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WAS GRÖSSER IST ALS EINE LAUS...

von Susanne Stahr



Als es vor ihr am Boden glitzerte, bückte sich Louise und hob die silbrige Scheibe auf. Eine automatische Bewegung. Sie konnte gar nicht anders.

Was mochte das nur sein? Eine dünne Scheibe, vielleicht aus Silber, in die seltsam verschlungene Ornamente getrieben waren. Nein, das war keine Münze, wie sie zuerst gedacht hatte. Eher noch Teil eines orientalischen Schmucks. Das winzige Loch am Rand der Scheibe deutete darauf hin, dass sie an irgendetwas befestigt gewesen war. Eine Kette? Ein Kopftuch?

Lächelnd schob Louise die Scheibe in ihre Tasche. Wie hatte ihre Mutter immer gesagt? Was größer ist als eine Laus, das hebt man auf und trägt's nach Haus. Louise hatte sich immer daran gehalten, trotz allen Spottes und Kopfschüttelns ihrer Familie und Freunde.

Irgendwann hatte sie begonnen, ihre Fundstücke zusammen zu stecken. Hier ein Schlüsselanhänger, da eine abgebrochene Antenne, ein bunter Draht, eine leere Dose .... Mit Sekundenkleber befestigte sie die Teile aneinander. Langsam wuchs daraus ein skurriles Gebilde.

Immer, wenn sie unterwegs war, suchten ihre Augen die Gehsteige und Straßenränder nach Ergänzungen für ihr Werk ab. es wurde langsam zur Sucht.

Auf die Frage ihrer Freunde, was das sei, antwortete sie jedes Mal lächelnd: "Das ist der Gott der Müllhalde. Wenn er mächtig genug ist, wird er ein Opfer fordern."

"Ein Opfer?", wurde sie dann meist gefragt. "Was willst du ihm opfern?"

"Etwas sehr Wertvolles!", kam dann ihre stereotype Antwort.

Das gab jedes Mal eine Menge Gelächter und Kopfschütteln. Louise hatte ihren Spaß daran und sammelte eifrig weiter.

Nun lief sie ungeduldig heimwärts. Die Hand in ihrer Tasche drehte die kleine Scheibe ununterbrochen hin und her. Wo sollte sie sie befestigen?

Endlich stand sie vor ihrem sogenannten Kunstwerk. Ihr Blick glitt liebevoll über das Gebilde. Mit einiger Phantasie könnte man sagen, es habe ein Gesicht. Der schwarze Mantelknopf und dieses rote Zahnrad könnten die Augen sein. Der hellgrüne Eislöffel aus Plastik wäre dann die Nase, eine schiefe Nase, aber immerhin. Und der Mund? Das musste dieser alte Schlüssel sein. Oje! Wenn das der Mund war, sah ihr Gott der Müllhalde gar nicht glücklich aus.

Nachdenklich betrachtete sie das Ding. In letzter Zeit klickte und klapperte es immer wieder darin. Da war wohl etwas locker. Wo nur? Trotz genauer Suche konnte sie keine lockeren Teile entdecken. Nun, dann eben nicht. Sie zuckte mit den Schultern und drückte den letzten Tropfen Kleber aus der Tube und auf die Silberscheibe. Wohin damit? Ah! Zwischen die 'Augen'.

Vorsichtig drückte sie die Scheibe auf das abgebrochene Lineal, auf dem schon der Knopf und das Zahnrad klebten. Es rasselte in ihrem Werk.

Erschrocken zog Louise ihre Hand zurück. "Was soll denn das?", entfuhr es ihr.

"Ich bin der Gott der Müllhalde und fordere ein Opfer!", krächzte das Gebilde. "Etwas sehr Wertvolles!"

"Das gibt's doch nicht", stotterte die Frau. Gelähmt vor Schreck starrte sie auf das Ding.

Die abgebrochene Antenne fuhr aus und versetzte ihr einen elektrischen Schlag. "Ein Opfer!", schnarrte diese kratzige Stimme.

Louise schrie vor Schmerz. Sie wollte flüchten, das Ding in den Mistkübel werfen, um Hilfe rufen. Aber es half nichts. Sie konnte keinen Finger bewegen und aus ihrer Kehle kam kein einziger Laut mehr.

Innerlich geschüttelt vor Entsetzen, nach außen hin aber vollkommen bewegungslos, musste sie zusehen, wie etwas Langes, Spitzes, sehr Scharfes aus dem Gebilde glitt und mit einem ekelhaft satten Geräusch ihre Kehle durchschnitt. Gurgelnd und blutüberströmt sank sie vor dem Gott der Müllhalde zu Boden. Ein sich stetig steigerndes Klappern, Rasseln, Klirren war das Letzte, das sie wahrnahm, bevor sie die ewige Nacht umfing.


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