STORIES


IN DIE SCHATTEN

Folge 7

von Thomas Kager



Was bisher geschah:

Sven wurde von Unbekannten entführt und mußte Schaukämpfe austragen. Als er gemeinsam mit Wildfire und Moonshadow endlich frei kommt, stehen sie ohne Ausrüstung, ohne Geld und ohne Identität praktisch vor dem Nichts. Sie treten in die Straßengang der T-Birds ein, da Ghost, der Anführer, ihnen versprochen hatte ihnen im Gegenzug zu helfen und Kontakte zu knüpfen.




"Wartet, nehmt mich mit."

Überrascht drehte sich Sven zu der Ruferin um. Es war ein Mädchen, so um die 15 Jahre mit schwarzen Leggins und einem bauchfreien schwarzen Top, über das locker ein Netzhemd geworfen war. Das längere dunkle Haar war vorne etwas strubbelig, hinten teilweise zu Zöpfchen geflochten.

"Tara, verschwinde", fauchte Spike auf seinem mächtigen Motorrad. "Geh jemanden anders auf die Nerven."

"Ich kann euch sicherlich helfen. Bitte darf ich mitkommen", bettelte Tara mit Hundeblick in ihren braunen Augen.

"Laß nur", winkte Wildfire ab und stand auf, nachdem sie den Luftdruck in dem Vorderreifen ihres Motorrades kontrolliert hatte. "Wir kommen auch ohne dich zu Recht."

Daraufhin veränderte sich Taras Gesichtsausdruck. Er wurde wütend.

"Ihr glaubt wohl, ich kann nichts. Ihr denkt, ich bin zu klein. Na wartet!"

Wie eine Wildkatze sprang sie Wildfire an und krallte sich an ihr fest. Blindwütig biß und kratzte sie.

Wildfire wurde von ihrer Heftigkeit überrascht, doch sie stieß das Mädchen von sich weg.

"Was soll das?" fragte sie.

"Ihr glaubt wohl, ich bin nicht gut genug für euch. Ich werde euch schon noch beweisen, was ich wert bin."

Wieder sprang sie Wildfire an. Doch diesmal ließ sie sich nicht überraschen. Sven, der die Kampfkraft von Wildfire sehr genau kannte, merkte, daß sie nur mit einem Teil ihre Kraft zuschlug, doch der reichte, das Tara mit aufgeplatzter Lippe zu Boden ging.

"Ich will dir nicht weh tun, Kleines."

"Pfah", spuckte Tara aus. "Das schaffst du doch gar nicht." Wütend stürmte sie auf Wildfire zu. Wildfire wich aus und versetzte dem Mädchen einen Stoß, der sie gegen einen Müllcontainer warf, was ihr eine lange Schramme auf der Stirn einbrachte. Benommen fiel zu nieder.

"Tara", sagte Wildfire warnend. "Sei klug und bleib liegen."

"Ich brauche dein Mitleid nicht", fauchte sie und kam schwankend auf die Beine. Trotzdem ging sie wieder auf Wildfire los. Abermals schlug Wildfire zu und abermals ging Tara zu Boden. Doch die Kleine war zäh und überaus trotzig. Mühsam rappelte sie sich erneut hoch. Ein wenig hilflos sah Wildfire zu Sven.

Was sollte sie bloß mit dieser kleinen Furie tun? Sie konnte sie doch nicht einfach zusammenschlagen. Allerdings machte Tara nicht den Eindruck, daß sie Wildfire ansonsten in Ruhe lassen würde. Zu sehr hatte sie sich in ihre Rage hineingesteigert.

Sven trat schnell hinter Tara, umfaßte ihren Oberkörper, wobei er ihre Arme an den Körper preßte und hob sie ein wenig in die Höhe. Tara strampelte wild und wand sich. Sven mußte Acht geben, daß sie ihm nicht mit ihrem Kopf ins Gesicht stieß, doch ihre Bewegungen wurden schnell schwächer. Schließlich hing sie schlaff in seinen Armen. Taras Wut hatte sich aufgebraucht. Zurück war nur eine Leere geblieben, die sich mit Tränen füllte. Sven ließ sie zu Boden sinken, wo sie wie ein Häufchen Elend sitzen blieb. Krampfhaft versuchte Tara ihre Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht.

