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VORNAME MISTER

Folge 16

von Fred H. Schütz



Das Ende Maximilians vor den Flinten der Juaristas bedeutete für den Obersten das Ende seiner politischen Karriere; die gesamte Familie war sich dessen schmerzhaft bewußt. Nicht so seltsam wie es scheinen mag, war dagegen, daß es die Prinzessin, die doch als nahe Verwandte das Kaisers am ehesten betroffen schien, völlig kalt ließ.

Cesars Tod traf aber nicht nur Mutter, sondern gleichermaßen Vater und Bruder, und mit ihnen das gesamte Personal der Hacienda im Innersten ihrer Herzen. Selbst Molly, die wahrlich keine gute Erinnerung an Pedros Bruder hatte, fühlte sich tief betroffen. Sie versuchte zu trösten so gut sie konnte, aber wenn man selber Trauer verspürt, ist das schwer. Mister Trecees Gegenwart hätte mit größter Wahrscheinlichkeit geholfen, aber Mister Trecee hatte sie seit dem Abend vor ihrer Abreise von der Hauptstadt nicht mehr gesehen.

Mister Trecee, des war sie sicher, hätte sie noch in anderer Hinsicht beruhigen können, denn sie sorgte sich um Basts Schicksal. Die Soldaten hatten sie zwar in Gesellschaft des Kaisers gesehen, aber was ihr widerfahren war, als die Juaristas angriffen, konnten sie nicht berichten ...

Molly, die von Gemütsbewegungen doppelt so rasch und zweimal so hart angegriffen wurde, als manch anderer, fühlte sich dem Sturm der Gefühle nicht gewachsen, zumal sie nicht ertragen konnte, die Frau, die ihre Schwiegermutter werden sollte und von deren Zuneigung sie sich eingehüllt wußte, leiden zu sehen. So war es wohl nicht sehr verwunderlich, daß sie die Flucht nach vorne antrat und zu den Viehhirten auf die Weide ritt.

Indessen war das Martyrium der Familie Almirante bei weitem nicht zu Ende. Den Überbringern der Hiobsbotschaft sozusagen auf dem Fuße folgte eine Schar verwegener, bis an die Zähne bewaffneter Reiter, angeführt von einem kleinen, stämmigen Mann mit gelblicher Hautfarbe und stechenden schwarzen Augen, der als Zeichen seines Ranges eine mit Goldtressen übersäte Schärpe trug. Die Männer drangen polternd herein und breiteten sich blitzschnell nach den Seiten aus, um alle Ausgänge zu blockieren. Die Waffen hielten sie schußbereit.

Die Familie befand sich gerade beim Abendessen, das in Mexiko üblicherweise sehr spät serviert wird. Das heißt, die Nacht war bereits hereingebrochen und das Eßzimmer allein von Kerzen erhellt, die überall herumstanden und -hingen und dennoch den Raum nicht ausreichend beleuchteten. Man befolgte hier den klugen Brauch, den Duft guter Speisen nicht mit dem Geruch von Petroleumleuchten zu verderben.

Pedro erhob sich und trat den Eindringlingen entgegen. "Die Hüte, General," sagte er scharf, "man betritt ein respektables Haus nicht mit Hüten auf den Köpfen!"

"Respektabel," entgegnete dieser. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte wie über einen guten Witz. Einige seiner Leute eilten herbei und packten Pedros Arme, hielten ihn fest, so daß er sich nicht bewegen konnte. "General, es sind Damen anwesend!"

"Damen!" Wieder lachte der Andere. Er hat ja Säbelbeine, dachte Molly. Ihre Gefühle waren zweigeteilt, schwankten zwischen Amüsement und Angst. Der General sah sich um; sein Blick glitt über Molly hinweg, ohne sie wahrzunehmen, und Molly erschauerte. "Ich sehe nur eine," sagte er im Tonfall einer ungeölten Türangel. "Und die ist abwesend!"

In gewissem Sinne stimmte das. Die Prinzessin saß am Tisch, weil man sie dorthin geführt hatte, apathisch, mit leerem Blick. Conchita stand neben ihr, Gabel in der Hand; sie hatte versucht, sie zu füttern. Einige der Eindringlinge drängten um den Tisch und griffen wahllos von den Speisen von Schüsseln und Tellern, die sie sich in die Münder stopften. Als eine braungebrannte sehnige Hand dicht an ihrem Gesicht vorüberfuhr und Conchita die Gabel wegnahm, zuckte Annette zusammen, hielt aber weiterhin den Blick ins Leere gerichtet.

Molly war ebenfalls zusammengezuckt, als die Eindringlinge Pedro packten, hielt sich aber zurück - Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, Molly! - aber nun war für sie das Maß der Dinge erreicht. Ihr Stuhl polterte rückwärts und fiel krachend zu Boden, als sie aufschrie und mit Sätzen, die - wie Conchita dereinst ihren atemlos lauschenden Töchtern erzählen würde - einem Panther zur Ehre gereicht hätten, auf den Mann zusprang. Sie stieß ihm ihre geballten Fäuste so hart gegen die Brust, daß der Kerl ein, zwei Schritte zurücktaumelte und schrie ihn an, "Sie Schwein! Wie können Sie -"

Die Kameraden des Gedemütigten lachten schallend Der Mann bekam einen roten Kopf, gab einen grunzenden Laut von sich und schnellte vor. Er ergriff Mollys Handgelenke und hielt sie mit eisernem Griff, so daß sie sich nicht befreien konnte, so sehr sie sich wandt. "Willst du spielen, Schätzchen!" Nun war die Reihe zu lachen an ihm.

