STORIES


JANDUN

Folge 2: TOD IN ST. PAUL

von Susanne Stahr



"Daschir, nur einen Drink!", bettelte Keegan. Seine Hände zitterten und sein kariertes Hemd klebte schweißnass auf seiner Haut.

"Schwächling!", knurrte der Jandun in seinem Kopf. Ein grobes Reißen ging durch den mageren Körper. Dann hatte Daschir die Kontrolle. "Was hast du deinem Körper nur angetan!", schimpfte er. "Nicht einmal ich kann das Zittern unterdrücken."

"Ich wüsste, was mir guttut", grollte es aus Keegans dunkler Ecke.

Der Jandun ließ ihn nicht mehr als 200 Meilen am Tag fahren. Regelmäßiges Essen und gymnastische Übungen nahmen einen großen Teil der Tageszeit ein. Auch für ausreichenden Schlaf sorgte der fremde Magier. Wenn sich Keegan dagegen wehrte, wurde er in eine dunkle Ecke seines Bewusstseins verbannt. Seit Tagen ging das schon so. Daschir hielt seinen Wirt eisern im Griff.

Jetzt waren sie auf einem Parkplatz, knapp vor der Stadtgrenze von St. Paul. Daschir zwang den zitternden Körper zur Ruhe. Dann sandte er einen telepathischen Ruf aus. Er wusste, dass in St. Paul und dem angrenzenden Minneapolis einige Vertreter seines Volkes wohnten. Geduldig wartete er. Doch auch nach Stunden erreichte ihn keine Antwort. War er noch außer Reichweite der Jandun? War sein Kontaktmann krank? Besorgt zog er sich zurück.

"Wenn ich nicht bald einen Drink bekomme, trinke ich die Scheibenwaschanlage leer", drohte Keegan.

"Fahr weiter", überging Daschir die Drohung.

Zähneknirschend startete Keegan den Wagen. Die Strahlen der untergehenden Sonne schienen schräg durch das Seitenfenster und blendeten ihn. Vor ihm rückte die Skyline von St. Paul langsam näher und begann sich in einzelne Häuser aufzulösen. Keegan konnte schon den Mississippi riechen und bald kam auch die neue Brücke in Sicht. In einer Großstadt war Keegan noch nie gewesen. Dieses vor ihm aufragende Häusermeer der Doppelstadt wirkte in seiner Masse beängstigend auf ihn. Jedes der vielen Fenster in den turmartigen Gebäuden schien ein Auge zu sein, das ihn beobachtete. Schon auf der Brücke drosselte er das Tempo des Wagens. Als er in den Schatten der Häuserschluchten eintauchte, fühlte er sich klein und verletzlich. Am liebsten hätte er St. Paul auf dem schnellsten Weg wieder verlassen.

"Ruhig, Kleiner", meldete sich Daschir. "Ich bin ja bei dir." Der Sarkasmus in der Gedankenstimme war unüberhörbar.

Keegan biss die Zähne zusammen. Ein Werbeschild für Wodka brachte ihm seinen Durst in Erinnerung. "Ich kriege meinen Drink", knirschte er. "Du wirst mich nicht hindern."

Sofort fühlte er, wie sich sanfte Fesseln um seinen Geist legten. Im Laufe der Zeit hatte der Jandun seine Kontrollmöglichkeiten verfeinert. Doch auch Keegan hatte dazugelernt. Wenn nur nicht dieser Durst gewesen wäre! Aber da ließ ihm Daschir keine Chance.

"Wohin soll ich fahren?", fragte er nach. Für ihn sahen alle Straßen gleich aus.

"Einen Moment." Daschir sandte wieder seinen stillen Ruf aus. Einer musste ihn doch hören! Sie konnten doch nicht alle gleichzeitig verreist sein! Angestrengt lauschte er in den Äther. Nichts! Absolute Stille.

"Wir müssen zum Historischen Zentrum", entschied er kurz entschlossen. Auf das Wissen eines längst verstorbenen Jandun zurückgreifend lotste er Keegan durch den Straßendschungel. Endlich lag das weitläufige Gebäude des Minnesota History Center vor ihnen.

"Da hat sich ein bescheuerter Architekt ausgetobt", flüsterte Daschirs Stimme in Keegans Kopf. "Sieh dir nur diesen runden Turm im Zentrum an! Und Dort! Dieser quadratische Turm an der Ecke! Mit dieser komischen roten Dachkonstruktion sieht er aus wie eine Medizinflasche. Und diese spiegelnden Fensterfronten sehen wie hingespuckt aus!"

Keegan hatte keine Ahnung von Architektur. Er fand das Bauwerk einfach bedrückend. Am liebsten hätte er sich in dem nahen Park zwischen den Eichen und Kiefern versteckt. Seine Bildung war äußerst lückenhaft und seit er mit 16 die Schule verlassen hatte, war nie mehr ein Buch in seine Hände geraten. Statt dessen hatte er sich in den verschiedensten Jobs versucht. In diesem Gewusel von Studenten, Professoren und Museumsangestellten fühlte er sich hoffnungslos unterlegen. Er meinte, jeder müsse ihm ansehen, dass er nicht hierher gehörte, als hätte er ein Schild auf der Brust 'Ungebildeter Eindringling'.

"Nun mach dir nicht in die Hosen", beruhigte ihn Daschir. "Lass mich übernehmen."

Diesmal machte Keegan dem Jandun freiwillig Platz. Der strich sich mit einem Lächeln über das lange, braune Haar und trat auf einen Museumsaufseher zu. "Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Mr. Dale Parker finde?"

Der Mann musterte die abgetragene Kleidung seines Gegenübers und stufte ihn offenbar als einen der Studenten ein. "Sie haben wohl die letzten Tage verschlafen! Mr. Parker hat sich vorgestern krank gemeldet", meinte er herablassend.

Keegan konnte den Ärger des Jandun über diese Behandlung spüren und freute sich diebisch. "Wo wohnt Mr. Parker?", forschte Daschir unbeirrt weiter. "Ich habe eine wichtige Nachricht von seinen Verwandten aus South Dakota für ihn."

"South Dakota?" Verdutzt runzelte der Aufseher die Stirn. Dann streckte er einen Arm aus. "Gehen Sie zu Mrs. Talbot ins Büro. Sie hat die Personalakten."

Mit einem dankbaren Nicken machte sich Daschir auf den Weg. Tiefe Sorge erfüllte ihn. Hier stimmte etwas nicht. Mrs. Talbot musste erst einmal magisch beeinflusst werden. Dann rückte sie mit einer Adresse heraus. Verärgert belegte sie der Jandun mit einem kurzfristigen Juckreiz.

"Wo müssen wir jetzt hin?", fragte Keegan mehr aus Langeweile.

"In die Summit Street. Das ist nicht weit."

"Können wir nicht vorher etwas essen? Ich hab Hunger." Irgendwie musste er doch zu seinem Drink kommen.

"Nachher", entschied Daschir eisern und fuhr die University Avenue hinunter.

Wenig später standen sie vor einer Wohnungstür im vierten Stock eines sechsstöckigen Wohnblocks. 'Dale Parker' stand auf dem Namensschild. Daschir hatte den Wachmann in der Eingangshalle magisch eingeschläfert um an ihm vorbei zu kommen. Gleichzeitig löste er eine Fehlfunktion in den Kameras aus.

"Du bist der perfekte Einbrecher", wurde er dafür von Keegan bewundert. "Warum besuchen wir nicht mal eine Bank?"

"Die Jandun haben es nicht nötig zu stehlen", antwortete Daschir kurz und konzentrierte sich auf das Türschloss.

Tatsächlich hatten sie auf ihrer Fahrt durch South Dakota und Minnesota keine Geldsorgen gehabt. Farels Kreditkarte hatte sie mit allem versorgt, was sie brauchten. Zu Keegans Ärger ging Daschir mit der Karte sehr sparsam um, obwohl er behauptete, das Konto wäre unerschöpflich. Warum war der Jandun nur so knauserig?