"Ich bin schlecht", jammerte sie. "Ich bin unnütz."

Moonshadow kniete sich vor Tara und strich ihr zärtlich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann nahm sie ihren Kopf in beide Hände.

"Ich glaube an dich", sagte sie und küßte Tara. Es war ein langer Kuß und als Moonshadow sich von ihr löste, saß Tara noch einen kurzen Moment unbeweglich da, die Augen geschlossen, so als ob Moonshadows Lippen immer noch auf den ihren lagen. Die aufgeplatzte Lippe und die breite Schramme auf der Stirn hatten sich geschlossen. Die Schwellung auf der Wange war verschwunden. Dann schien Tara wie aus einem Traum zu erwachen. Verwirrt blickte sie sich um. Dann sprang sie trotzig auf die Beine.

"Ihr seid doch nur dämlich", rief sie und lief davon.

"Können wir jetzt endlich fahren?" fragte Spike ungeduldig.

"Was sollte das jetzt?" fragte Wildfire immer noch ein wenig von der Rolle.

"Ach, das kleine Gör versucht sich bei jedem einzuschmeicheln. Hat wohl ein übersteigertes Geltungsbedürfnis." Damit hielt er die Sache für ausreichend erklärt und fuhr los. Wildfire, Sven und Moonshadow mußten sich beeilen, um auf ihre Motorräder zu kommen und den Anschluß nicht zu verpassen.

Als Sven sich noch einmal umwandte, sah er, daß Ghost die ganze Szene aus einem Fenster im ersten Stock beobachtete hatte. Seiner Miene war aber nicht abzulesen, was er sich dachte.

***


"Also Smithon, das kann so nicht weitergehen. Du bist schon 2 Wochen mit deiner Gebühr im Rückstand", erklärte Spike, der sich auf die Verkaufstheke gestützt hatte. Sven und Wildfire standen an der Tür des kleinen Ladens. Der ältere Mann hinter der Theke schwitzte und rang verzweifelt mit den Händen.

"Es tut mir ja furchtbar leid. Aber die letzten Wochen lief es nicht so gut. Außerdem ist meine liebe Frau krank geworden. Ich brauche jeden einzelnen Nuyen für die Medikamente. Aber ich werde die ausständigen Gelder alle zahlen, natürlich mit Zinsen. Ganz sicher. Ich brauche nur etwas mehr Zeit."

Spike brachte sein Gesicht näher an das des Händlers und musterte ihn eingehend. "Wie viele Kinder hast du Smithon?"

Der Händler schluckte schwer. "Vier. Einen Jungen und drei Mädchen. Ganz liebe Kinder. Sie besuchen sogar die Schule. Lucie ist sogar Klassenbeste."

"Dann geht ja eine Menge Zaster für das Schulgeld der Brut drauf."

"Ja, leider. Bitte, tun sie ihnen nichts. Ich gebe ihnen alles was ich habe. Hier."

Smithon zog eine Uhr aus seiner Tasche, die er vor Spike auf die Theke legte. "Die ist von meinem Großvater. Sie funktioniert zwar nicht mehr, aber sie sollte trotzdem einiges wert sein."

Spike musterte die Uhr, dann noch einmal das Gesicht des Händlers und das Innere des Ladens. Schließlich legte er seine Hand auf die Uhr und schob sie Smithon zu. Als er die Hand zurücknahm, lagen auf der Uhr ein paar Geldscheine.

"Vergiß die Schulden und bezahl damit die Medikamente für deine Frau. Wenn du das aber irgend jemandem sagst, reiß ich dir den Kopf ab", knurrte er drohend.

"Sicher", stammelte Smithon überrascht. Schnell nahm er die Uhr und das Geld an sich, bevor es sich Spike noch einmal anders überlegte. Der Troll schnappte sich noch einen Lolli von der Ladentheke, dann drehte er sich um und verließ den Laden.

"Was guckst du so dämlich", fragte er Sven mürrisch. "Nur weil wir auf der Straße leben und Schutzgelder kassieren sind wir noch lange keine Unmenschen."