Gegen die harten Fäuste kam Molly nicht an, so sehr sie sich wehrte. "Sie Dreckskerl," schrie sie voller Wut und ärgerte sich über sich selbst, weil ihr nichts einfiel was die Herkunft des Gesellen genauer beschrieben hätte. Sie hatte für den Abend ein Kleid von der Art angelegt, das in Mexiko als "China poblana" bekannt und berühmt ist - von ihm erzählt die Legende, daß einst eine chinesische Prinzessin in die Sklaverei verkauft wurde und das Schiff, mit dem sie außer Landes gebracht wurde, an der Küste Mexikos zerschellte. Als einzig Überlebende des Unglücks wurde sie in die Hauptstadt gebracht, wo sich der Gouverneur des Staates Jalisco unsterblich in sie verliebte und sie heiratete. Als erste Dame des Landes galt sie als Leitmodell in modischen Dingen und alle Frauen, die Wert auf ihr Aussehen hielten, kopierten auf der Stelle die Tracht, die sie trug - und Molly trug das Kleid, weil es so leicht und luftig war. Gegen die Fäuste ihres Peinigers bot es keinen nennenswerten Widerstand.

"Liebling, bedecke dich!" schrie Pedro, außer sich vor hilfloser Wut und kämpfte mit seinen Wärtern. "Dazu muß ich erst mal die Hände frei haben," schrie sie zurück und wandt sich. "Verdammt!"

Inzwischen hatte sich auch der Oberst erhoben und war bis nahe vor den Anführer der Bande gelangt, ehe rauhe Hände auch ihn ergriffen und festhielten. "General, ich verlange -"

"Ach," säuselte Juarez und ein süffisantes Lächeln umspielten seine Lippen. "Sie, ein Verräter, verlangen? Was denn?" Er war sich seines Sieges so sicher, daß er es sich leisten konnte, wie die Katze mit der Maus zu spielen. "Sagen Sie es mir, bevor ich Sie hinrichten lasse!"

Scheiben klirrten, die Türen flogen auf und ein Türflügel knallte dem Mann, der davor stand, in den Rücken, so daß der seine Flinte verlor und mit einem Schreckenslaut vorwärts taumelte.

Gewehrläufe schoben sich durch die Öffnungen. "Mi Coronel," erklang die Stimme Antonios. Sie klang hart und unerbittlich "Auf Ihr Wort schießen wir die Bande zusammen!"

Fäuste, eben noch eisern in die Arme ihrer Gefangenen gekrallt, erschlafften vor Schreck. Pedro und der Oberst rissen sich los. "Haltet noch zurück," rief Pedro, "zuerst müssen wir die Frauen in Sicherheit schaffen!"

"Nicht bevor ich dieses Schwein in die Hölle schicke!" schrie Molly. Sie hatte sich gleichfalls losgewunden, war herumgefahren und hatte dem Kerl ihre Fäuste ins Gesicht geknallt. Nun krallte sie ihre Finger in seine Gurgel und hielt ihm den Lauf seines eigenen Revolvers an die Stirne. Ihr Gesicht dicht vor dem seinen, durch zusammengepreßte Zähne keuchend, bot sie das Bild eines Racheengels.

"Besudle deine Hände nicht mit dieser elenden Kreatur, mein Liebling," sagte Pedro und trat neben sie. Er legte einen Arm um sie und streckte die freie Hand nach dem Revolver aus. "Gib mir die Waffe." Er nahm sie ihr aus der Hand, spannte den Hahn und zielte auf den Mann. "Knie nieder, du Hund, und bete dein letztes Vaterunser!"

Der Mann taumelte auf die Knie, hob dabei die Arme und wandte seinen Kopf mit zusammen gekniffenen Augen. "Bitte ...," stammelte er.

Der Oberst stand einen Moment steil aufgerichtet, bis sich sein Atem beruhigte. "Nun, General," sagte er kühl, "ich verlange, daß Sie Ihr Gesindel zurückrufen und mit Sack und Pack auf der Stelle verschwinden!"

Der General kniff die Augen zusammen. "Nun," sagte er zögernd, "ich gebe zu bedenken, daß wir in der Übermacht sind! Auch wenn Ihre Leute mich und meine Männer hier im Saal -"

Der Oberst hob die Stimme. "Stimmt das, Antonio?"

"Ha!" Von draußen erklang rauhes Gelächter. "Die Kerle liegen alle stockbesoffen in der Bodega! Unsere Frauen bewachen sie und sorgen mit dem Gewehrkolben dafür, daß sie nicht so schnell erwachen!"

"Sie haben sich doch nicht an meinem Wein vergriffen, oder ..?"

"No, Senor," entgegnete Antonio vergnügt, "sie haben sich über den Tequila hergemacht. Der ist allerdings alle!"

