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EINE SACHE DER GERECHTIGKEIT?

von Thomas Kager



Kommissar Reithofer überflog flüchtig den vorläufigen Untersuchungsbefund, den ihm Dr. Reitmach soeben gegeben hatte. Er verstand nur einen Bruchteil von dem was darin stand, aber zumindest mit den Begriffen "Verfolgungswahn", "psychisch instabil" und "latent suizidgefährdet" konnte er etwas anfangen.

Er schnaubte ungehalten. Der Kerl gehörte auf die Psychiatrie, nicht ins Gefängnis.

Mit einer entschlossenen Bewegung schloss er die Mappe und warf einen schnellen Blick zu dem Polizisten, der an der Wand des kleinen Zimmers stand. Einerseits als Zeuge, dass die Rechte des Festgenommenen nicht verletzt wurden, andererseits zu seinem Schutz, falls es doch zu unerwarteten handgreiflichen Auseinandersetzungen kommen sollte.

Aber von dem Häufchen Elend, das da in dem Sessel vor Kommissar Reithofer zusammengesunken war, schien keine Gefahr auszugehen. Mit dem angetragenen Anzug, dem ungewaschenen Hemd, den zerzausten Haaren und dem tagealten ungepflegten Bart, machte er auf ihn eher einen bemitleidenswerten als bedrohlichen Eindruck. Kaum zu glauben, daß dieser Mann vor Kurzem noch zu einem der angesehensten, tadellosesten und reichsten Männern der Stadt gezählt wurde.

Jetzt liefen mehrere Untersuchungen wegen Steuerhinterziehung, Veruntreuung und Betrug gegen ihn, die Scheidung war so gut wie ausgesprochen und gestern war er wegen Trunkenheit am Steuer und Fahren ohne gültiger Lenkerberechtigung vorläufig festgenommen worden.

"Herr Ohmann?" begann Kommissar Reithofer, doch der Mann reagiert nicht. Erst als der Kommissar seinen Namen wiederholte und etwas Schärfe in seine Stimme legte, hob er langsam den Kopf und richtete die müden und wässrigen Augen auf seinen Gegenüber.

"Wissen sie, wo sie sind?" wollte Kommissar Reithofer wissen. Zögernd nickte Ohmann.

"Ich möchte ihnen ein paar Fragen stellen", fuhr Kommissar Reithofer fort und wiederum nickte Ohmann schleppend und abwesend.

"Das konnte ja heiter werden", dachte sich der Kommissar innerlich seufzend.

Seine Befürchtungen erfüllte sich voll uns ganz.

Teilnahmslos saß Ohmann da und ließ die Fragen über sich ergehen. Wenn er mal antwortete, waren seine Sätze nur bruchstückhaft und zusammenhangslos.

Schließlich gab Kommissar Reithofer es auf. Er lehnte sich zurück und musterte Ohmann eingehend, der den Blick wieder kraftlos zu Boden sinken hatte lassen.

"Wie konnte jemand wie sie, jemand, der alles in seinem Leben erreicht hatte, nur so tief fallen?"

Kommissar Reithofer hatte diese Frage mehr zu sich selbst gestellt und erwartete im Grunde genommen nicht, daß Ohmann darauf antwortete. Umso überraschter war er, als er es trotzdem tat.

"Nennen sie es doch eine ausgleichende Gerechtigkeit", sagte er mit schwacher Stimme.

Kommissar Reithofer brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er da gerade gehört hatte. Er setzte sich wieder aufrechter hin.

"Sie meinen also, daß sie das alles verdient hätten?" fragte er ungläubig.

Ohmann nickte nur.

"Wie darf ich das verstehen?"

Ohmanns Körperhaltung änderte sich unvermittelt. Er straffte sich, setze sich aufrechter hin und blickte Kommissar Reithofer direkt an. Seine Blick war wieder klar und hatte einen Fokus. Auch seine Stimme nahm eine festere Ausdruck an. Sie wurde klarer und lauter.