Ein Schnappen unterbrach Keegans Gedanken. Langsam schwang die Tür auf und gab den Blick auf eine grauenhafte Szene frei. Schon in der Tür zwischen dem Vorzimmer und dem Wohnraum lag die grässlich verstümmelte Leiche eines alten Mannes. Neben einem umgestürzten Couchtisch fand er zwei kleine Kinder mit durchschnittenen Kehlen. Eine junge Frau lag mit ausgebreiteten Armen über ihnen als wollte sie sie noch im Tod schützen. Aus ihrem Rücken ragte ein breites Buschmesser. Der süßliche Geruch nach Blut und Verwesung hing schwer in der abgestandenen Luft. Sein Magen bäumte sich auf während sich sein Herz zusammenkrampfte. Im Schlafzimmer fand er eine Leiche mit gespaltenem Kopf. Es war Dale Parker. Trauer und Entsetzen ließ seinen ganzen Körper erbeben. Eine ganze Familie war brutal abgeschlachtet worden. Die Wut über den Verlust unschätzbaren Wissens wurde noch vom Schmerz über den Verlust seiner Freunde übertroffen. Auch Keegan empfand Grauen. Doch bei ihm kam noch eine namenlose Angst dazu. Diese Menschen, oder besser gesagt, diese Jandun, waren schon seit Tagen tot. Das Blut war getrocknet, die Körper kalt und steif. Er musste schleunigst verschwinden. Überrascht fühlte er wie sich Daschir zurückzog und ihm die Kontrolle überließ.

"Heh, Mann! Das kannst du nicht machen!", rief er in Panik laut aus. "Bring mich hier raus!" Doch der Jandun antwortete nicht. Tausend Gedanken jagten durch Keegans Kopf. Welcher Irre hatte hier gewütet? Wie sollte er an dem Wachmann vorbei kommen? Hatte ihn jemand gesehen? Keegans Magen schien auf den Kehlkopf zu drücken. Mit fahrigen Bewegungen öffnete er eine Tür. Die Küche. Noch eine Leiche! Diesmal eine Frau in mittleren Jahren. Ihr Brustkorb war von einem gewaltigen Hieb der Breite nach fast durchgehackt. Und die riesige Axt steckte noch in der Wunde. Würgend riss Keegan eine andere Tür auf. Endlich! Das Badezimmer. Unter Krämpfen erbrach er seine letzte Mahlzeit. Tränen liefen über seine Wangen und seine Nase tropfte. Als er nur noch Schleim herauswürgen konnte, ließen die Krämpfe nach. Zitternd drehte er den Wasserhahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es half nur wenig.

"Daschir!", rief er lautlos. "Hilf mir!" Doch der Jandun hatte sich abgekapselt und gab keine Antwort. "Ich brauche dich. Jetzt!", drängte er in seiner Aufregung laut. "Du bist immer nur da, um mich zu unterdrücken. Wenn's haarig wird, lässt du mich im Stich! Was soll ich nur tun?" Schluchzend ging er zurück ins Wohnzimmer. Er musste verschwinden, und das möglichst schnell. Sein Blick fiel auf eine kleine Anrichte. Auf einem silbernen Tablett stand eine halbvolle Kristallkaraffe. Ein Drink! Das war es, was er jetzt brauchte. Müde kauerte er sich neben der Anrichte auf den Boden, setzte gierig die kostbare Flasche an die Lippen und rümpfte die Nase. Cognac. Nicht sein Geschmack. Aber es würde helfen. In großen Schlucken sog er die goldbraune Flüssigkeit in sich hinein. Ein angenehmes Gefühl der Wärme breitete sich in seinem Bauch aus und beruhigte seinen malträtierten Magen, seine aufgekratzten Nerven. Ja, das tat gut. Er brauchte mehr. Wieder nahm er einen großen Schluck. Wie aus weiter Ferne vernahm er Daschirs Entsetzensschrei. Doch ein weiterer Schluck Cognac schwemmte ihn weg. Keegan begann sich besser zu fühlen. Die Angst und das Grauen verließen ihn. Die schrecklich entstellten Leichen wurden für ihn bedeutungslos. Wichtig war nur die Flasche. Ängstlich drückte er sie an sich. Sie war fast leer. Noch ein kräftiger Schluck. Dann sank sein Kopf auf die Brust.



Hämmernde Kopfschmerzen und eine Zunge, die wie ein gestrandeter Wal in seinem trockenen Mund lag, weckten Keegan. Nie wieder Cognac, schwor er sich. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt weit. Glatte, graue Wände waren im Halbdunkel zu erkennen. Nur ein kleines Fenster zeichnete ein Schachbrettmuster von Licht auf den nackten Betonfußboden. Wo war er? Eine harte Pritsche drückte von unten gegen seinen Rücken und die dünne Decke konnte sein Frösteln nicht verhindern. Langsam drehte er den Kopf zur Seite und sah massive Gitterstäbe. Verdammt, er war im Gefängnis. Nichts Neues für Keegan. Er war schon oft in einer Ausnüchterungszelle erwacht. Bald würde er wieder frei sein und ...

Mit grausamer Plötzlichkeit kam die Erinnerung an die massakrierten Jandun. Würde man ihn für den Mörder halten?

"Daschir! Hol mich hier raus!", dachte er angestrengt.

"Ja, jetzt brauchst du mich, elende Schnapsdrossel! Ich kann absolut nichts tun. Du hast meine Magie lahmgelegt."

"Aber ich bin doch schon wieder nüchtern", wandte Keegan ein.

"Hast du eine Ahnung wieviel Restalkohol noch in deinem Blut kreist? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Dich einfach sinnlos zu besaufen!"

So wütend hatte Keegan den Jandun noch nie erlebt. Betroffen schwieg er. Er musste endlich mit dem Trinken aufhören. Nie wieder Alkohol, wenn er hier heil herauskam. Das gelobte er feierlich.

"Ich nehm dich beim Wort!", knirschte es in seinem Kopf wütend.

Schwere Schritte näherten sich seiner Zelle. Ein massiger Polizist in Uniform, begleitet von einem drahtigen Beamten in Zivil erschien.

"Schließen Sie auf! Er ist endlich wach", befahl Letzterer.

Dann wurde Keegan in einen kahlen Verhörraum geführt. Es gab nur einen Tisch mit eingebautem Aufnahmegerät und zwei Stühle. Kraftlos ließ sich Keegan auf einen davon sinken. Das Zimmer tanzte um ihn herum und kam nur langsam zur Ruhe.

Stahlgraue Augen über einer schmalen Nase und einem Mund wie ein Bindestrich blickten kalt in seine braunen. "Ich bin Agent Sparks vom FBI. Nun erzählen Sie mir mal, was Sie in Mr. Parkers Apartment wollten." Eine schlanke Hand schaltete auf Aufnahme.

FBI?, schoss es Keegan durch den Kopf. Warum interessierte sich das FBI für den Massenmord? "Ich war es nicht!", stieß er hervor.

"Das wissen wir. Sie waren schon zwei Tage lang tot. Die Frage ist nur, wie kamen Sie hinein und was wollten Sie dort? Und erzählen Sie mir nicht, Sie hätten es nur auf den Cognac abgesehen gehabt."

"Hilf mir, Daschir!", bat Keegan stumm und übergab dem Jandun die Kontrolle. "Ich habe sie gefunden", begann der Magier leise. "Es war entsetzlich. Nicht einmal die Kinder haben sie verschont."

"Beginnen Sie doch am Anfang, Mr. Mosley. Nach ihren Papieren kommen Sie aus South Dakota. Als Ihr Wohnort wird Egdemont ausgewiesen. Was führt sie nach St. Paul?"

"Ein Bekannter bat mich, von Mr. Parker eine Diskette abzuholen."

"Warum schickte er sie nicht mit der Post oder übers Internet?" Die Frage kam wie ein Peitschenhieb.

"Das war ihm zu unsicher. Trauen Sie der Post?"

Der Beamte ging auf die Frage nicht ein. "Wie heißt ihr Bekannter?", fragte er statt dessen.

"Frank Smith", antwortete Daschir ruhig und Keegan erkannte, dass dies der Deckname Farels war.

