göttinnen einfach zu Heiligen, wie das bei der irischen Brigid geschah, oder verchristlichten die Kulte (auch heute noch pilgern die Gläubigen zu heiligen Quellen). Selbst Maria, die Muttergottes stand lange Zeit in der Nachfolge von Isis und Ishtar. Erst in den letzten Jahrhunderten wurde sie die Dienerin, die treue stille Magd.

"Aus dem antiken Götterkult erhielt Maria alle bedeutenden Beinamen, die vorher Ishtar, Isis, Kybele, Demeter und Aphrodite/ Venus schmückten: Morgenstern, Meeresstern (stella maris). Gottesgebärerin, Himmelskönigin, heilige und himmlische Jungfrau. Unzählige Tempel verschiedener Göttinnen wurden in christliche Heiligtümer umgewandelt und Maria geweiht.

Das Bild der thronenden Madonna mit dem Jesuskind entwickelte sich aus dem Isis-Kult mit dem Horusknaben. (...) Die astralen Vorbilder, vor allem die der Ishtar und Isis mit Sternenmantel, verbanden sich mit der Gestalt der "silbernen, mondgleichen" Maria." Auch wenn Kirchenlehrer deutliche Unterschiede zwischen Maria und den alten Göttinnen herausstellten - sie ordnete sich immer den Männern unter und konnte nur bitten, so kümmerte das das Volk nicht:

"Man vertraute ihrer himmlischen Fürsorge, die Geheimnisse des Lebens, die Fruchtbarkeit der Frauen und Felder, die Hilfe bei der Geburt und Beistand beim Sterben an. (...) Sie ist Hüterin des heiligen Hains, des himmlischen Paradiesgartens, Herrin der Tiere, Pflanzen und Früchte, Rosenkönigin. Sie ist Trägerin des kosmischen Gürtels und des heiligen Schleiers. Unter ihren Schutzmantel drängen sich die Gläubigen wie vorher die Hilfesuchenden unter den roten Mantel der Venus."

Und wenn man sich die heutige Marienverehrung in manchen Gebieten der Erde anschaut wird klar: Die große Göttin der Urzeit hat also bis heute überdauert, auch wenn sie in ihrer Bedeutung viel verloren hat. Doch niemand hat sie auslöschen können.



Außerhalb von Europa

Europa ist nur ein kleiner Teil der Erde - und es werden in anderen Gebieten heute noch unzählige Göttinnen verehrt, wie die japanische Sonnengöttin Amaterasu. Aber diese auch noch ausführlich aufzuführen würde vermutlich den Rahmen dieses Artikels sprengen - und zu einigen Kulturen habe ich leider nur wenig oder gar kein Material vorliegen, daher werde ich mich nur auf einige Aspekte der indischen Götterwelten beschränken. Die polytheistisch vedische Religion entwickelte sich, als indogermanische Nomadenstämme in das Industal vordrangen und sich mit den dort ansässigen Drawiden verbanden. Aditi, die "heilige Kuh", geflügelt und reich geschmückt wurde zur Schöpfergöttin. Schakti (auch "Devi"= Göttin genannt) nun ist die Wurzel allen Daseins, die weibliche Lebenskraft, ohne deren Wirken die männlichen Götter nichts erreichen.

Sarasvati (Ma Gang, Yomina) wurde als vierarmige junge Frau dargestellt. Sie trägt nicht nur ein Wassergefäß, sondern auch eine Uma (Musikinstrument) und ein Buch, was sie als Schutzherrin der Gelehrsamkeit, Sprache und Poesie, als Schriftbringerin auszeichnet. Lakschmi bringt hingegen Glück, Schönheit, Fülle, Harmonie und Süße, ist eine sehr erotische Göttin, während Sati die perfekte, gehorchende Gattin ist, die ihrem Mann sogar in den Tod folgt (nicht umsonst werden die Witwen, die lebend mit ihren Männern verbrannt werden auch "Sati" genannt).

Durga, die "Unerreichbare", "Unfassbare", das "unauslotbare Mysterium" ist die Allmutter, die Große Göttin, die auch in ihren Erscheinungsformen als Sarasvati, Lakschmi und Kali auftritt. Gerade Kali ist als der Inbegriff der bösartigen, vernichtenden Todesgöttin bekannt, als der Zorn Durgas. Nackt, hässlich, mit vorstehenden Reißzähnen, rötlichen Augen und gesträubten Haaren, zerreißt sie ihre Opfer mit den Fingernägeln. In ihrer Gestalt als Tschamunda trägt sie in ihren 2-12 Händen unter anderem Speer, Schwert, Keule, Schlinge und eine Hirnschale, um ihren Hals hängen abgeschlagene Köpfe.

Aber Kali ist auch Lebensspenderin. Ihren Zorn richtet sie weniger gegen die Menschen als gegen Dämonen und Widergötter, die sie mit aller Wut und Grausamkeit in ihrem Todestanz bekämpft. Menschen können sie um Hilfe bitten, die in ihnen innewohnenden negativen Kräfte zu bekämpfen...

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So zieht sich also ein Leitmotiv durch die Zeiten und Kulturen: Göttinnen sind seit Urzeiten immer mit dem Zyklus von Leben und Sterben verbunden, mit der Fruchtbarkeit und der Erde, eher Beschützerinnen eines Ortes und Volkes - selbst wenn sie kriegerische Wurzeln haben. Sie spiegeln, gerade in den älteren Kulturen, die Lebenssituationen und Lebenswege der Frauen wieder und waren trotzdem in der jeweiligen Kultur gleichermaßen anerkannt und wichtig - eine Tatsache, die für den heutigen Menschen nicht immer leicht zu begreifen ist.

Viele der Archetypen des Weiblichen haben sich von leider von den Göttinnen auf uns übertragen - nicht zuletzt aus der griechisch-römischen Epoche: wer wie Athene in der Berufswelt stehen will, muß allem Weiblichen entsagen, wer sexuell aktiv ist erscheint unersättlich und flatterhaft wie Aphrodite und so fort.

So gilt es, den Mantel des oberflächlichen Wissens abzulegen und die Göttinnen neu zu erkunden - die Dinge zu erfahren, auf die wir stolz sein können!



Quellen:
Joe J Heidecker: Die Schwestern der Venus - Die Frau in Mythen und Religionen (Heyne, 1994)
Clio Whittaker: Die Mythologie des fernen Ostens (Xenos Verlag, 1991)
Moira Caldecott: Frauen in keltischen Mythen (Neue Erde, 1996)
David Bellingham: Vergangen-Versunken - Griechische Mythologie (Xenos Verlag, 1990)
Veronica Ions: Die Götter und Mythen Ägyptens (Kaiser Verlag, 1988)
Sylvia und Paul F. Botheroyd: Lexikon der keltischen Mythologie (Diederichs, 1992)
Hans Biedermann: Die Großen Mütter (Heyne, 1989)
John Grant: Die Mythologie der Wikinger (Merit Verlag, 1990)
Jutta Ströter-Bender: Liebesgöttinnen (Dumont, 1994)
Sarah B. Pomeroy: Frauenleben im klassischen Altertum (Kröner Verlag, 1985)
Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (Kröner Verlag, 1995)


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