Sven wollte noch etwas darauf erwidern, doch sie wurden von einem Jungen unterbrochen, der hektisch auf sie zugelaufen kam.

"Spike! Spike!" rief er atemlos und ruderte mit den Armen.

"Was ist?" fragte Spike knapp.

"Avengers", brachte der Junge nur hervor.

"Wo?" Spike zerbiss wütend den Lolli. Wortlos deutet der Junge auf die nächste Seitenstraße.

Wütend stapfte Spike los und Sven, Wildfire und Moonshadow hinterher.

Wie der Junge gesagt hatte, befanden sich auf den Hinterhof mehrere Avengers. Sie hatten mitten auf der freien Fläche einen wackeligen Tisch aufgestellt, auf dem ein großes Schild angebracht war: Luftsteuer 10 Nuyen. Mit schweren Pistolen in den Händen trieben sie eine Gruppe von Einwohnern zusammen, von denen sie die Abgabe einforderten.

"Aber ich hab doch nichts", jammerte gerade eine alte ausgemergelte Frau.

"He, kein Problem, Alte", höhnte der Avenger mit stacheligen orangenen Haaren, der hinter dem Tisch saß. "Du mußt die Steuer ja nicht bezahlen. Mußt nur aufhören zu atmen."

Seine Kumpane quittierten die Meldung mit lautem Gegröle.

Spike wollte wütend losstürmen, doch Sven hielt ihn am Arm zurück. "Warte, Spike."

"Was ist denn noch?" wollte der Troll unwillig wissen.

"Schau mal da oben", meinte Sven und deutete auf eines der Dächer, wo ein Kopf und der Lauf eines Gewehres zu sehen war. Spike knurrte gereizt. "Den hätte ich übersehen."

"Ich kümmere mich darum", erklärte Wildfire und nach einem Nicken von Sven verschwand sie im nächsten Hauseingang. Sie mußten auch gar nicht lange warten, bis der Kopf des Heckenschützen plötzlich verschwand. Gleich darauf war wieder jemand zu sehen, doch Sven konnte Wildfire erkennen, die ihnen kurz zuwinkte.

"Jetzt können wir", meinte Sven.

"Endlich", grunzte Spike und stapfte mit großen Schritten los. Sven folgte ihn dicht auf, während Moonshadow in Deckung blieb. Ein nervöses Murmeln ging durch die Avengers, als sie den Troll auf sich zukommen sahen, doch sie fanden ihr Selbstvertrauen schnell wieder. Sven bemerkte, wie einige einen Blick Richtung Dach warfen.

Direkt vor dem Tisch blieb Spike stehen.

"Ah, Spike", grüßte der Avenger mit einem breiten Grinsen. "Bekommen wir von dir auch die Abgabe?" Er fühlte sich völlig sicher.

Spike ballte die Fäuste, stützte sie auf die Tischplatte und beugte sich zu dem Sprecher hinunter, bis sein Kopf nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war.

"Das einzige was du von mit bekommt, Punkhead, ist meine Faust in deine Fresse", erwiderte Spike ganz ruhig.

Punkhead schluckte kurz, doch dann kehrte das Grinsen auf sein Gesicht zurück.

"Aber Spike, wer wird denn so unhöflich sein. Und du wirst doch nicht wirklich Hand an mich legen?"

"Stimmt. Ich sollte meine Fäuste nicht mit dir beschmutzen", meinte Spike, dann stieß er seine Stirn krachend auf den Nasenansatz von Punkhead. Mit einem erstickten Schmerzensschrei kippte dieser nach hinten. Spike wischte mit einer Bewegung seiner mächtigen Hand auch noch seinen Nachbarn aus dem Sessel.

Im gleichen Moment faßte Sven schnell die Waffenhand des Avengers, der neben ihm stand, drehte ihm den Arm auf den Rücken und entwand ihm die Pistole. Wie ein Schild hielt er ihn vor sich und zielte mit der Waffe auf seine Kumpanen, die ziemlich überrumpelt erst jetzt ihre Waffen heben wollten. Wildfire feuerte noch einen Warnschuß vor ihre Füße ab, dann war alles auch schon wieder vorbei. Die Avengers ließen ihre Waffen fallen und hoben die Hände.