"Den Brummschädel möchte ich nicht haben, wenn die aufwachen!" rief einer der Hirten namens Ernesto, und gleich folgte ihm Garibaldo mit drohendem Ton, "Wenn sie erwachen!" Molly kannte die beiden; es waren Kerle, die sich ständig wegen irgendeiner Kleinigkeit in den Haaren lagen, aber nie die gute Laune darüber verloren. Die Drohung dürfte also so ernst nicht gemeint sein, aber das wußte der General nicht ...

"Nun, General?" sagte der Oberst und gönnte sich dabei einen etwas spöttischen Tonfall.

Juarez, sichtlich angeschlagen, tat einen tiefen Atemzug, atmete aus. "Nun -"

"Nun, meine Herren," sagte Mister Trecee in seiner unnachahmlich milden Art. Er kam die Treppe herunter geschlendert, als habe er sich gerade von einem erquickenden Schläfchen erhoben. Auf einer der unteren Stufen blieb er stehen und sah sich von dieser erhöhten Warte aus im Saale um. "Meinen Sie nicht, General, es sei an der Zeit, Ihre Männer nach draußen zu schicken?"

Beim Erklingen seiner Stimme schien die Prinzessin zu erwachen. Ihre Züge erhellten sich als sie ihn ansah. "Senor Santangel!" Ihre Stimme klang schwach.

Er lächelte ihr zu. "Meine Liebe," und kam die restlichen Stufen herunter. Während die Leute des Generals gesenkten Hauptes den Raum verließen, ohne seine Order abzuwarten, und sich draußen von Antonio und seinen Männern widerstandslos entwaffnen ließen, näherte sich Mister Trecee der leidenden Frau. "Meine Liebe," wiederholte er und ergriff ihre Hände, die er zu seinen Lippen führte. "Ihre Trauer ist meine Trauer, aber in Ihrem Zimmer werden sie etwas finden, das Ihren Schmerz lindert. Conchita," sagte er zu dieser gewandt, "wollen Sie der Senora helfen?"

Conchita zuckte zusammen, als sie seinen unheimlichen Blick auf sich ruhen fühlte, raffte sich aber zusammen, tat einen schnellen Knicks, und legte ihren Arm um ihre geliebte Herrin. Jetzt erst sah sie sie weinen; das ist gut, dachte sie, die Tränen würden ihre Seele reinigen ...

Mister Trecee sah den beiden einen Augenblick lang nach und kehrte sich dann der kleinen Gruppe im Saal zu. Als sein unheimlicher Blick auf ihr ruhte, spürte sie, wie sich der zerrissene Stoff über ihrem Busen zusammenfügte. Sie nahm die Hände von der Stelle, die sie schützend über die Blöße gelegt hatte und streckte sie ihm entgegen. "Danke, Mister Trecee!"

Galant nahm er ihre Hand und hauchte einen Handkuß darüber. "Aber nein, Miss Molly, ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet!" Wie immer, wenn er sie berührte, fühlte sie sich wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Warum tat er das, fragte sie sich; belohnte er sie für eine gute Tat? Wenn ja, was hatte sie getan? Er hatte sie benutzt, um eine schlimme Tat, nämlich den Mord an den zwei feinen Menschen, die sie lieben gelernt hatte, ungeschehen zu machen - aber wie er das bewerkstelligt hatte, war ihr verborgen geblieben.

Dafür hatte derjenige, der die Morde verübt hatte, sie aber aus genauso unerfindlichen Gründen dann doch nicht ausführte, sein Leben gelassen? Warum? War das ausgleichende Gerechtigkeit? Sie seufzte; es blieb ihr keine Gelegenheit, ihre Zweifel in Worte zu fassen. Er sei ihr dankbar, hatte Mister Trecee gesagt und sich abgewandt.

Er wandte sich den drei Männern zu, die, eben noch bereit, einander den Garaus zu machen, ihm nun in offenkundiger Verblüffung entgegenstarrten. "Nun, meine Herren," sagte er leutselig, "wie ich sehe, sind Sie sich bereits handelseinig!"

"Handelseinig? Inwiefern?" knurrte der General, und "Wieso?" fragten Vater und Sohn wie aus einem Mund.

"Aber, General, Sie wollen Ihr Licht doch nicht unter den Scheffel stellen?" lachte Mister Trecee vergnügt. "Sie wissen sehr genau, daß die Zusammenarbeit mit einer in Mexiko so hochgeachteten Familie wie die Almirantes Ihnen Türen und Tore auf dem Weg in die Präsidentschaft öffnet!"

"So, und was soll -" begann Pedro, bei dem der Zorn nicht so schnell weichen wollte, aber sein Vater gab ihm einen heimlichen Knuff in die Seite und Pedro verstummte. Der alte Fuchs sah den Türspalt, der zur weiten Pforte in die Zukunft der Almirantes werden sollte. Er zeigte Zähne, wie ein Wolf, der beim Anblick einer allein gelassenen Schafherde lächelt. "Nun, Senor Presidente?"

Mag sein, daß der Rachedurst noch heiß in Juarez brannte, oder vielleicht wollte er auch nur das Gesicht wahren. "Aber Sie sind - Sie waren - der Kaiser -"

"Dem Kaiser treu?" Mister Trecee hob die Augenbrauen. "Natürlich, denn als Soldaten haben sie den Treueeid auf die Fahne Mexikos geleistet, und solange der Kaiser dem Land vorstand, waren sie ihm verpflichtet. Aber was dem Kaiser billig, muß dem Präsidenten teuer sein; ihre Treue gilt noch immer Mexiko!"