"Ha-ha-ha!", lachte Sparks freudlos, wobei seine Augen sein Gegenüber eiskalt maßen. "Hieß er nicht vielleicht doch Jones?"

Daschir seufzte. Dann ratterte er eine Reihe von Ziffern herunter. "Unter dieser Nummer können Sie ihn jederzeit erreichen."

Im nächsten Moment hatte Sparks das Band angehalten und zurückgespult. Bedächtig nahm er sein Mobiltelefon zur Hand und wählte die Nummer. "Hallo, Mr. Smith? - Ja, hier spricht Agent Sparks vom FBI. Wir überprüfen hier einen Keegan Mosley. Kennen Sie ihn? - Interessant. - Gern." Damit übergab er Daschir das Handy. "Er will mit Ihnen sprechen."

"Daschir? Bist du das?", drang es aus dem Gerät.

"Ja, Frank. Ich bin hier auf einer Polizeistation in St. Paul." Seine Stimme stockte. "Etwas Entsetzliches ist passiert. Die ganze Parkerfamilie ist .. tot, .. ermordet."

Ein Aufschrei drang schmerzhaft in Daschirs Ohr. "Ermordet?!"

"Ja. Ich kann gar nicht sagen ...." Erneut überschwemmten ihn Trauer und Entsetzen.

"Daschir!", drang es aus dem Lautsprecher. "Wie ist das passiert? Daschir! Bist du noch da?"

"Ich weiß nichts. Als ich in die Wohnung kam, war .... war ..." Jetzt versagte ihm die Stimme vollends und er gab das Handy zurück.

"Vielen Dank, Mr. Smith. Falls wir noch Fragen an Sie haben, hören Sie von uns", sagte Sparks und klappte das Handy zusammen. Dann verließ er für kurze Zeit den Raum um mit einem Glas Wasser wieder zu erscheinen.

Daschir stürzte sich wie ein Verdurstender darauf. "Kannst du nicht etwas zaubern, dass er uns gehen lässt?", meldete sich Keegan. Der FBI-Mann hatte ihn zwar nicht beschuldigt, dennoch hatte er Angst.

"Nein, ich kann nicht!", gab Daschir giftig zurück. "Zuerst muss der Alkohol abgebaut werden. Und bei der Menge, die du getrunken hast, wird das noch eine Weile dauern."

"Erzählen Sie mir, wie Sie in das Haus gelangen konnten." Sparks lehnte sich gemütlich zurück und hob aufmunternd die Hand. "Der Wachmann hat Sie nicht gesehen und auch auf den Kameras sind Sie nicht drauf."

Keegan fühlte Daschirs Ärger wie eine Ohrfeige. "Jetzt müsste ich zaubern können und kann nicht!", zischte er in Keegans Kopf. Laut sagte er: "Der Wachmann hat geschlafen als ich das Haus betrat. Und ich sah keine Veranlassung ihn zu wecken. Und was mit den Kameras los war, müssen Sie einen Techniker fragen."

"Hm, hm." Mehr gab der FBI-Mann nicht von sich.

"Bin ich verhaftet?", fragte Daschir ungeduldig.

"Oh nein! Sie können jederzeit gehen. Aber bitte verlassen Sie nicht die Stadt. Vielleicht brauchen wir Sie noch."



Keegan versuchte das Polizeigebäude in seinem Rücken zu ignorieren. Sein Kopf dröhnte immer noch. Unschlüssig spielten seine Finger mit dem Autoschlüssel. Eine misslaunige Polizistin hatte ihm einen Becher schalen Kaffee und zwei angetrocknete Schinkensandwiches gegeben. Auf Daschirs Geheiß hatte er das Zeug hinuntergewürgt. Jetzt rollte es in seinem angegriffenen Magen hin und her.

"Wir brauchen ein Zimmer und dann musst du etwas Ordentliches essen", wies ihn der Jandun an.

Ein Rülpser brachte ihm den Geschmack nach Schinken und Magensäure in den Mund. "Ich hab keinen Hunger", gab er zurück und stieg in den Wagen. "Wohin?"

"Fahr die Straße hinunter", begann Daschir und lotste Keegan durch den Abendverkehr zum Rice Park. Dort übernahm er wieder die Kontrolle. Als Erstes buchte er ein Zimmer im St. Paul Hotel. Die Angestellte an der Rezeption zögerte ein wenig als überlege sie, ob ein junger Mann in abgetragener Kleidung, mit schwarzen Ringen unter den blutunterlaufenen Augen in dem blassen Gesicht als Gast überhaupt akzeptabel wäre. Doch Farels Karte überzeugte sie.

"Das ist endlich mal ein angemessenes Zimmer", freute sich Keegan lautlos. "Nicht so eine Wanzenbude wie auf der Fahrt."

"Du wirst dich deiner Umgebung anpassen müssen", dämpfte Daschir seinen Enthusiasmus prompt. "Hier haben wir alles beisammen, was wir brauchen. Für dich einen Fitnessraum und einen Park zum joggen. Und für mich die Bibliothek. Das History Center ist auch nicht weit. Aber zuerst muss ich einen Menschen aus einem vergammelten Wrack machen. Ohne Magie wird das ein hartes Stück Arbeit." Dann orderte er ein leichtes Abendessen, das Keegans Magen erstaunlich guttat. Darauf folgte eine heiße Dusche und ein Besuch beim Friseur, der ihn rasierte und sein Haar wusch und fassonierte. Im nahegelegenen Einkaufszentrum erstand er neue Jeans, Hemden, Schuhe und einen eleganten Anzug. Keegan staunte nur noch.

"Ich möchte Cowboystiefel zu den Jeans", bat er und Daschir kam seinem Wunsch ohne Zögern nach. Bepackt mit zahllosen Tüten kehrte er in sein Hotelzimmer zurück. Begeistert zog er sich um.

"Wirf das alte Zeug weg", wies ihn Daschir an. "Für dich beginnt jetzt ein neues Leben. Du hast geschworen, nie wieder zu trinken. Da ist es das Beste, du lässt dein altes Leben hinter dir. Morgen gehst zu einem Arzt. Jetzt wird geschlafen."

"Dachte ich mir doch, dass an deiner unerwarteten Großzügigkeit ein Haken ist," motzte Keegan halbherzig, denn die Stiefel mit den geprägten Schäften fand er echt Klasse.



Nach einer schweißtreibenden Stunde im hoteleigenen Fitnessstudio begab sich Daschir, der seinen Wirt eisern im Griff hatte, zu einem Nervenarzt. Gediegene, hochmoderne Bilder an den Wänden, eine lederne Sitzgarnitur und kostbare Perserteppiche. So präsentierte sich schon der Warteraum der Praxis. Offenbar war Dr. McKenzie ein vielbeschäftigter Mann.

In dem neuen, dunkelblauen Anzug mit zurückgebundenem Haar fiel Keegan unter den der seinen Wirt eisern im Griff hielt, zu einem Nervenarzt. Gediegene, hochmoderne Bilder an den Wänden, eine lederne Sitzgarnitur und kostbare Perserteppiche. So präsentierte sich schon der Warteraum der Praxis. Offenbar war Dr. McKenzie ein vielbeschäftigter Mann. anderen Patienten gar nicht auf. Der Alkohol war endlich abgebaut, sodass der Jandun kein Problem mehr mit seiner Magie hatte. Wie selbstverständlich kam er als Erster an die Reihe.

Dr. McKenzie sah seinen neuen Patienten durch eine dicke, goldgefasste Brille an, die seine wasserblauen Augen winzig erscheinen ließen. Das runde Gesicht und der weiße Haarkranz um den ansonsten kahlen Schädel gab ihm im Verein mit dem weißen Arztkittel ein würdevolles, vertrauenerweckendes Aussehen. "Was kann ich für Sie tun, Mr. Mosley?" Seine Stimme klang sanft und eindringlich.

"Ich habe ein Alkoholproblem", antwortete Daschir kurz. Keegan bäumte sich auf. "Du spinnst wohl! Nur weil ich ein wenig zuviel erwischt habe? Das war der Cognac! Den vertrage ich nicht!"