Spike stieg gemächlich über den Tisch, packte Punkhead am Kragen und zog ihn in die Höhe.

"Hör mir mal genau zu Punkhead. Ich gebe dir exakt 2 Minuten, um mit deinem Pack unser Gebiet zu verlassen. Und wenn ich deine Visage noch einmal auf T-Bird Gebiet sehe, schick ich Big Al deine Eier in einem Gurkenglas. Hast du mich verstanden?"

Punkhead nickte eifrig. In Rekordzeit waren die Avengers verschwunden. Ihre Waffen blieben zurück. Erst jetzt kam Sven dazu nachzusehen, warum ihm die Pistole so vertraut in der Hand lag. Es war eine Ares Predator. Das gleiche Model, das er früher beim Guardian Angel Sicherheitsdienst verwendet hatte. Sogar das Magazin war voll. Grinsend schob Sven die Waffe in seinen Hosenbund. Auch Wildfire hatte Beute gemacht. Als sie wieder zu ihnen stieß, trug sie ein Colt Sturmgewehr mit einem Tragriemen um die Schulter.

"Und was war mit dir, Magierin?" fragte Spike bissig Moonshadow. "Du hast dich ja ziemlich zurückgehalten."

"Es war ja nicht nötig", meinte sie lakonisch und wandte sich ab. Hinter ihr ging das Luftsteuerschild in Flammen auf.

***


"Das kann so nicht weitergehen", schimpfte Spike und schlug wütend mit der Hand auf die Tischplatte, die bedrohlich knirschte. "Diese verdammten Avengers glauben, sie könnten uns auf der Nase herum tanzen. Das ist jetzt das vierte Mal in nur zwei Wochen, daß sie in unser Gebiet eindringen."

"Ich weiß, ich weiß", meinte Ghost beschwichtigend und grübelte weiter vor sich hin. Gerade hatte ihn Spike über die Luftsteueraktion berichtet. Sven und Wildfire standen an der Tür und warteten während die Ranghöchsten T-Birds beratschlagten, wie sie den laufenden Übergriffen der Avengers begegnen sollten.

"Hawk, du fährst rüber zu Big Al und handelst ein Zusammentreffen aus."

Spike ließ ein unwilliges Grunzen hören.

"Willst du meine Entscheidungen irgendwie kommentieren, Spike?" fragte Ghost den Troll, der zusammen zuckte.

"Nein, Ghost", erwiderte er schnell.

"Glaub mir, wenn Big Al unbedingt Krieg haben will, wird er ihn auch bekommen. Aber vorher rede ich noch einmal mit ihm."

Damit war die Besprechung zu Ende. Die drei verzogen sich in den großen Gemeinschaftsraum.

"Tara ist hier", murmelte Wildfire nach einer Weile und nickte ins Halbdunkel. Sven folgte der Richtung und fand das trotzige Mädchen wie sie heftig mit einem der jüngeren T-Birds herumknutschte, der ihr ständig an den Busen grapschte.

"Und sie schielt immer wieder zu uns herüber", ergänzte sie.

"Mhm", nickte Sven, mußte sie aber verbessern. "Sie beobachtet aber mehr Moonshadow als uns beide."

Falls die dunkle Elfe das Verhalten von Tara ebenfalls bemerkte, äußerte sie sich nicht dazu.

***


Zwei Tage später war das Treffen mit den Avengers angesetzt. Wie üblich fand es im McHugh's statt, denn das Fast Food Restaurant war ein allgemein anerkanntes neutrales Gebiet. Ghost trat durch die große Tür aus bruchsicherem Glas, dicht gefolgt von zwei T-Birds und Spike. Dahinter kamen Sven und Wildfire.

Während sich Ghost an den großen runden Tisch genau in der Mitte des Gästebereiches setzte, hielt Spike mit einer Hand die Tür auf. Die wenigen Gäste wußten, was damit gemeint war und verließen eilig das Lokal. Danach stellte sich der Troll direkt hinter Ghost während sich die zwei T-Birds und Sven und Wildfire in der Hälfte des Lokales verteilten.