Juarez war viel zu klug, um nicht das goldene Ei zu erkennen, das man ihm zuwarf. Er bot den Almirantes die Hand und Vater und Sohn schlugen ein. Der Abend, der in Feindschaft begonnen hatte, wandelte sich, zwar nicht zu inniger Freundschaft, aber zur fruchtbaren Zusammenarbeit. Alsbald entwickelte sich ein heiß geführter Dialog, indem Pläne geschmiedet, verworfen und neue begründet wurden, auf deren Grundlage eine demokratische Zukunft für das Land entstehen sollte.

Das waren Geistesblitze, die sie einander wie Spielbälle zuwarfen, sie drehten und wendeten und, neu gestaltet oder in gleicher Fassung, zurückwarfen; die wie Seifenblasen zerplatzten oder, allseits bewundert, wie Puzzlesteine in ein neues Gerüst gefügt wurden; die endlich, lange nach Mitternacht, gekittet und in sich gefestigt, ein prachtvolles Gebäude bester Staatskunst ergaben und sich die ehemaligen Gegner, erschöpft aber untereinander und mit sich selbst höchst zufrieden, zur Ruhe begaben. Bis dahin waren Molly und Mister Trecee völlig vergessen.

Die beiden sahen dem geschäftigen Treiben eine Weile schweigend zu. Sie saßen am anderen Ende der Tafel, eine Karaffe von des Obersten besten Weines in Reichweite. Mister Trecee trieb sein Spielchen mit einem Gläschen Weinbrand, den er wohl von irgendwoher herbei gezaubert hatte, und der unvermeidlichen Zigarre; er schien sich köstlich zu amüsieren. Indessen war Mollys Aufmerksamkeit von der "Posse", von der sie mehr erriet, daß sie wichtig war als wirklich verstand, ermüdet abgewandert und ihre Gedanken kreisten um die Dinge, die sie bedrückten. Als sie seufzte, legte Mister Trecee seine Hand auf die ihre, und diesmal durchfuhr sie kein Schock, sondern ein Gefühl außerordentlicher Wärme. "Sie sollten sich freuen, Miss Molly, denn dank ihrer Hilfe hat sich alles zum Guten gewendet."

Sie zitterte. "Aber Cesar ist tot --"

"Das war unvermeidlich," entgegnete er im Tonfall höchstens Bedauerns. "Er hat für eine Sünde gezahlt, zu der er von Doktor Soo verführt wurde. Und ihn kann auch ich nicht immer von seinen schrecklichen Taten abhalten."

Sie sah auf, suchte in seine unergründlichen Augen zu sehen, und mußte den Blick doch wieder abwenden, wollte sie nicht in deren Abgrund versinken. "Und Bast ..?"

Er seufzte, wog bedauernd den Kopf. "Ja, da mache ich mir auch Sorgen. Sie ist in ihre Zeit zurückgekehrt und deshalb muß ich Sie auch gleich verlassen. Ich muß sie daran hindern, sich selbst zu begegnen, denn sonst -" Er ließ den Satz unvollendet und da sie nichts zu entgegnen wußte, saßen sie schweigend beieinander, bis sie sich zum Schlafen zurückzog. Sein "Gute Nacht, Miss Molly" waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte.

Am Morgen war er verschwunden und sie hatte die Gelegenheit verpaßt, ihm vorzutragen, was sie am meisten bedrückte ...

Mit dem Morgengrauen begann, wie auf dem Lande üblich, geschäftiges Treiben auf der Hacienda. Die Gäste wurden reichhaltig bewirtet und Juarez saß noch eine Weile mit den Almirantes bei einem Schälchen Frühstücksschokolade, bis seine Männer, mit schweren Köpfen zwar, aber mit frischen Remonten versehen, sich reisefertig vorstellten. Mit dem General in seiner stattlichen Kutsche voran, verließ die Kolonne, noch nicht ganz sattelfest aber guten Mutes, das Gehöft. Mit Juarez fuhr der Oberst, der als Mediator zwischen dem General und den führenden Staatsmännern des Landes dienen sollte. Ihr Ziel war die Hauptstadt. Auch die beiden Kavalleristen, die dem Gemetzel in Querétaro entkommen waren, beteiligten sich als Adjutanten des Obersten an der Reise.

Dem Troß auf dem Fuße folgte Molly. Untätig in der Hacienda zu verweilen wäre ihr unmöglich gewesen. Sie mußte sich auf irgendeine Weise beschäftigen, und deshalb ritt sie hinaus zu den Viehhirten, nunmehr angetan mit einem Prachtanzug, wie ihn Vaqueros an Feiertagen trugen. Nur die wagenradgroßen Filzhüte fand sie zu schwer und behielt den Strohsombrero.

Der berühmte Maler Diego de Rivera soll sie in dieser Tracht gemalt haben, aber wenn dem so ist, muß er das Portrait nach einer Schwarzweißphotographie gefertigt haben, denn die Frau, die es darstellt, zieren keine roten Haare.