Halt die Klappe!", schoss Daschir hart zurück. "Du würdest saufen bis du platzt, wenn ich dich ließe."

"Es überrascht mich, dass Sie soviel Einsicht besitzen", unterbrach Dr. McKenzie den lautlosen Streit. "Meist ist es den Patienten nicht bewusst, dass sie krank sind. Nun, ich schlage vor, dass Sie zweimal wöchentlich zu einer Gesprächstherapie zu mir kommen. Daneben verschreibe ich Ihnen Tabletten, die Sie regelmäßig einnehmen müssen."

"Das wird so nicht möglich sein", wandte Daschir ein. "Ich bin auf der Durchreise und werde St. Paul in wenigen Tagen wieder verlassen. Genügt es nicht, dass ich einfach die Tabletten nehme?"

Der Arzt wiegte bedächtig den Kopf. "Theoretisch schon. Doch eine psychiatrische Betreuung würde Ihre Erfolgschancen wesentlich vergrößern. Es ist wichtig, dass Sie den Grund für Ihre Alkoholkrankheit erfahren."

"Ich will das nicht!" Keegan kämpfte mit aller Macht in seinem mentalen Gefängnis. "Ich war schon mal bei so einem Seelenklempner und danach ging's mir nur noch schlechter!"

Daschir ignorierte ihn einfach. "Das ist sicher ein langwieriger Prozess, Doktor", sagte er. "Leider bin ich beruflich dauernd unterwegs und kann so eine Therapie nicht machen. Ich versichere Ihnen aber, dass es mein größter Wunsch ist, vom Alkohol loszukommen. Was können Sie für mich tun?"

Ein tiefer Seufzer entrang sich aus der tonnenförmigen Brust des Arztes. "Zuerst einmal bekommen Sie dieses Rezept. Sie nehmen morgens und abend je eine Pille." Er überreichte Daschir einen Zettel. "Und außerdem gebe ich Ihnen eine Liste von Kollegen, an die Sie sich wenden können, wenn die Packung zu Ende geht." Nachdem er eine Weile in einer Schreibtischlade gekramt hatte, förderte er einen Falter zutage. "Ich wünsche Ihnen viel Glück, Mr. Mosley! Meine Sekretärin hat die Rechnung für Sie."

Daschirs Hand schien einen Schleier über den Arzt zu ziehen bevor er ging. Bei der Sekretärin wiederholte sich der Vorgang nachdem er gezahlt hatte.



"Wozu war das nun wieder gut?", nörgelte Keegan während sie in Richtung Universitätsviertel fuhren. "Wenn ich sage, ich trinke nicht mehr, dann gilt das auch."

"Oh ja! Es hat jedes Mal gegolten, bis zum nächsten Mal", gab Daschir bissig zurück und fühlte im selben Moment wie Keegan zusammenzuckte.

"Du bist genau wie alle anderen!", greinte der junge Mann. "Meine Eltern, meine Brüder und auch Amy haben nie an mich geglaubt. Wie soll ich es denn schaffen, wenn alle sagen ...."

"Du hast immer Ausreden gefunden um dich zu betrinken." An Daschirs Misstrauen und Verachtung blieb kein Zweifel offen.

"Du verstehst das nicht!" Keegan hasste den Jandun, wenn dieser ihn so unverblümt auf seine Schwächen hinwies. "Wenn der Schmerz so groß wird, dass man ihn nicht mehr ertragen kann, muss man doch etwas tun um ihn zu betäuben. Das musst du erst einmal erlebt haben."

"Hast du eine Ahnung wie groß mein Schmerz über den Tod Daleks und seiner Familie ist?!", dröhnte Daschirs Gedankenstimme durch Keegans Kopf. Für Sekunden öffnete sich der Jandun seinem Wirt und überschwemmte ihn mit seinem Leid. Doch auch seine innere Stärke und Stabilität wurden offenbar.

Betroffen schwieg Keegan. "Wo willst du jetzt hin?", wechselte er das Thema.

"Dalek hat vielleicht etwas in seinem Arbeitszimmer im History Center hinterlassen", ging der Magier übergangslos auf Keegans Frage ein. "Er ist ... war einer unserer besten Forscher. Sein Wissen umfasste sechzehn Generationen."

"Sechzehn Generationen?", echote Keegan. "Das müssen ja Hunderte von Jahren sein!"

"Für Menschen vielleicht. Für Jandun sind das etwa hundertfünfzig Jahre." Daschir parkte den Rover in einer Seitengasse in der Nähe der Universität. "Halt jetzt die Klappe!", fuhr er Keegan grob an. "Ich muss mich konzentrieren." Wie selbstverständlich marschierte er in Mrs. Talbots Büro. Ohne Umschweife belegte er sie mit einem Kooperationszauber.

Auf dem hageren Gesicht erschien ein Lächeln. "Oh, Mr. Mosley! Schön, Sie wieder zu sehen!", säuselte sie. "Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Ich brauche den Schlüssel von Mr. Parkers Büro", entgegnete Daschir freundlich.

Dienstbeflissen überreichte sie ihm einen Schlüsselbund. "Damit kommen Sie auch gleich ins Archiv und den Lagerraum daneben. Mr. Parker hat dort oft gearbeitet."

"Vielen Dank, Mrs. Talbot." Lächelnd wandte er sich zum Gehen. "Ihre Bluse ist einfach bezaubernd."

Zarte Röte stieg in die gelblichen, mageren Wangen als die Sekretärin an ihrer schlichten Leinenbluse zupfte. Kaum dass Daschir das Büro verlassen hatte verfinsterte sich seine Miene wieder.

"Warum hast du dir den Schlüssel geholt?", wollte Keegan wissen. "Du hättest doch die Tür magisch öffnen können, wie die Wohnungstür der Parkers."

"Für uns gilt der Grundsatz, nicht aufzufallen", belehrte ihn Daschir und schloss die Tür von Parkers Arbeitsraum auf. Schnell trat er ein und drückte die Tür hinter sich zu.

"Schon wieder ein Chaos!", wunderte sich Keegan. "Aber diesmal ohne ...." Die mentale Energie Daschirs traf ihn wie ein Kinnhaken und brachte ihn zum Verstummen.

Das Zimmer bot tatsächlich ein Bild der Verwüstung. Türen und Laden von Schränken und dem großen Schreibtisch waren teilweise halb abgerissen, der Inhalt zerrissen, zerbrochen und am Boden verstreut. Vorsichtig stieg Daschir über den geborstenen Monitor des Computers und kniete sich vor eine ausgerissene Lade mit Disketten. Zuerst sah es aus als wären sie alle zerstört, doch einige wenige schienen noch heil zu sein. Sie trugen Aufschriften wie: 'Jagen und Fischen in Minnesota', 'Entwicklung der Erzförderung', 'Geschichtsträchtige Ausflugsziele' und ähnliche Titel. Daschir ließ sie in seinen Taschen verschwinden. Vielleicht war auf einer von ihnen ein wertvoller Hinweis. Dann versuchte er, das umgestürzte Bücherregal aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Keegans verweichlichte Muskulatur war zu schwach.

"Kann ich Ihnen helfen?" Ein schmale, sehnige Hand packte eine Seite des Regals und gemeinsam schafften sie es. "Haben Sie Ihre Diskette gefunden, Mr. Mosley?" Agent Sparks' Gesicht war ausdruckslos. Die stahlgrauen Augen lieferten keinen Aufschluss über seine Gedanken.

Daschir schüttelte den Kopf und stellte ein paar Bücher in das oberste Fach. "Sie haben alles zerstört. Mr. Smith wird sehr enttäuscht sein."

"Haben Sie zu dem Anzug auch eine Extraportion Charme bekommen?" Der FBI-Mann hob eine zerrissene Mappe auf. Sie enthielt noch Fetzen von Landkarten.

Daschir hätte sie ihm am liebsten aus der Hand genommen, statt dessen fuhr er fort Bücher ins Regal zu stellen. "Wie kommen Sie denn darauf?", fragte er beiläufig.