Kurz darauf kündigten dröhnende Motoren die Ankunft der Avengers an. Punkhead und ein weiterer Ganger rissen die Eingangstür auf und stellten sich beiderseits der Tür hin, dann betrat ein Zwerg das Lokal und musterte genau alle Anwesenden. Schließlich kam Big Al, der von zwei Orks begleitet wurde. Ohne den T-Bird auch nur einen Blick zu würdigen, ging der stämmige Ork zu der Verkaufstheke und holte sich mehrere Burger. Er markierte ganz bewußt den starken Mann. Ghost ließ sich davon nicht beeindrucken und wartete, bis sich Big Al an die gegenüberliegende Seite des Tisches gesetzt hatte. Die Avengers verteilten sich unterdessen in ihrer Hälfte des Lokales.

Sven achtete mehr auf den Begleitschutz von Big Al, als auf das Gespräch zwischen den beiden Gangleadern. Für einen kurzen Moment fühlte er sich wieder in seinen alten Job versetzt und ein melancholisches Lächeln verirrte sich auf seine Lippen.

Plötzlich kam eine Blondine ins McHugh's. Ihr wasserstoffblondes Haar umrahmte das püppchenhafte Gesicht mit den großen blauen Augen und dem breiten, rot geschminkten Schmollmund. Die langen Beine endeten in einem mehr als knapp sitzenden schwarzen Kunstlederminirock und die enge Lackbluse ließ durch einen großzügigen Ausschnitt über ihrer üppigen Oberweite tiefe Einblicke zu.

"Big Al, ich ..." begann sie, doch Big Al unterbrach sie grob. "Nicht jetzt, du dämliche Schnalle. Du solltest doch draußen warten."

Die Blondine zuckte wie unter einem Hieb zusammen. "Aber ..."

"Kein Aber", rief Big Al wütend. "Raus!"

So schnell es ihre hochhackingen Stiefeln zuließen verließ die Frau wieder das Lokal und Big Al wandte sich wieder Ghost zu. "Wo waren wir stehengeblieben?"

Sven und Wildfire wechselten einen schnellen Blick. Ja, beide hatten sie in der Braut des Avenger Anführers Schwester Mercy aus dem Stadion erkannt.

***


"Und ihr seid euch dabei sicher?" fragte Moonshadow, als sie wieder im Quartier der T-Birds waren.

"Absolut", versicherte Wildfire.

"Kein Zweifel möglich", bekräftigte Sven. "Es war definitiv die Krankenschwester aus dem Stadion."

Die Elfe lehnte sich in die Couch zurück und überlegte.

"Was seid ihr denn schon wieder am tuscheln?" fragte Tara neugierig, die unbemerkt näher gekommen war.

"Wir tuscheln nicht", entgegnete Wildfire. "Und selbst wenn, würde es dich nichts angehen."

Tara zeigte ihr angriffslustig die Zähne und setzte sich demonstrativ zu ihnen.

"Muß das sein?" fragte Wildfire sichtlich genervt.

"Ja", entgegnete Tara trotzig und verschränkte die Arme. "Was willst du dagegen machen?"

Wildfire verdrehte die Augen und seufzte. An Taras triumphierendem Grinsen konnte man erkennen, daß sie dies als Punkt für sich verbuchte.

"Ich denke, wir können davon ausgehen, daß sie mit ihm zusammen ist", meinte Sven, der beschlossen hatte, das Mädchen einfach zu ignorieren. Vielleicht verschwand sie von selbst, wenn sie keine Beachtung von ihnen erhielt.

"Oder daß sie zumindest zu der Gang gehört", ergänzte Wildfire.

"Das heißt: Finden wir die Gang, finden wir auch sie."

"Stimmt. Dann müssen wir jetzt nur mehr jemanden finden, der den Unterschlupf der Avengers kennt."

Bei diesen Worten begann Tara von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Die drei wechselten untereinander fragende Blicke.

"Okay, Tara", meinte schließlich Moonshadow. "Du bekommst deine Chance."

***


Mitten in der Nacht standen sie auf dem Dach eines Haus, gegenüber dem Unterschlupf der Avengers.

Wildfire musterte angestrengt die Zimmer, die sie von hier aus sehen konnten.