Sie ritt jetzt meistens allein, weil Pedro die ganze Last der Gutsführung zuviel, und deshalb hatte er wenig Zeit, sie zu begleiten. Viel zu wenig Zeit, wie er fand, denn in einem Land, in dem man bis übermorgen schauen kann, wenn man gute Augen hat, bedeutet Alleinsein ganz ohne Hilfe dazustehen, wenn man Hilfe braucht. Dazu bedurfte es nicht einmal eines Unfalls, bei dem sie oder ihr Pferd sich so verletzten, daß sie nicht mehr von der Stelle kam. Das Land war unbefriedet und Banden durchzogen es, die blitzschnell aus dem Hinterhalt auftauchten und wieder verschwanden. Für sie wäre ein einzelner Reiter, zumal wenn es eine Frau war, leichte Beute gewesen. Deshalb drang er in sie, sich zu bewaffnen.

Nur halb überzeugt, stimmte sie zögernd zu. Er zog seinen Revolver, zeigte ihr, wie man den Hahn spannt und ließ die Waffe vorschnellen - "als würdest du mit dem Finger deuten." Der Schuß krachte und die Kugel riß den Zweig ab, auf den er gezielt hatte. "Nun du," sagte er und reichte ihr die Waffe. Aber Revolver sind wohl nur für harte Männerfäuste gemacht; sie mußte alle Kraft aufwenden, um den Hahn zu spannen und als sie es Pedro nachtun wollte und mit der Hand vorschnellte, rutschte ihr das schwere Ding zwischen den Fingern hindurch und fiel zu Boden. Der Schuß ging sozusagen nach hinten los.

Er hob die Waffe auf und steckte sie weg. "Nimm nur ja nie wieder einen Revolver in die Hand!" Bleich vor Schreck schüttelte sie den Kopf und verkroch sich erst einmal in seine Arme.

Das gab ihm Zeit, nachzudenken. Blanke Waffen verwarf er; sie waren nur im Nahkampf zu gebrauchen, und das würde einen Angreifer viel zu nahe an sie heran lassen. Dies galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Schließlich brachte er ihr eine Fuhrmannspeitsche.

Richtig eingesetzt, sind Fuhrmannspeitschen furchtbare Waffen. Sie bestehen aus einem kurzen, dicken Knauf, der in eine sich verjüngende, aus geschmeidigem Leder geflochtene Schnur ausläuft, gerade so lang, um die vordersten Ohren eines Sechsergespanns zu kitzeln. Man kann sie aufrollen und mittels einer Schlaufe am Gürtel festmachen. Sie sind im Nu einsatzbereit und man braucht sie nie nachzuladen. An der Spitze der Schnur ist ein kleines Blättchen aus Metall oder Leder lose befestigt, das, wenn man die Peitsche richtig schwingt, einen lauten Knall erzeugt. Das würde selbst den angriffslustigsten Stier augenblicklich besänftigen.

Pedro zeigte ihr, wie man mit der Peitsche knallt. Sie machte es nach und brachte auch einen Knall zustande, aber Molly wäre nicht Molly gewesen, wenn sie mit dem Ergebnis zufrieden gewesen wäre. Sie ging an einen Ort, wo ihr niemand zusehen und sie womöglich auslachen würde - davon gab es hier in ausreichender Zahl; man brauchte nur soweit zu laufen, bis man außer Hörweite war - und übte ohne Unterlaß. Zwei Tage später führte sie Pedro vor, wie man eine Kaktusblüte unversehrt vom Wipfel eines Saguaro herunterholt. Saguaros sind Säulenkakteen; sie stehen herum, wie einsame alte Männer mit hochgereckten Armen.

Molly hatte die Waffe gefunden, die ihrem Temperament entsprach. Sie soll damit sogar einmal einen Puma in die Flucht geschlagen haben, aber das gehört nicht in diese Erzählung. Pedro sah das Resultat und war zufrieden.

Indessen geriet Molly nie wirklich in Gefahr, überfallen zu werden. Die Kunde von "La Mole," der wehrhaften Frau von der Hacienda del Almirante war mit Blitzes Eile von Weide zu Weide, von Bodega zu Cantina, von Dorf bis zur Stadt - kurzum, durch das ganze Land - gedrungen, und wenn auch gar mancher Bandit sein halbes Augenlicht dafür gegeben hätte, eines stattlichen Lösegeldes wegen ihrer habhaft zu werden, hatte doch keiner das Herz, sich ausgerechnet dorthin zu stellen, wo ihre Peitsche traf. So blieb sie weitgehend von unangenehmen Begegnungen verschont.

Molly wußte davon natürlich nichts. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß man in diesem Land, das allerdings so leer nicht war, wie es schien, selten jemandem begegnete. Nur war es jedes Mal ein weiter Weg zu den Herden, die jetzt in der wachsenden Sommerhitze auf den saftigeren Weiden am Fuße der Sierra Madre standen, und das gab ihr überreichlich Gelegenheit, über sich und ihre Lage nachzudenken.