"Wissen sie, früher war alles anders. Ich hatte nie an höhere Macht, ausgleichende Gerechtigkeit, einen umfassenden Plan, der alles lenkt oder sonstigen Unfug geglaubt. Für mich zählte nur das Gewinnen. Macht, Geld, Luxus, das war es, wofür ich lebte. Andere Menschen waren mir egal, lästige Konkurrenten, die es galt auszuschalten oder einfach nur Mittel zum Zweck, um meine Ziele zu erreichen. Ich benutzte sie, solange sie mir nützlich waren oder ich Spaß an ihnen hatte. Danach warf ich sie weg. Was aus ihnen wurde, interessierte mich nicht weiter."

"Aber das hat sich nun geändert", vermutete Kommissar Reithofer, der aufmerksam zuhörte.

"Ja, das stimmt", nickte Ohmann.

"Und warum? Oder - wegen wem?"

Ohmanns Gemütslage schwang wiederum ohne vorherige Anzeichen um. Seine Stimme nahm einen sanften und träumerischen Tonfall an. Er legte den Kopf leicht auf die Seite und blickte träumerisch und in Erinnerung schwelgend aus dem Fenster.

"Wegen Maria."

"Maria?" fragte Kommissar Reithofer, der den Namen in dem Bericht des Psychiaters zwar aufgeschnappt, aber in den ganzen Medizinkauderwelsch nicht verstanden hatte, wie er in das Bild paßte.

"Ja, Maria Winkler. Ein wirklich süßes Mädchen.

Sie glaubte jedes Wort, das ich ihr vorgelogen hatte. Von meiner unglücklichen und zerrütteten Ehe, die bald geschieden werden sollte. Meiner Sehnsucht nach Geborgenheit und Verständnis. Den gemeinsamen Zukunftsplänen, die ich vorgab, mit ihr zu schmieden.

Sie freute sich immer wenn ich sie besuchte und stellte ihr ganzes Leben nur auf mich ein. Jedes noch so kleine Geschenk löste in ihr höchstes Entzücken aus und ein gespieltes Lächeln von mir trug sie in den siebten Himmel.

Ja, sie war ein sehr treuherziges und sehr liebevolles Mädchen."

Ein etwas wehmütiger Ausdruck hatte sich auf Ohmanns Gesicht niedergelassen.

"Und was ist dann passiert?" fragte Kommissar Reithofer, nach einer langen Minute in denen Ohmann seinen Erinnerungen hinterher hing.

"Ich habe sie verlassen."

Ohmann sagte das plötzlich in einem Tonfall und Beiläufigkeit, als ob er erklärte, er hätte eine alte Zeitung weggeworfen. Seine gesamte Körperhaltung änderte sich erneut. War straffer, aufrechter, härter. Seine Kopfhaltung konnte man fast schon als überheblich bezeichnen, wie er auf Kommissar Reithofer herabblickte. Jetzt war er der selbstgefällige Egoist.

"Eigentlich hat sie mir nie viel bedeutet. Gewiss, ihre kindliche Naivität hatte mich eine Zeitlang angezogen und ihr sinnlicher Körper war mehr als erregend gewesen. Und im Bett war sie eine Wucht, aber auf die Dauer hat es einfach nicht gereicht. Ich hatte irgendwann einfach das Interesse verloren.

Ihre Einfalt und Anhänglichkeit war schon wirklich lästig geworden. Sie engte mich zu sehr ein. Forderte zu viel."

Kommissar Reithofer war von der Kaltschnäuzigkeit mit der Ohmann das alles sagte mehr als erstaunt.

"Sie haben also die Beziehung, die dieser Maria Winkler so viel bedeutet hatte, einfach abgebrochen?"

"Natürlich. Sie machte mir keinen Spaß mehr. Außerdem hatte ich eine Neue gefunden. Eine, die mich mehr reizte."

"Und was hat nun ihre ehemalige Geliebte mit ihrer derzeitiger Lage zu tun?"

"Sie hat sie verursacht", erklärte Ohmann mit einem Schulterzucken.