"Nichts", meinte sie schließlich. "Ich kann sie nicht finden."

"Bist du dir sicher, daß sie mit Big Al zusammen ist, Tara?" fragte Sven das Mädchen.

"Ganz sicher", nickte Tara. "Drei Tage nachdem ihr aufgetaucht seid, hatte Big Al das Blondchen das erste Mal in seinem Bett. Seither besorgt er es ihr immer wieder. Und am liebsten von hinten."

Sven war etwas verblüfft von der Direktheit, mit der Tara es aussprach.

"Da ist Big Al", sagte Wildfire in den Moment. Und richtig. Der stämmige Ork hatte sein Zimmer im obersten Stock des Hauses betreten. Aber von Schwester Mercy war immer noch keine Spur zu erkennen. Big Al lümmelte sich in einen großen Stuhl und starrte in das Trideogerät, während er ein Bier nach dem anderen in sich hineinlaufen ließ.

"Das wird so nichts", meinte Wildfire nach einer halben Stunde. "Wir müssen hinüber und sie suchen."

Sven nickte, aber Tara sagte abfällig. "Ach ja, und ihr wollt einfach so hinüber marschieren?"

"Das hat keiner gesagt", entgegnete Wildfire und knotete eine Schlaufe in das Ende des mitgebrachten Seils.

"Diese langweiligen Trideoprogramme mit ihren ständigen Wiederholungen", sagte Moonshadow mit einem hintergründigen Lächeln. "Die sind ja richtig zum Einschlafen."

Die Elfe blies leicht über ihre ausgestreckte Handfläche, als ob sie Sand wegblasen wollte und auf der anderen Straßenseite sank der Kopf von Big Al auf seine breite Brust. Anschließend gestikulierte Moonshadow mit den Händen und das Seil begann sich wie eine Schlange zu winden. Es bog sich hin und her, streckte sich in die Höhe und glitt schließlich lautlos durch die Luft, quer über die spärlich beleuchtete Gasse und legte sich um einen der Kamine.

"Fertig", erklärte Moonshadow und mußte kurz über die großen staunenden Augen von Tara lächeln. "Vergeßt nicht: Nur solange ihr in meinem Blickfeld bleibt, kann ich euch mit meinen Zaubern schützen."

"Keine Sorge", sagte Wildfire und band das Seil auch auf ihrer Seite an einen Schornstein. Dann hakte sie ihren Klettergurt in das leicht schräg sitzende Seil ein, ließ sich mit dem Rücken nach unten hängen und zog sich nach oben. Unbemerkt kam sie auf der anderen Seite an, überzeugte sich, daß die Luft rein war und winkte Sven. Dieser folgte ihr auf die gleiche Weise. Leise schlichen sie die Feuerleiter eine Etage nach unten und glitten in das Zimmer von Big Al.

Er war alleine. Aus dem Trideo plärrte irgendeine Speed-Punkrock Sängerin, doch der Avenger Anführer schlief tief und fest. Zur Sicherheit fesselten sie ihm die Hände und Füße und klebten ein Stück Klebestreifen über den breiten Mund.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Schwester Mercy betrat ahnungslos den Raum. Sie hatte die Tür bereits wieder halb hinter ihr geschlossen, als sie die beiden ungebetenen Gäste bemerkte. Ihre Augen weiteten sich und sie holte schon Luft, um Hilfe zu rufen, doch Wildfire reagierte schneller. Sie sprang hinter die Blondine, umfaßte sie mit dem linken Arm und preßte ihr die rechte Hand auf den Mund. Sorgsam lehnte sie sich gegen die Tür, so daß diese ins Schloß fiel.

Mercys Augen waren weit aufgerissen und sie zitterte unkontrolliert am ganzen Körper. Doch Wildfire hielt sie unerbittlich fest und ließ ihr nicht den geringsten Freiraum.

Sven kam näher und flüsterte: "Haben sie keine Angst, Schwester Mercy. Wir wollen nur mit ihnen reden. Es wird ihnen nichts geschehen, wenn sie sich beruhigen und nicht schreien."