Die hatte sie sich natürlich selbst zuzuschreiben, weil sie so dumm gewesen war, sich wider besseres Wissen von dem Kopfolt berühren zu lassen - da half auch keine Wut über sich selber. Es nützte auch nichts, daß sie zum Zeitpunkt der Schwängerung sozusagen noch frei war; es war nur eine Scheinfreiheit, denn, das wußte sie jetzt, sie hatte sich längst in Pedro verliebt - und das machte den Vorgang in ihren Augen so schlimm wie ein Ehebruch. Ach, wäre sie doch nie Schrpktkwk - wie leicht sich der Name aussprach ... Sie schrie es in die hitzeflimmernde Weite hinaus: "Schrpktkwk, was hast du mir angetan!" und der Ruf verhallte, als hätte er ihre Lippen nie verlassen.

Und ungerecht war er obendrein, denn der Kopfolt hatte genauso unter Zwang gehandelt, wie sie.

Tatsache war, daß sich Pedro mit Recht betrogen fühlen würde. Ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts würde die Schmach nicht so leicht hinnehmen, wie etwa ein Marsianer; er würde auf Rache sinnen, und da er seine Wut nicht an Schrpktkwk auslassen konnte, würde sich diese auf sie richten. Sie sah im Geiste, wie sich sein entstelltes Gesicht vor Wut verzerrte, wenn er entdeckte, daß sie schwanger war - und lange würde sich ihr Zustand nicht mehr verbergen lassen. Sie spürte bereits das wachsende Leben in ihrem Leib und ihre Verzweiflung machte daraus einen Dämon, der an ihrem Innersten nagte ...

Pedro anzusehen, wenn er sie so anblickte, nein, das konnte sie nicht ertragen! Sie würde fliehen - gleich, sofort! - und sich verstecken. Sie würde irgendwo untertauchen, und wenn das Schicksal es so wollte, daß sie unterging, was machte es. Sie war eine Waise und Waisenkinder haben kein Recht auf Glück.

Pedro hingegen verdiente, von der Schmach verschont zu bleiben. Natürlich würde er nach ihr suchen, aber wenn er einmal einsah, daß sie verschollen war, würde er die Suche aufgeben. Eines Tages würde er sie vergessen haben; mehr noch: er würde einer jungen Dame begegnen, die würdig war, seine Frau zu werden, würde heiraten und Kinder haben, und er würde glücklich sein.

Ja, glücklich sein, das wünschte sie ihm von ganzem Herzen. Von Tränen geblendet und ohne zu wissen, welchen Weg sie nahm, gab sie dem Pferd die Sporen ...

Und dann sah sie vor sich ein anderes Gesicht, eines, aus dessen Augen Tränen wie Bäche stürzten, das Antlitz einer Frau, die noch mehr litt, als sie. Da ließ sie die Zügel sinken, und als die Abendsonne den Horizont berührte, fand sie sich in Goldfeuers Stall, wo sie dem Pferd mit dem goldenen Fell seine allabendliche Gutenachtgeschichte ins Ohr flüsterte.

Am Morgen nach dem furiosen Erscheinen von Juarez und seinem Gefolge war die Prinzessin zu aller Erstaunen zum Frühstück erschienen und spielte die Rolle der Gastgeberin mit gewohnter Grazie. Sie gab sich heiter und unterhielt die Gäste in alter Leutseligkeit, nippte auch tapfer an ihrer Schokolade - nur hin und wieder, wenn ihr Gesicht sich verdüsterte, kroch ihre Hand zu dem kleinen silbernen Medaillon, das an einem Kettchen von ihrem Hals hing, und dann erhellten sich ihre Züge wieder und sie führte die Unterhaltung fort, als sei nichts geschehen.

Das Medaillon - das Geschenk des Senor Santangel, wie Conchita mit wichtiger Miene ihrer Freundin in der Küche berichtete und die erzählte es auch gleich weiter - es schien der Quell ihrer Heiterkeit zu sein, oder es gab ihr Mut, wenn sie mit den Fingern an ihm spielte. Es war ein einfaches, kleines herzförmiges Behältnis, wohl angefertigt zu dem Zweck, eine Locke vom Haar des Geliebten darin aufzubewahren. Was es wirklich enthielt, sollte indes niemand jemals erfahren, denn es wurde nie geöffnet.

Wenn das Schmuckstück auch ihre Trauer besänftigte, der Prinzessin die alte Tatkraft wiederzugeben vermochte es nicht. Annette schien über Nacht um Jahre gealtert und verfiel zusehends, so daß es nicht lange dauerte, bis sie ihre Pflichten nicht mehr erfüllen konnte. Es mochten noch so viele Bedienstete zur Verfügung stehen, die alle Arbeit verrichteten, der Dame des Hauses oblag die Verantwortung für den Haushalt. Sie war es, die bestimmte, welche Speisen auf den Tisch kamen, wann Waschtag war und wer die Zimmer aufräumte, Staub wischte und Feuerholz für die Kamine herbeibrachte; wer all die vielen Dinge tat, groß oder klein, die eine Hausfrau tagein, tagaus auf sich nimmt.