"Sie meinen, sie hat die Affäre zwischen ihnen und ihr ans Licht gebracht?" fragte Kommissar Reithofer, der langsam zu begreifen schien.

"Ja! Das hat Maria getan!" rief Ohmann plötzlich wütend. Sein Gesicht färbte sich dunkel und die Hände ballten sich zu festen Fäusten. Der Polizist an der Wand änderte seine Position etwas, bereit jederzeit einzugreifen und auch Kommissar Ohmann spannte sich ein wenig und wappnete sich gegen einen eventuellen Angriff.

"Ihre ehemalige Geliebte hat sich also an ihnen gerächt und ihre - Unregelmäßigkeiten gemeldet."

"Oh, nein! Diese kleine Schlampe hat noch viel mehr getan. Sie hat mich zugrunde gerichtet. Alles aufgedeckt. Jede Kleinigkeit, die ich in den letzen Jahren zu meinen Gunsten hingebogen hatte. Jede kleine Transaktion, die ich unbefugt durchgeführt hatte. Jedes Verhältnis, das ich mir geleistet hatte. Auch wenn es nur für eine Nacht war.

Sie hat mir mein Geld, meine Macht und meinen Luxus genommen."

Wütend schlug Ohmann mit der Faust auf den Tisch. Seine Augen blitzten vor Wut und sein Gesicht war eine einzige Grimasse des Zorns.

Kommissar Reithofer schluckte etwas trocken.

"Haben sie dafür Beweise?" fragte er vorsichtig und fast schlagartig veränderte sich Ohmanns Gemütslage erneut. Die Wut und Erregung war wie weggewischt und machten der Zuvorkommenheit und Untergebenheit eines um Aufmerksamkeit heischenden Kriechers Platz.

"Aber natürlich!" erklärte Ohmann eifrig und ein etwas irres Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. An seinen Fingern zählte er die einzelnen Punke auf.

"Der anonyme Brief an die Finanzbehörde, der die Untersuchung wegen Steuerhinterziehung ins Rollen gebracht hatte, war mit ihrer Handschrift geschrieben.

Die Berichte in der Klatschpresse über meine unzähligen Liebschaften, wegen denen mich meine Frau mitsamt den Kindern verlassen hatte, waren mit dem Kurzzeichen MW versehen.

Das Telefonat, das auf dem Tonband war, das dem Firmenvorstand zugespielt wurde und das die Veruntreuung von Firmengelder bewies, hatte ich von ihrer Wohnung aus geführt.

Der Wagen, der meinen Porsche gerammt und einen Totalschaden verursacht hatte, war der, den ich ihr geschenkt hatte."

Ohmanns Gesicht verlor schnell an Form. Seine Mundwinkel wurden schlaff und sanken herab. Der Blick verlor an Intensität und Schärfe

"Das alles, das alles hat sie gemacht.

Sie hat mir meine Rücksichtslosigkeit, meinen Egoismus und Kaltherzigkeit in vollem Umfang vergolten."

Die Energie und Erregung, die ihn erfüllt hatte, war genauso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Ohmann sank in seinem Sessel zusammen und seine Stimme schwand zu einem Flüstern ab.

"Sie sehen also, Maria hatte ganze Arbeit geleistet. Ich hatte ihr Leben zerstört. Nun zerstört sie meines."

Ohmann schien die Kraft komplett verlassen zu haben. Genauso schlaff und apathisch wie am Beginn ihres Gespräches saß er in dem Sessel und starrte zu Boden.

Mehrere Minuten herrschte ein bedrückendes Schweigen, in der Kommissar Reithofer über das Gesagte nachdachte.

Schließlich stellte er noch eine Frage:

"Kann diese Maria Winkler ihre Angaben in irgendeiner Form bestätigen?"

Ohmann hob langsam den Kopf, blickte Kommissar Reithofer in die Augen und ein breites Grinsen trat auf sein Gesicht.

"Nein, das kann sie nicht. Als ich sie voriges Jahr verlassen habe, hat sie sich erhängt."


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