Da weder Sven noch Wildfire irgendwelche Anstalten machten, sie zu mißhandeln oder ihr zu schaden, begann sie Svens Worten zu vertrauen. Langsam bekam sie sich wieder in den Griff und ihre Panik ebbte ab. Das Zittern ließ nach, ihr Atem ging nicht mehr so hektisch und die blauen Augen nahmen allmählich wieder normale Ausmaße an.

"Ich werde jetzt meine Hand von ihrem Mund nehmen", erklärte Wildfire mit leiser Stimme. "Sie werden nicht um Hilfe rufen. Einverstanden?"

Mercy nickte und Wildfire löste langsam ihre Hand, hielt sie aber weiterhin fest.

"Was ist mit Al?" wollte Mercy wissen. Sie bemühte sich redlich, sich zu beherrschen und leise zu sein, aber ihre Stimme kippte trotzdem.

"Es geht ihm gut", erklärte Sven. "Er schläft nur."

Diese Mitteilung beruhigte sie noch mehr.

"Ich erkenne sie. Sie beide. Sie waren auch in diesem Stadion. Sie haben an den Schaukämpfen teilgenommen."

"Ja, das stimmt", bestätigte Sven. "Und genau darüber möchten wir mit ihnen sprechen."

Mercy nickte

"Sie waren doch schon länger dort, nicht war", fragte Sven.

Mercy nickte erneut. "Fast zwei Jahre."

"Wurden sie auch entführt?"

"Eigentlich nicht. Mir wurde per Mail eine gut bezahlte Stelle in einem Krankenhaus angeboten. Natürlich habe ich sofort angenommen, weil ich nie mit so was gerechnet hätte. Vor allen, da ich kurz vorher meine medizinische Ausbildung im letzten Abschnitt abgebrochen hatte."

"Ist Ihnen das nicht ein wenig komisch vorgekommen?"

"Doch schon, aber was hätte ich sonst tun sollen? Ich war froh überhaupt eine Stelle zu bekommen, denn ich war zu dem Zeitpunkt hoch verschuldet und die Polizei saß mir im Nacken. Ich habe keine Fragen gestellt. Auch dann nicht, als sie mir diese Mördertitten verpaßt, die Lippen aufgespritzt und das Haar gebleicht haben. Mein Name ist auch nicht Mercy, sondern Dominique."

"Woher kommen sie, Dominique?"

"Toronto."

"Sind sie jemals ihrem 'Boß' begegnet? Oder sonst jemanden, der eine wichtige Position inne hatte?

"Nein. Nur diesem Henry und den Wachen."

"Wissen sie, wer hinter all dem steckt? Wer war dafür verantwortlich?"

"Nein, das weiß ich nicht."

Sven war frustriert. Anscheinend konnte Mercy, oder besser gesagt Dominique, ihnen auch nicht weiterhelfen. Wildfire sah das aber anders.

"Lüg' nicht", zischte sie Dominique wütend ins Ohr.

Sven war von dem unerwarteten Ausbruch Wildfires vollkommen überrascht. Dominique hingegen warf es aus der Fassung.

"Ich weiß es wirklich nicht", versicherte sie panisch und ihre Stimme kippte wieder.

"Du verdammtes Miststück", fluchte Wildfire und bevor Dominique schreien konnte, hielt sie ihr wieder den Mund zu. "Sag was du weißt! Spuck's schon aus! Du hast mit ihnen zusammen gearbeitet"

Außer sich spannte Wildfire ihre Muskeln und schüttelte Dominique wild. Die Umklammerung wurde immer enger und schnürten ihr die Luft ab. Dominiques Augenlieder begannen unkontrolliert zu flattern.

Sven, immer noch verwirrt, legte beruhigend die Hand auf Wildfires Arm.

"Wildfire."

Wütend blitzte sie ihn an.

"Wildfire", wiederholte Sven beschwörend. "Laß es. - Bitte."

Endlich schien ihr zu Bewußtsein zu kommen, was sie tat. Erschreckt lockerte sie ihren Griff und zog die Hand von Dominiques Mund. Verzweifelt schnappte die ehemalige Krankenschwester nach Luft. Kraftlos hing sie in Wildfires Arm und Tränen rannen ihr über die Wangen.