In dem Maße, wie die Kräfte der Prinzessin nachließen, trat Molly in ihre Fußstapfen. Das geschah ganz allmählich, ohne Federlesen und ohne daß es jemand angeordnet hätte. Die Leute gingen einfach zu ihr, um Rat zu erbitten, oder zu fragen, was sie tun sollten. Eines Tages übergab Annette der jungen Frau, die sie stets "Kind" nannte, den Schlüssel des Hauses in Form eines dicken Buches, dem man sein Alter ansah, angefüllt mit Kochrezepten der Wiener Küche, sowie Ratschlägen für den Haushalt und mit von der Prinzessin eigener Hand an den Rand gekritzelten Anmerkungen.

Molly ging in der Rolle auf, ohne richtig zu merken, welche Last sie sich aufbürdete. Sie tat, was getan werden mußte, und weil sie sich nicht schonte und stets selber zupackte, nahm es das Personal ohne Murren hin, wenn sie gelegentlich aufbrauste, oder die eine oder andere Magd ungerecht behandelte. Sie, die nie nach Macht gestrebt hatte, war die Herrin und das Personal betete sie an.

Aber ihr Tagesablauf änderte sich. Sie hatte nunmehr dauernd auf dem Hof und im Haushalt zu tun und kam nur noch selten dazu, sich bei Ausritten auf die Weide zu entspannen, was ihr die sonst so fromme Stute mit wilden Temperamentsausbrüchen heimzahlte. So hätte sie ihr wahres Problem vergessen können, wenn das immer häufiger auftretende schmerzvolle Kneifen im Leib es ihr nicht immer wieder ins Gedächtnis zurückgeholt hätte. Und wenn sich ein Küchenmädchen mitleidig nach der Ursache ihrer Tränen erkundigte, wischte sie sich über die Wange und sagte, der Dunst der Pfefferschoten sei ihr in die Augen geraten. Dabei hatte sie sich längst an deren Schärfe gewöhnt und das Bild des in blutroter Sauce schwimmenden Auges, das sie einst so erschreckt hatte, war nur noch eine halb vergessene Erinnerung ...

Eines Tages kam ein Reiter auf den Hof geprescht und das aufgeschreckte Personal eilte herbei wie Küken zur gluckenden Henne. Molly erkannte ihn als einen der beiden Soldaten, die den Obersten zur Hauptstadt begleitet hatten. Er brachte einen Brief für Pedro. Darin befahl ihm sein Vater in knappen Worten, sofort aufzubrechen und mit Mutter und Braut zur Hauptstadt zu reisen, wo seine, des Obersten, Ernennung zum General und Heeresmarschall zu feiern sei. Unter dem Jubel des Personals befahl Pedro, alles zum Aufbruch am frühen Morgen herzurichten. Dem alten Antonio übertrug er die Verantwortung für den Betrieb der Hacienda.

Das Schreiben enthielt noch ein Nachwort, das Molly maßlos erschreckte. Der Oberst schrieb, er habe in der großen Kathedrale das Aufgebot bestellt, wo der Erzbischof persönlich seinen, des Obersten, geliebten Sohn und dessen schöne Braut am Tage der heiligen Jungfrau von den Engeln, das heißt, am zweiten August, in den Stand der Ehe zusammenfügen würde.

Sie hätte den Weg lieber zu Pferd zurückgelegt, als in der unbequemen Kutsche zu sitzen und sich durchschaukeln zu lassen, aber Pedro bat sie eindringlich, sich um seine Mutter zu kümmern, und Molly sah ein, daß er Recht hatte und fügte sich. Als sie aber sah, was Pilar für sie in die Koffer packte, stöhnte sie laut auf. Stadtkleider! Und Bast war nicht dabei, die mit ihren Tricks für Erleichterung sorgen konnte. "Keine Sorge, Senorita, ich schnüre Sie schon richtig," brummte Pilar in beleidigtem Ton. Die Ärmste, sie hatte ja keine Ahnung ...

Aber solange die Reise nicht zu Ende ist, brauchst du den Krempel nicht zu tragen, Molly! Sie kicherte fröhlich, raffte die Schöße der China poblana und drehte eine Pirouette, so daß die Röcke flogen. Leicht und luftig, Molly ... Pilar starrte sie an, als ob sie etwas sehr Unanständiges getan hätte und fuhr kopfschüttelnd mit ihrer Arbeit fort. Diese Amerikanerinnen ...

Sie hörte auch nicht den leisen Schmerzenslaut, als wieder ein Stich durch Mollys Leib fuhr ...

In der Nacht hatte Molly einen merkwürdigen Traum. Sie lag auf ihrem Bett, der Hitze wegen völlig unbekleidet, und durch die geschlossenen Vorhänge rieselte Mondlicht wie die Tropfen einer in Zeitlupe fließenden Fontäne, die in der Sonne glitzern. Das Licht warf keine Schatten und ließ sie jede Einzelheit erkennen, sogar Pedros Photo auf ihrem Nachttisch, das er in der Stadt hatte für sie machen lassen. Es war eine Daguerrotypie und bei Tageslicht war das Bild ziemlich undeutlich, aber jetzt war es gestochen scharf. Das war verwunderlich, zumal es so stand, daß sie den Kopf hätte drehen müssen, um es zu sehen. Du träumst, Molly, sagte sie befriedigt und der Spiegel an der anderen Wand warf ihr Lächeln zurück.