"Mrs. Talbot schwärmte geradezu von Ihnen." Sparks hatte die zweite Hälfte der Mappe gefunden und legte jetzt Papierfetzen aneinander. "Hat Ihnen Mr. Smith nichts über den Inhalt der Diskette gesagt, die Sie übernehmen sollten?"

Ein Fach war bereits mit Büchern vollgestellt und Daschir wandte sich dem zweiten Bord zu. "Soviel ich weiß, ist Mr. Smith ebenfalls Historiker. Vermutlich enthielt die Diskette Daten, die etwas mit seiner Fachrichtung zu tun hatten."

"Hm, hm." Der FBI-Agent stellte einen Stuhl auf und setzte sich. "Ihre Geschichte kommt mir reichlich sonderbar vor. Seit Sie die Schule verließen, haben Sie sich mehr oder weniger mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Dabei entwickelten Sie eine besondere Beziehung zum Gin. Die Leute in Edgemont halten Sie für antriebsschwach und labil. Wie kommt es, dass Sie kurze Zeit nach Ihrer Scheidung zu einer Reise aufbrechen, obwohl Sie Ihr ganzes vorheriges Leben aus den Black Hills nicht herausgekommen sind?" Ätzender Spott schwang in Sparks' Stimme. Er machte eine Pause, doch Daschir schlichtete unermüdlich Fachzeitschriften in das dritte Fach. "Ihr Outfit hat sich auch geändert."

"Der Kerl ist so gemein! Wie kannst du nur so ruhig bleiben?", rief Keegan aus seinem Gefängnis. "Verhexe ihn doch! Du kannst es!"

"Wenn Dummheit weh täte, müsstest du den ganzen Tag schreien", entgegnete Daschir kurz. Laut sagte er: "Ist es verboten, einen guten Anzug zu tragen? Ich will ein neues Leben beginnen und da kam mir Mr. Smith' Angebot gerade recht. Sie wissen sicher auch, dass ich meinen Job verloren habe. Mr. Smith bezahlt gut."

"Er muss die Mildtätigkeit in Person sein, wenn er sie gleich neu einkleidet", stichelte Sparks weiter. "Er kam wohl auf Engelsflügeln zu Ihnen um Sie aus dem Dreck zu ziehen."

"Sein Wagen hatte eine Panne und ich half ihm." Die letzten Bücher und Zeitungen waren verstaut. Notgedrungen drehte sich Daschir dem FBI-Agenten zu. "Ich bin noch jung genug um mein Leben in den Griff zu bekommen."

"Ach ja." Noch immer klang die weiche Stimme höhnisch, doch sie hatte ein wenig an Schärfe verloren. "Sie waren ja heute beim Arzt." Schwang da ein Funken Respekt mit? Der folgende Satz zerstörte diesen Eindruck wieder. "Leider kann weder er noch seine Sekretärin sich an Sie erinnern." In der schmalen Hand erschien ein kleines Metallstück. "Kennen Sie das?"

Neugierig beugte sich Daschir über das Ding und erkannte eine winzige Hand, die eine Fackel hielt. Das war wohl der abgebrochene Kopf einer Anstecknadel. Eine vage Erinnerung tauchte auf und schwand ehe er sie festmachen konnte. Stumm schüttelte er den Kopf.

"Sie nennen sich 'Fackel der Freiheit' und sie hassen alle, die nicht weiß sind. Ihre Spezialität sind Massenmorde unter Indianern. Dabei scheinen sie nicht sehr auf Heimlichkeit bedacht zu sein."

Eine schmerzliche Erinnerung wurde in Keegan wach. Vor einem halben Jahr fand man zwei seiner indianischen Freunde tot in ihrem Wagen. Was anfangs wie ein Verkehrsunfall aussah, entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als besonders brutaler Mord. Die beiden waren schlichtweg in Stücke gehackt worden. Er konnte immer noch einen Hauch des Entsetzens nachfühlen, wenn er an diesen Tag dachte. Doch der Jandun war voll auf den FBI-Mann konzentriert und ignorierte Keegans Gemütszustand.

"Wenn Sie das wissen, warum verhaften Sie die Bande nicht?" Nun war es an Daschir zu spotten.

"Dazu müssten wir sie kriegen", knurrte Sparks wütend. "Sie tauchen auf, schlachten ein paar Rothäute ab und verschwinden wieder. Wir haben genug Beweise und sogar von einigen Tätern Aufnahmen. Bis jetzt sind sie uns aber jedes Mal entwischt. Ich möchte, dass Sie sich einige Bilder ansehen. Vielleicht kennen Sie einen von denen." Geschmeidig stand der Beamte auf.

Daschir nickte. Trotz der moderaten Formulierung wusste er, dass Sparks ihm einen Befehl gegeben hatte. Gemeinsam verließen sie das History Center. Sparks stieg in einen fast neuen, dunkelgrünen Thunderbird und fuhr einfach los. Nachdenklich folgte ihm Daschir und parkte den Rover unbekümmert neben dem Thunderbird im Hof des Polizeipräsidiums. Wenig später saß er vor einem dünnen Album. Die Männer und Frauen auf den Fotos hatten alle blondes oder rötliches Haar und blaue Augen. Außerdem wiesen die meisten Gesichter Sommersprossen auf. Zu einigen gab es Namen, aber die meisten waren der Behörde unbekannt. Mit einem Kopfschütteln blätterte Daschir eine Seite nach der anderen um. Sparks' Gesicht blieb unbewegt. Wie eine Statue saß er da. Daschir fand sich versucht auf seinen Atem zu lauschen. Wieder blätterte er schulterzuckend um und stutzte. Eins dieser Gesichter war ihm vertraut. Diesen massigen Schädel mit dem kurzen, roten Haar, die kleinen, kalten, blauen Augen würde er nie wieder vergessen. Der Truckfahrer! Ein verbissener Ausdruck lag auf dem Antlitz, nicht so ein hämisches Grinsen wie damals als er ihn überfahren hatte.

Sparks hatte sich erwartungsvoll vorgebeugt. "Erkennen Sie einen?" Jagdlust glitzerte in seinen grauen Augen.

"Dieser Mann!" Daschir tippte mit dem Zeigefinger auf die Aufnahme.

"Wo haben Sie ihn gesehen?"

Sollte er dem FBI-Mann von dem Mord erzählen? Nein, es würde nur noch mehr Fragen nach sich ziehen. Es fiel Daschir nicht leicht, bei der Erinnerung an seinen Mord kühl zu bleiben. "In Beamer's Trucker Rest. Er fährt einen Truck mit Flammen am Kühlergrill und den vorderen Kotflügeln."

"Hat er einen Namen gesagt?", bohrte Sparks.

Daschir schüttelte den Kopf. "Kann ich jetzt gehen?"

"Aber sicher." Eine Karte erschien zwischen den manikürten Fingern. "Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt."



"Du hast gelogen", stellte Keegan selbstgefällig fest als sie zum Wagen gingen. "Woher kennst du den Kerl?"

Ein magisches Wort ließ die durchgewetzten Sitze des Rovers in neuem Glanz erstrahlen. Auch den Staub und Schmutz, der sich in vielen Jahren im Wageninneren angesammelt hatte, ließ Daschir verschwinden. "Das war mein Mörder", bequemte er sich endlich zu einer Antwort.

Keegan konnte die Erregung des Jandun deutlich spüren. "Wo willst du jetzt hin? Ich hab Hunger!", wechselte er das Thema.

Tatsächlich war der Vormittag fast vorüber. Die Sonne brannte zwischen einigen dicken, weißen Haufenwolken auf die Stadt und Daschir zog das Jackett aus. "Wir werden etwas essen, einige Runden joggen ...."

"Musst du dich immer als Gesundheitsapostel aufspielen?", nörgelte sein Wirt. "Ich bin ohne diese blöde Hampelei bis jetzt ganz gut ausgekommen."

"Das merke ich an deinen verkümmerten Muskeln", gab Daschir spitz zurück. "Du ermüdest viel zu schnell. Das behindert meine Magie."

"Ich behindere gar nichts. Du willst doch gar nicht mehr zaubern", verteidigte sich Keegan.