"Warum haßt ihr mich so?" schluchzte sie. "Ich habe doch alles getan, um euch zu helfen? Ich wollte doch nur eine gute Medizinerin sein."

Das traf Wildfire mehr, als ein körperlicher Angriff. Sie öffnete ihren Griff und Dominique wäre gestürzt, wenn Sven sie nicht aufgefangen hätte. Er setzte sie vorsichtig auf den Boden während Wildfire betreten daneben stand.

"Glaubt ihr, mir ist es besser ergangen als euch? Ich hatte doch nur das kleine Behandlungszimmer, in dem ich die Gladiatoren zusammen flicken mußte. Nur damit sie ein paar Tage später wieder auf meinem Tisch lagen. Und ich habe so viele verloren. Ich konnte ihnen nicht helfen."

Unschlüssig stand Sven neben Dominique. So hatte er sich die Aktion wirklich nicht vorgestellt.

"Kommen sie, Dominique. Wir bringen sie von hier weg."

"Nein, ich will hier nicht weg. Al gibt mir das Gefühl etwas wert zu sein. Auch wenn er mich Schnalle oder dumme Pute nennt. Aber es liegt ihm etwas an mir."

Auf allen Vieren kroch Dominique hinüber zu dem immer noch schlafenden Ork und bettete seinen Kopf zärtlich in ihrem Schoß. Die Tränen liefen ihr ungehindert über die Wangen und zeichneten mit der Wimperntusche häßliche Bahnen.

"Laß uns gehen", raunte Sven Wildfire zu, die nur stumm nickte. Er löste Big Als Fesseln und entfernte auch das Klebeband.

"Falls sie noch was brauchen, lassen sie es uns wissen. Sie finden uns bei den T-Birds", sagte er noch zu Dominique, die nur gleichgültig nickte. Dann schlüpfte er durch das Fenster nach draußen.

Wildfire hockte sich kurz neben Dominique und legte ihr die Hand auf die Schulter.

"Es tut mir leid. Ehrlich."

***


Besorgt musterte Sven Wildfire, die etwas abseits lag. Sie hatte sich von ihm weg gedreht und starrte gegen die Wand. Dieser Wutausbruch vorhin sah ihr so gar nicht ähnlich. Mit einem unguten Gefühl erinnerte er sich an ihre Flucht aus dem Stadion. Damals wäre sie lieber freiwillig in das Gewehrfeuer der Wachen gelaufen, als zu kapitulieren. Danach war sie genauso schweigsam und schwermütig gewesen wie jetzt. Und genauso ratlos und unsicher wie damals, fühlte er sich auch jetzt wieder.

"Sven?" hörte er sie schließlich leise fragen.

"Ja, Wildfire. Ich bin hier."

"Es tut mir leid, was da vorhin passiert ist."

Sven konnte in ihrer Stimme erkennen, wie sehr es an ihr nagte. "Schon gut. Du hast ein wenig die Nerven verloren, das ist alles."

Wildfire seufzte leise. "Ich wurde ausgebildet, auch in Stresssituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich sollte nicht so sehr ausrasten."

"Diese Entführungsgeschichte geht dir mehr zu Herzen, als du zugeben willst, nicht war?"

Wildfire nickte. Sven rückte näher und kraulte sanft ihren Nacken. Ein paar Minuten vergingen.

"Ich konnte die Geiseln und Entführungsopfer, die wir früher befreit haben, nie so wirklich verstehen. Viele haben es ein Leben lang nicht verkraftet. Manche haben sogar durchgedreht.

So wie ich. Und das macht mir Angst."

Sven spürte, wie sie zitterte.

"Keine Sorge, das wirst du nicht. Du bist stark. Und ich werde dir helfen."

Sven rückte an Wildfire heran und legte tröstend seinen Arm um sie. Erleichtert kuschelte sie sich an ihn.



Will jemand wissen, wie die Abenteuer von Sven und Wildfire und in der Welt von Shadowrun weiter gehen? Bei Interesse wird vielleicht fortgesetzt.
Für Anregungen, ehrliche Meinungen und konstruktive Kritik bin ich jederzeit aufgeschlossen.



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