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SCHÖNHEIT UND BIEST

von Fred H. Schütz



Bella war in den Wald gegangen, Beeren zu sammeln. "Komm nicht nach Hause, ehe der Korb voll ist!" hatte die Mutter ihr eingeschärft. Der Korb war aber eine Kiepe, die man auf dem Rücken trägt; da ging viel hinein. Bella arbeitete fleißig, der Dornen nicht achtend, die ihr die Hände zerkratzten, denn die besten Beeren wachsen immer an den dornigsten Hecken; das weiß jedes Kind.

Bella ging in den Wald hinein, drei Tage lang. Einen Tag ruhte sie, und dann ging's zurück, aus dem Wald heraus, wieder drei Tage. Das macht sieben Tage. Als sie schon von Weitem das Licht des Waldrandes erspähte, kam ihr ein riesiger Bär entgegen. Der richtete sich vor ihr auf, wie es Bären tun, die sich prügeln wollen, sah auf das Mädchen herunter und knurrte: "Bleib stehen, ich will dich fressen!"

Flugs drehte Bella sich um und hielt ihm den Korb entgegen. "Labe dich lieber an diesen süßen Früchten, die schmecken besser als ich!"

Der Bär schnüffelte einen Moment und ließ sich dann auf alle Viere nieder. "Gut, einverstanden," brummte er. "Aber laß dich nie wieder hier blicken, sonst fresse ich dich!" Er nahm sich eine Tatze voll der saftigen Beeren und trollte sich.

Bella trug den Rest nach Hause und als die Mutter sah, daß der Korb nicht einmal halb voll war, wurde sie zornig. "Du faules Ding! Eine Woche hast du dich herumgetrieben und bringst mir nicht mehr als ein paar Hände voll Beeren!" Bellas schüchternen Einwand, der Bär habe ihr alles weggefressen, wischte sie verächtlich zur Seite. "Ach was! Hier gibt es keine Bären!"

Sie war aber nicht Bellas richtige Mutter - die war längst im Himmel, schaute auf die Erde hernieder, und wenn sie sah, wie schlecht es ihrem Kind erging, regnete es - sie war also Bellas Stiefmutter und deshalb so übel gelaunt. Stiefmütter sind immer fies, das weiß jedes Kind.

Draußen regnete es den ganzen Tag.

Als die Zeit herankam, daß die Äpfel reif wurden, schickte die Stiefmutter das Mädchen wieder los. "Aber bringe mir nur den Korb voll, sonst setzt's was!"

Der Hain mit den Apfelbäumen erhob sich jedoch jenseits des Waldes, und wenn Bella sich einen gewaltigen Umweg ersparen wollte, mußte sie ihn durchqueren. Schleppe mal eine Kiepe voller Äpfel, dann weißt du, warum sie den Weg durch den Wald riskierte.

Bella ging also durch den Wald. Sie ging drei Tage, bis sie jenseits herauskam, dann arbeitete sie drei Tage schüttelte die Bäume und las die Äpfel in den Korb, bis der randvoll war. Dann ging sie durch den Wald zurück, wieder drei Tage. Das macht neun Tage.

Als sie schon Weitem des Licht des Waldrandes erspähte, kam ihr der Bär entgegen. Er richtete sich hoch auf und drohte: "Du hast meine Warnung mißachtet! Dafür muß ich dich jetzt fressen!"

Bella deutete auf die Last auf ihrem Rücken. "Schau mal, was ich habe. Nimm lieber davon und laß mich gehen."

Der Bär ließ sich auf alle Viere nieder, schnüffelte einen Moment und brummte: "Nun gut, noch einmal will ich's dabei bewenden lassen. Aber komm nie wieder, wenn dir dein Leben lieb ist!" Er nahm zwei Tatzen voll der schönen Äpfel und trollte sich.

Als sie zuhause ankam, war die Stiefmutter außer sich vor Zorn und es regnete zwei ganze Wochen lang.

Schließlich war's Zeit für die Nüsse. Die Stiefmutter drohte: "Wenn du diesmal wieder ohne vollen Korb heimkommst, wirst du dein blaues Wunder erleben!" Die Nußbäume aber wuchsen weit jenseits des Apfelhains und Bella brauchte sechs Tage, um hinzukommen. Wieder sechs Tage zurück, das macht zwölf Tage. Als sie von Weitem das Licht des Waldrandes erspähte, stand auch schon der Bär vor ihr. "Du hast alle meine Warnungen mißachtet," knurrte er ungehalten. "Nun muß ich dich wahrlich auffressen!"

Das Mädchen zeigte ihm die Last auf ihrem Rücken. "Die schmecken besser und halten länger vor."

Aber der Bär winkte ab. "Ich weiß was Besseres," brummte er. "Es will Winter werden. Komm mit in meine Höhle, kraule mir das Fell und singe für mich, damit ich schlafen kann. Dafür will ich dich reich belohnen."

Je nun, dachte Bella, schlimmer als zuhause wird's nicht werden. Also ging sie mit ihm in seine Höhle, und wie er sich zum Schlafen hinlegte, schmiegte sie sich an ihn, da hatte sie es warm. Sie kraulte ihm das Fell und sang ihm alle Schlaflieder, die sie kannte, und wenn sie am Ende ankam, fing sie vorne wieder an. Sie nährte sich von den mitgebrachten Nüssen und löschte ihren Durst an dem Schnee, der reichlich vor den Eingang fiel.

Als der Korb leer war, war auch der Winter vorüber und der Bär erwachte. "Nun will ich dich belohnen," sagte er und füllte ihren Korb. Dann machte sie sich auf den Heimweg, die Hucke voller Bärenkot und sein Kind unter dem Herzen.

Als Bella zuhause ankam, hatte sich die Stiefmutter überhaupt keine Sorgen um sie gemacht. Aber als sie sah, was das Mädchen in ihrem Korb heimgeschleppt hatte, wurde sie fuchsteufelswild. Sie nahm die Kiepe, so wie sie war, und schmiß sie den Abhang hinunter. Das hätte sie aber nicht tun sollen, denn als der Korb unten im Tal landete, kullerten lauter echte Goldtaler aus ihm heraus.

Die Menschen, die im Tal hausten, waren allesamt arme Leute; die freuten sich ganz ungeheuerlich über den reichen Schatz, der ihnen so unversehens vor die Füße gefallen war, und dankten dem Himmel für das Geschenk.

Bella aber hatte nun endgültig die Nase voll. Sie lief zurück in den Wald und ging zu ihrem Bären. Dort gebar sie ihr Bärenknäblein und alle drei lebten glücklich und zufrieden bis an ihr seliges - halt! Zuerst rate, wer in dieser Geschichte das Biest ist ...

ENDE



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