"Mit einem Körper wie eine unterentwickelte Vogelscheuche geht das auch nicht. Das einzig Starke an deinem schwächlichen Gestell sind deine Tränensäcke. Sie hängen wie Satteltaschen unter deinen Triefaugen."

"Was?!" So hatte ihn noch niemand genannt. Tief gekränkt zog sich Keegan zurück. Er hatte inzwischen gelernt sich so vollständig abzukapseln, dass er von seiner Umgebung nichts wahrnahm, wenn Daschir seinen Körper kontrollierte. Das tat er jetzt und kam erst wieder aus seinem Schneckenhaus als heißes Wasser auf seine nackte Haut prasselte. Es tat gut, denn seine Muskeln schmerzten als wäre er zu Fuß von hier nach South Dakota und wieder zurück gelaufen.

"Ich hab Durst", machte er sich bemerkbar.

"Den hast du immer", kanzelte ihn Daschir grob ab. Trotzdem öffnete er ein Päckchen Orangensaft und goss ein Glas voll.

"Was hast du jetzt vor?", wollte Keegan wissen und stellte das leere Glas auf den Tisch. Der Jandun hatte ihm zum Trinken die Kontrolle übergeben.

"Ich will herausfinden, was auf den Disketten gespeichert ist. Vielleicht ist es für uns von Wert. Dazu brauche ich aber einen Computer."

"Du könntest Mrs. Talbot wieder becircen", schlug Keegan grinsend vor.

"Ich weiß nicht, ob das klug wäre", wandte Daschir ein. "Sparks lässt mich sicher nicht aus den Augen."

"Dann geh in einen Laden und gib vor, einen Computer kaufen zu wollen", versuchte es Keegan noch einmal. Er war ins Badezimmer gegangen und kämmte vor dem Spiegel sein Haar. Es war noch ein wenig feucht vom Duschen. "Vielleicht gibt es ein Internet-Cafe in der Nähe."

"Das wäre eine Möglichkeit", stimmte Daschir zu. Er hatte nach dem Duschen Jeans und ein luftiges Sweatshirt angezogen. Jetzt schlüpfte er in die Cowboystiefel. Keegan freute sich darüber und Daschir schickte ihm ein lautloses Lächeln. Dann durchforsteten sie den Anzeigenteil der Tageszeitung, die noch vom Frühstück her herumlag.



Gleich neben dem Musiktheater fand Daschir ein kleines Internet-Cafe. Er brauchte nur den Park zu durchqueren um es zu erreichen. Zufrieden beglückwünschte er sich für die günstige Wahl des Hotels.

"Ist ja umwerfend wie perfekt du bist", grummelte Keegan. Zeitweise kam er mit dem Jandun gut zurecht. Doch dessen überhebliche Anwandlungen stießen ihn immer wieder ab. Zu sehr machten sie ihn auf seine eigenen Unzulänglichkeiten aufmerksam.

Daschir ging auf Keegans Kommentar nicht ein. Sein Kopf war voll von Sorgen. Gleich nach dem Mittagessen begab er sich in das Cafe und bestellte einen Kaffee. Rastlos wartete er bis endlich ein Computer frei wurde. Nach der zweiten Tasse gab ihm der Kellner ein Zeichen. Fast ungestüm stürzte er auf das Gerät zu und jagte den Kellner, der ihm ein wenig zu neugierig schien, mit einem kleinen Zauber in die Flucht.

"Mein Gott, bist du stark!", kommentierte Keegan diese Aktion. "Ich sollte mich wieder mal betrinken. Ohne deine Magie bist du viel angenehmer." Schon wappnete er sich gegen eine geharnischte Entgegnung. Doch zu seiner Verblüffung signalisierte der Magier sekundenlang Nachdenklichkeit, vermischt mit leiser Unsicherheit. Welchen Nerv hab ich da getroffen?, fragte sich Keegan.

Von Daschir kam nur ein raues: "Lass mich arbeiten!" Ungeduldig schob er die erste Diskette in den Computer. Fast augenblicklich kam eine Fehlermeldung. Der Datenträger war so beschädigt, dass er unbrauchbar war. Enttäuscht brach Daschir das Plastik in der Mitte durch und warf es in den Papierkorb.

"Über die Erzförderung werden wir nichts erfahren", meinte Keegan in versöhnlichem Ton.

"Ich habe noch sechs andere Disketten", ging Daschir auf das Gespräch ein. "Sehen wir uns mal das an. 'Historische Eisenbahnlinien'",

Diese Diskette ließ sich problemlos öffnen. Sie hielt auch, was der Titel versprach: endlose Beschreibungen von Eisenbahnen und Bahnhöfen, teilweise durch Abbildungen aufgelockert. Aber kein Hinweis auf das Verborgene Volk. Daschir ließ den Text im Schnelllauf abspulen und legte die Diskette dann beiseite. Die nächsten zwei Datenträger waren wieder beschädigt. Ihre Titel wiesen auf Sportvereine in Minnesota hin. Nun waren noch drei übrig.

"Probier doch mal die 'Geschichtsträchtigen Ausflugsziele'", bat Keegan. "Vielleicht sind schöne Bilder von Bergen dabei."

"Ok, sehen wir sie uns an", stimmte Daschir zu und schob die Disk in den Schlitz. Volltreffer! Zuerst erschienen Bilder von Bergen. Doch als der Jandun eines anklickte, tauchte ein Fenster auf: 'Passwort eingeben'. Nach kurzer Überlegung gab Daschir 'Jahanda' ein paar Sekunden später starrte er auf eine schier endlose Liste von Ortsnamen. "Das ist es!", freute er sich und schaltete den Drucker ein.

Das Gerät hatte die letzte Seite noch nicht ausgespien, da näherte sich der Kellner. "Mr. Mosley, diese junge Dame möchte nur schnell eine Email absenden. Könnten Sie vielleicht ..."

Ein junges Mädchen mit einer großen, dunklen Sonnenbrille und grün gefärbtem Haar, das wirr nach allen Seiten stand, lächelte ihn über die Schulter des Kellners an.

"Ich bin noch nicht fertig", sagte Daschir verbindlich. "Die junge Dame wird sicher einen anderen Terminal finden." Während er sprach wob er einen Zauber. Keegan empfand immer dieses eigenartige Prickeln wenn Daschir zauberte. So auch jetzt.

Das dunkle Gesicht des Kellners verlor ein wenig an Farbe. Der Blick wurde abwesend. Dann wandte er sich an das Mädchen. "Darf ich Sie bitten, Miss? Sobald ein Terminal frei ist, gebe ich Ihnen Bescheid."

Das Prickeln in Keegans Geist hielt an. Schon erwartete er, dass das Mädchen der Aufforderung Folge leisten würde. Ihre Reaktion war jedoch ganz anders. Schieres Entsetzen ließ ihre Züge erbleichen. Ihr voller Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Im nächsten Moment überfiel Daschir ein Schwall ungeordneter Magie wie ein wütender Hornissenschwarm. Dann fuhr sie auf dem Absatz herum und rannte aus dem Café.

Der Jandun wehrte den ungeschickten Angriff fast ärgerlich ab. "Warte!", rief er aufspringend, doch sie war schon zur Tür hinaus und im Gedränge der anderen Passanten verschwunden. Mit einem höhnischen Rattern beendete der Drucker seine Arbeit. Verstört ließ sich Daschir auf den Stuhl sinken.

"Was war denn das?", fragte sein Wirt zaghaft. Er fühlte die innere Aufgewühltheit des Jandun.

"Eine Jandun", seufzte der Magier. "Vielleicht die einzige Überlebende des Massakers. Sie hat sich die ganze Zeit abgeschottet. Deshalb konnte ich sie nicht orten."

"Ich dachte, ihr könntet euch immer spüren", wunderte sich Keegan.

"Gerade unter Telepathen ist eine Privatsphäre besonders wichtig", dozierte der Jandun. "Uns zu verschließen ist das Erste, das wir lernen."

"Hättest du sie nicht festhalten können?"

"Nicht nötig. Ich kenne jetzt ihre Signatur. Sie muss halb verrückt sein vor Angst."

"Heißt das, du findest sie, wo immer sie ist?", forschte Keegan neugierig.