Schrpktkwk hatte seine Hand auf ihren Bauch gelegt und sie verspürte das eigenartige Kribbeln, das sie immer empfand, wenn er sie berührte. "Hallo, Schrpktkwk," sagte sie höflich und ihre Stimme klang undeutlich, als ob sie unter Wasser spräche. Aber sie erzeugte keine Luftblasen, wie es sonst geschieht, wenn einer unter Wasser spricht. Sie zog ihre Augenbrauen in die Höhe, um ihn anzusehen. "Wo kommen Sie denn jetzt her?"

"Vom Mars," entgegnete er, "und es war verdammt schwierig, die Raumzeitkoordinaten auf die Reihe zu kriegen!"

"Ehrlich?" fragte sie ohne sonderliches Interesse, "da mußten Sie sich aber verdammt anstrengen ..." Man braucht sich nur auf eine Wolke zu legen und kann dann reisen, wohin man will. Aber auf dem Mars gibt es keine Wolken, Molly! Schade irgendwie ... Sein Streicheln tat ihr wohl und sie fühlte auch keine Schmerzen mehr. Sie rekelte sich behaglich. "Warum streicheln Sie mich?"

"Damit das Kind sich von Ihnen löst," sagte er ernst. "Sie hätten Mister Trecee rufen sollen, gleich als die Schmerzen anfingen."

"Wozu?" Sie versuchte, die Achseln zu heben und wunderte sich ein bißchen, weil die nicht gehorchten. "Er kommt und geht, wie er will ..."

"Im Gegenteil! Er hat ein besonderes Augenmerk auf Sie. Sie hätten nur seinen Namen rufen müssen -"

"Einfach so?" Sie versuchte, mit dem Finger zu schnippen. "Jetzt hat er doch auch nur Sie geschickt. An Bast hat er mehr Interesse."

"Weil sie in Gefahr ist, sich selbst zu begegnen. Und ich -"

"In Gefahr? Warum?"

"Sie haben doch gesehen, was passiert, wenn einer sich selbst begegnet! Doktor Soo -"

"Dieses Scheusal?" Der Name erzeugte Unbehagen und sie zog die Brauen streng zusammen. "Was -"

Er nickte. "- ist das Resultat einer solchen Begegnung!" Er fuhr fort, ihren Unterleib zu massieren. "Gleich ist es soweit."

Das Kind war wie eine Frucht am Baum. Sie braucht Zeit, sich zu entwickeln und zu reifen. Das Kind war noch lange nicht reif. "Es ist noch zu früh!" sagte sie entschieden und versuchte, seine Hand fortzuschieben. "Es muß wachsen ..."

Seine Hand widerstand ihr, ruhte fest auf ihrem Leib und sie spürte ein eigenartiges Zucken. "Es ist im Gegenteil schon fast zu spät!" Seine Stimme klang spröde. "Morgen früh wären Sie tot gewesen und das Kind verloren!" Er massierte fester und sie stöhnte, als ihr Leib sich verkrampfte. "Es kommt!"

Im gleichen Augenblick durchfuhr sie ein schneidender Schmerz und sie schrie auf. Und dann wurde sie sehr müde; die Schmerzen waren verschwunden, als ob es sie nie gegeben hätte. Er erhob sich, ein winziges rosiges Etwas in der Hand, das er sich in den Nabel stopfte. "Wie die Beuteltiere bei Ihnen auf der Erde," sagte er und seine Stimme klang entfernt, wie durch eine Wand aus Watte. "In meinem Leib wird es sich zu einem fertigen Kopfolt entwickeln!"

Dann wurde seine Stimme noch einmal deutlich, und er sagte in förmlichem Ton, "Miss Molly, Sie haben Kopfoltine eine einzigartigen Dienst erwiesen, für den wir Ihnen zu ewigem Dank verpflichtet sind! Wann immer, wo immer Sie einem Kopfolt begegnen, er wird sein Bestes tun, damit es Ihnen an nichts mangelt!"

Dann beugte er sich vor und strich ihr mit etwas über den Leib, das wie ein Grasbüschel aussah, aber das nahm sie nicht mehr richtig wahr. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. "Hier ist unser Geschenk für Sie: Sie werden als Jungfrau in die Ehe gehen!"

Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen sollte sich dies als wahr herausstellen.



EPILOG


Molly hat Mister Trecee noch einmal wiedergesehen. Das war anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts und es gab bereits elektrisches Licht, das sie so lange vermißt hatte. Sie war weit über neunzig Jahre alt, die strahlende Schönheit von einst lange vergangen, begraben mit dem Ehemann, den sie vierzig Jahre lang innig geliebt hatte; selbst die Erinnerung schien verblaßt. Sie saß in ihrem Lieblingssessel auf der hinteren Veranda, das schütter gewordene schlohweiße Haar unter einem weitkrempigen Hut verborgen, der sie vor der Sonne schützte, und sah ihren Urenkeln beim Spielen zu.

Plötzlich stand er neben ihr, elegant und blendend aussehend wie damals in dreihundert Jahren. Er sah sie mit ernster Miene an. "Es geht leider nicht anders," sagte er mit einem Anflug von Trauer in der Stimme, "Sie müssen Ihr Leben in der Epoche beenden, in der Sie geboren sind."

Er ergriff ihre magere, blau geäderte, kraftlose Hand. "Kommen Sie, Molly, ich bringe Sie heim."



ENDE



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