"Ja", gab der Magier ungeduldig zu. Er hatte den Ausdruck flüchtig durchgeblättert. Auf der letzten Seite fand er einen kurzen Text. Doch jetzt war keine Zeit zum Lesen. Hastig steckte er die vorletzte Diskette in den Rechner. Sie war zerstört. "Nichts mit Jagen und Fischen", brummte er lautlos und nahm sich die letzte Disk vor. Hier war nur ein Teil der Daten verloren gegangen. Doch auch der Rest war für Daschir nutzlos. Es war nur eine Auflistung der Brutplätze von Greifvögeln. Zufrieden wenigstens ein wenig Erfolg gehabt zu haben, packte er den Ausdruck und die Disketten zusammen.

"Willst du jetzt das Mädchen suchen?", erkundigte sich Keegan. Die Arbeit am Computer hatte ihn gelangweilt. Die Grünhaarige versprach eine interessante Abwechslung.

"Zuerst muss ich den Ausdruck sicher verwahren", schränkte Daschir ein.

"Ich hab Durst", drängte Keegan. Ein Drink wäre doch der richtige Auftakt für das kommende Abenteuer. Vor seinem geistigen Auge entstand eine Ginflasche seiner bevorzugten Marke. Das Etikett zeigte einen lachenden Mönch. Schon schwelgte er in Vorfreude. Da drehte ihm der Mönch das Gesicht zu. Es war die grässlichste Fratze, die Keegan je gesehen hatte. Der stechende Blick der Basiliskenaugen bohrte sich tief in seine Seele. Dazu verzog sich der riesige Mund und enthüllte lange, messerscharfe Fangzähne.

"Möchtest du immer noch einen Drink, Keegan?", drang Daschirs Stimme durch das Grauen. Dann verschwand das schreckliche Bild.

"Warst du das?", keuchte der junge Mann. Obwohl er keine Kontrolle über seinen Körper hatte, schien alles an ihm zu zittern.

"Nicht ganz", gab Daschir zu. "Die Pillen haben mir dabei geholfen. Aber merk dir: Das war nur eine kleine Kostprobe, für den Fall, dass du rückfällig wirst." Tiefe Befriedigung klang aus Daschirs Gedankenstimme.

"Du bist so gemein!", flüsterte Keegan.

"Nur eine kleine Entscheidungshilfe", korrigierte der Jandun und lief locker durch den Park. Das regelmäßige Training machte sich schon bemerkbar. Keegans Körper war bereits wesentlich beweglicher und ausdauernder geworden.

Im Hotel mietete er ein Safefach und legte seinen Schatz hinein. Zur Sicherheit belegte er das Fach noch zusätzlich mit einem Zauber. Die Sonne stand noch hoch und der Park war voll von Menschen. Junge Frauen mit kleinen Kinder, alte Menschen, die sich auf Bänken sonnten, und dazwischen immer wieder Jogger. Daschir begann eine Runde zu laufen.

"Ich dachte, du willst das Mädchen suchen", meldete sich Keegan.

"Genau das wollte ich. Stör mich nicht, ich muss sie erstmal ausfindig machen", erklärte Daschir kurz und Keegan schwieg. Wieder fühlte er das Erwachen der Magie und dann streckten sich unsichtbare Fühler über den Park und die angrenzenden Häuser. Immer weiter schickte Daschir seine Sensoren, bis ihm ein verhaltenes Zittern im Äther das Bewusstsein des Mädchens anzeigte. "Ich hab sie!", freute er sich und verließ im Laufschritt den Park. An der ersten Kreuzung bog er von der University Avenue ab und tauchte in das Gewirr der kleinen Seitengassen. Insgeheim bewunderte Keegan diese Fähigkeit. Die Signatur des Mädchens wurde immer deutlicher. Sie strahlte wie das Licht einer Kerze durch den Äther und ihre Angst lag wie ein dunkler Schleier darüber.

Vor einem schmalen, vierstöckigen Haus blieb Daschir stehen. Dahinter, fast zum Greifen nahe, ragten die Wolkenkratzer auf. Der Jandun streckte die rechte Hand aus und drehte sie langsam. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Ungesehen huschte Daschir hinein. Das Signal kam aus einer Wohnung im ersten Stock. Auf Zehenspitzen stieg er die enge Betontreppe hoch. Ja, die zweite Tür links. Wieder öffnete er die Verriegelung mit einem Zauberspruch. Ein kleiner Vorraum lag vor ihm. Durch einen oben abgerundeten Durchgang konnte er in das einzige Zimmer des kleinen Apartments sehen. Sein Blick flog hin und her. Wo hatte sich die Grünhaarige versteckt? Vorsichtig ging er zwei Schritte vor und lauschte. Plötzlich raste ein grüner Schatten auf ihn zu. Daschir duckte sich und errichtete einen magischen Schild. Ein Wust von grünen Haaren prallte gegen die Barriere. Dann lag das Mädchen vor ihm auf den Knien.

"Warte, Mädchen!", versuchte er sie zu beschwichtigen. "Farel schickt mich um ..." Weiter kam er nicht.

Mit einem Schrei sprang sie auf. "Mörder!" Ein großes Küchenmesser blitzte in ihrer Hand.

In Panik versuchte Daschir einen Schutzschirm zu errichten. Keegan sah nur das Messer. Todesangst ergriff ihn und gab ihm die Kraft den Jandun zurückzudrängen. Vor mehr als zehn Jahren hatten ihm seine indianischen Freunde ihre Kampftechnik beigebracht. Es war lange her, dass er die Griffe geübt hatte. Doch jetzt setzten seine Reflexe ein. Blitzschnell packte er die Hand mit dem Messer und verdrehte sie auf den Rücken. Ein fester Druck und die Klinge klapperte zu Boden. Sekunden später kniete er auf der Brust des Mädchens und hielt ihre Hände fest. "Ich möchte nur, dass du mir zuhörst. Es wird dir nichts geschehen", sagte er.

Die tief violetten Augen des Mädchens waren weit aufgerissen. Ihre Lippen zitterten, doch sie gab keinen Laut von sich.

"Ich bin Keegan Mosley", begann er. "Aber Daschir ist in mir. Er lag im Sterben als ich ihn fand und da kam er irgendwie in mich hinein."

"Jandun übertragen ihr Wissen nur auf andere Jandun", flüsterte sie.

"Er war fast tot. Wahrscheinlich konnte er nicht mehr klar denken." Wie konnte er die Kleine nur überzeugen? "Du musst Himna sein, Daleks Tochter", dröhnte Daschirs Gedankenstimme in Keegans Kopf. "Ich erinnere mich an dich und deine Namensgebung."

Verwirrung spiegelte sich in den fremdartigen Augen. "Ein Transfer zwischen Jandun und Menschen ist unmöglich", antwortete sie telepathisch.

"Es ist geschehen, Himna", beschwor er sie. "Du musst mir glauben!"

"Er sieht nicht aus wie ein Jandun", brachte sie ihren letzten Einwand vor. "Die Mörder sahen fast so aus wie er."

"Du hast sie gesehen?" Daschir ließ auf einen Wink Daschirs das Mädchen los und setzte sich auf die schmale Couch in der Ecke des Raums.

"Ich kam gerade vom Einkaufen als diese Bestien uns überfielen." Himna hatte sich aufgesetzt und die Knie an die Brust gezogen. Ihr blasses Gesicht schien nur aus großen violetten Augen zu bestehen. "Ich versteckte mich im Stiegenhaus und wartete bis sie gegangen waren."

"Hast du etwas zu trinken?", fragte Keegan schnell. Er fürchtete, Daschir könnte ihm wieder die Kontrolle über seinen Körper entreißen. Himna nickte und holte ein großes Glas Orangensaft aus einer winzigen Kochnische. "Danke", sagte Keegan und stürzte den Saft gierig hinunter. Dabei hörte er Daschirs schadenfrohes Kichern. Frustriert erkannte er, dass er seine Gefühle immer weniger vor dem Jandun verbergen konnte. Natürlich wäre ihm ein Gin lieber gewesen!

"Würdest du sie wiedererkennen?", forschte Daschir.

"Jederzeit", flüsterte Himnas Gedankenstimme. "Ich träume jede Nacht von ihnen."

Wie einen sanften Regen ließ Daschir heilende Magie auf das verschreckte Mädchen rieseln. Doch es dauerte sehr lange, bis sie sich ein wenig entspannte.

"Wir werden ihnen die Polizei auf den Hals hetzen." Daschir gab Keegan ein Zeichen, dass er gehen wollte. "Pack deine Sachen. Du kommst mit mir. Hier bist du nicht sicher."

"Ich habe dem Großen Rat eine Nachricht geschickt. Sie wollen, dass ich nach Eau Claire in Wisconsin gehe", wandte Himna schüchtern ein. Gehorsam sammelte sie ihre Siebensachen. Nicht einmal eine kleine Reisetasche wurde voll.

"Eau Claire sagst du?" Gemeinsam verließen sie die Wohnung. "Aber zuerst sprechen wir mit Agent Sparks."



Mit spitzen Fingern blätterte Himna in dem Verbrecheralbum, das Sparks ihr mitgebracht hatte. Keegan hatte ihn auf Daschirs Geheiß angerufen und ein Treffen in ihrem Zimmer im St. Pauls Hotel vereinbart.

"Es waren fünf." Sie hatte die grüne Farbe aus ihrem Haar gewaschen und trug es jetzt im Nacken zusammengebunden. Drei der Mörder waren bereits identifiziert, zwei Frauen und ein Mann, alle blond und blauäugig. Jetzt tippte sie wieder auf ein Foto. "Der war auch dabei. Er hat Tante Martha in der Küche ..." Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

"Wir haben seine Fingerabdrücke auf der Machete", nickte Sparks unbehaglich und schrieb etwas in ein kleines dunkelrotes Notizbuch.

"Dieser war der Anführer." Himna zeigte auf das letzte Bild. Der Truckfahrer!

"Hat dieser Mann auch meine Freunde getötet?", überlegte Keegan.

"Schon möglich", gab Daschir zurück.

Sparks kritzelte noch ein paar Worte und steckte sein Buch dann weg. "Sie haben uns sehr geholfen, Miss Parker", sagte er mit einem kleinen Lächeln. "Sind Sie sich im Klaren, dass Sie immer noch in Gefahr sind? Wir können Sie unter Polizeischutz stellen bis wir die Täter gefasst haben."

"Ich möchte zu meinem Onkel fahren. Mr. Mosley wird mich hinbringen. Dort bin ich noch am sichersten." Sie schüttelte den Kopf und schob Sparks das Album hin. Eine kleine Träne lief an ihrer Wange hinunter.

Ein tiefer Seufzer kam aus der Brust des FBI-Agenten. "Haben Sie keine Angst, dass die 'Fackel der Freiheit' auch Ihren Onkel überfallen könnte?"

Himna setzte zu einer Antwort an, doch sie kam nicht mehr dazu. Die Tür des Hotelzimmers wandelte sich für Sekunden in ein gleißendes Loch aus dem drei Männer mit langen Messern in den Händen sprangen. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Sparks warf sich auf Himna und zog noch im Fallen eine Pistole. Daschir schickte einen Blendzauber den Männern entgegen, der sie sekundenlang verwirrte. Das gab dem Agenten Zeit zu zielen und abzudrücken. Der vorderste der drei Killer holte mit seiner Waffe, die einem Kurzschwert ähnelte, aus als wollte er Keegan den Kopf spalten. Wieder überließ Keegan seinen Reflexen das Kommando.

Mit einem wilden Schrei sprang er vor und rammte dem Mann den Kopf in den Magen. Inzwischen brach der zweite Angreifer in den Kopf getroffen zusammen. Der dritte warf einen Dolch nach dem Agenten, der in dessen linkem Oberarm stecken blieb. Mit einem wütenden Knurren drückte Sparks wieder ab und streckte den Mann nieder. Keegan rang verzweifelt um sein Leben. Der Anführer der Gruppe hatte seine klobigen Hände um seinen Hals gelegt und drückte ihm die Luft ab. Dazu lag er noch mit seinem massigen Körper schwer auf ihm. Sparks riss fluchend den Dolch aus dem Arm und knallte dem letzten der drei den Pistolenknauf über den breiten Schädel. Gerade noch rechtzeitig! Keegan dachte schon, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Unter Sparks Schlag sank der Killer in sich zusammen und Keegan wand sich unter dem schweren Körper hervor. Als er auf die Beine kam, hatte der Agent dem Mann schon Handschellen und einen Titanreifen mit Peilsender angelegt.

Ein verhaltenes Schluchzen machte die beiden Männer auf Himna aufmerksam. Das Mädchen saß am Boden, die Hände vors Gesicht geschlagen. "Sind Sie verletzt?", fragten Keegan und Sparks gleichzeitig.

Stumm schüttelte sie den Kopf. In der hereinbrechenden Dämmerung leuchtete das bleiche Oval ihres Gesichts aus der Umrahmung ihres schwarzen Haares. "Ich bin Ok", sagte sie tapfer.

Ein Stöhnen zeigte an, dass der Killer wieder zu sich kam. Wütend riss er an seinen Fesseln, vergeblich. Tiefblaue Augen blitzten hasserfüllt aus dem vierschrötigen, sommersprossigen Gesicht als er sich mühsam aufsetzte. Der Truckfahrer. Seine dicken Lippen teilten sich als er wieder an den Fesseln riss und enthüllten ein unmenschliches Gebiss. Die Eckzähne dieses Mannes waren doppelt so lang als bei einem normalen Menschen. Und er hatte auf jeder Seite zwei davon. Sein Blick suchte und fand Himna. Dann dröhnte eine tiefe Gedankenstimme in Keegans Kopf. "Du entkommst uns nicht, Jandun-Abschaum! Die Menschen werden dir nicht helfen können. Verlass dich darauf!"

Keegan fühlte Daschirs Schreck und auch ein vages Erkennen. Ein Wort geisterte durch seine Ganglien: Otkon! Aber er hatte keine Zeit für Fragen. Denn jetzt wurde energisch gegen die Tür geklopft. Sparks war schon an der Tür und öffnete. Drei Sicherheitsbeamte des Hotels drängten in den Raum. "Wir haben Schüsse gehört ...", begann der erste und stockte. Sein Blick hatte die beiden Leichen und den Truckfahrer erfasst.

"Holen Sie die Polizei!", befahl Sparks und hielt dem Security seinen Ausweis unter die Nase. Dann wandte er sich freudlos lächelnd an Keegan. "Wir werden gemeinsam nach Eau Claire fahren. Sie haben mir eine Menge zu erzählen. Außerdem möchte ich zu gern Mr. Smith kennen lernen." Die stahlgrauen Augen nagelten Keegan fest. In diesem Moment erinnerte ihn der Agent an einen Schweißhund, der sich in seine Beute verbissen hatte.

"Nehmen Sie ihm seinen Schmuck ab, Agent Sparks." Das war Daschir. Keegan hatte der Kampf so mitgenommen, dass er dem Jandun widerstandslos die Kontrolle überließ. Seine Hand, geleitet von dem Magier, strich die roten Locken des Truckfahrers zurück und enthüllte einen dicken, bläulichen Ohrring. Mit einem Ruck riss er ihn aus dem Ohr und gab ihn widerstrebend dem Beamten.

Der Killer zischte bösartig. Ein paar Tropfen Blut netzten sein Hemd, dann hatte sich die Wunde wieder geschlossen. "Sei verflucht, Verräter!", brüllte es in Keegans Kopf.

"Wir werden wirklich viel Gesprächsstoff haben." Sparks rieb sich die schmalen Hände.

"Was willst du tun?", fragte Keegan lautlos den Jandun.

"Lass mich nur machen", kam die beruhigende Antwort und dann fühlte der junge Mann etwas wie ein mentales Streicheln. "Du hast tapfer gekämpft, Keegan. Ich danke dir." Echte Anerkennung schwang in diesen Worten, etwas, das Keegan noch nie bekommen hatte.


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