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FIEBER

Folge 3

von Susanne Stahr



Als sie den Saal betrat, waren schon fast alle Plätze besetzt. Volusian stand bei der Tür und sprach leise mit Lyncester. Nach und nach setzten sich die Elatha.

Als sich die alte Bewahrerin bediente, erhob sich Loretta und ging auf Amyntha zu. Alle Blicke folgten ihr, teils tadelnd, teil neugierig. Sie verbeugte sich vor der strengen Frau und entrollte ihr Werk, so dass es alle sehen konnten.

"Das habe ich für dich gemacht, Amyntha. Am besten wäre es, du hängst es hier auf. Da schmeckt das Essen gleich viel besser." Beißender Sarkasmus troff aus jedem Wort.

Sie ließ den Teppich in Amynthas Schoß fallen und ging zurück an ihren Platz. Dort schnappte sie sich ein halbes Hähnchen und biss herzhaft hinein.

Beim Anblick des Bildes schienen all gleichzeitig Luft zu holen. Dann war absolute Stille. Amynthas Gesicht hatte sich zuerst zornig gerötet als Loretta einfach so auf sie zukam. Ein Blick auf den Teppich und sie war leichenblass geworden. Einen endlosen Augenblick lang wirkte der Saal wie eingefroren. Denn der Teppich zeigte, verwackelt, doch gut erkennbar, Amyntha, wie sie über dem vor ihr knienden Volusian die Peitsche schwang. Loretta hatte für das Blut auf seinem Rücken das leuchtendste Rot gewählt.

Der Moment ging vorüber. Amyntha beugte sich vor und flüsterte Lyncester etwas zu. Dessen Augen weiteten sich überrascht. Dann kam er ans Ende der Tafel.

"Die Bewahrerin Amyntha wünscht, dass du neben ihr Platz nimmst." Ein undefinierbarer Blick streifte Loretta.

Volusian stand langsam auf und ging mit hölzernen Bewegungen auf seine Frau zu. Die Gesellschaft starrte die beiden atemlos an. Dann, wie auf Kommando, beugte sich jeder über seinen Teller. Manche unterhielten sich flüsternd, aber diesmal scherzte niemand.



"Wenn du weben willst, bekommst du in der Burg deinen eigenen Webstuhl", versprach Volusian als sie wieder in dem kleinen Arbeitszimmer waren. "Du musst noch an deiner Technik arbeiten. Komm her."

Geduldig zeigte er ihr, wie sie die Fäden halten, das Schiffchen führen, die Magie einfließen lassen musste, um ein ebenmäßiges Bild zu erhalten. Ihr zweiter Teppich wurde schon wesentlich klarer. Er zeigte Gideon an seinem Computer.

"Darf ich das behalten?", fragte sie.

Volusian nickte. "Vermisst du deinen Bruder?"

"Ja!", rief sie aus. "Und Mama und den Fernseher und Eiscreme und Hamburger und ..." Dann lag sie an seiner Brust, klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn und weinte bitterlich.



Am nächsten Morgen versammelten sich die Elatha vor den Hütten. Die beiden Bewahrerinnen saßen auf Pferden. Loretta stutzte. Pferde? Jedes dieser Tiere hatte ein glattes, elfenbeinfarbenes Horn auf der Stirn.

"Nur Bewahrerinnen reiten auf Einhörnern", informierte sie Volusian. "Wir gehen zu Fuß."

Die Gruppe setzte sich in entgegengesetzter Richtung als sie mit ihrem Vater gekommen war in Bewegung. Dort standen die Bäume nicht so dicht. Deshalb konnte sie in einem Pulk gehen. Die Bewahrerinnen führten die kleine Gruppe an. Männer und Frauen waren nun mit Schwertern, Keulen oder Äxten bewaffnet. Die beiden anderen Tiere waren tatsächlich Pferde. Sie trugen jetzt die Körbe. Die Hunde umkreisten die Gruppe. Volusian und Loretta gingen am Ende des Zuges. Er hatte ihr einen kleinen Rucksack gegeben, für die wenigen Dinge, die sie an ihr früheres Leben erinnerten, ihre Kleidung und das Bild von Gideon.

"Wozu braucht ihr dieses Grünzeug?", fragte Loretta.

"Die Bewahrer machen eine sehr gute Heilsalbe daraus. - Tochter, es gibt noch einiges, das du über die Festung wissen solltest", sagte Volusian zu ihr. "Du wirst bei den anderen ...äh, Mischlingen in einem separaten Haus wohnen. Manche sehen anders aus als wir. Sie sind nicht so übel. Daran musst du dich gewöhnen. Die Burg darfst du nur auf ausdrücklichen Befehl betreten."

"Mhm", machte sie, nur um zu signalisieren, dass sie zuhörte.

"Dann sind da noch die Regeln, wie Magie zu verwenden ist. Schnüffle nie im Privatleben anderer, weder in ihren Gedanken noch sonst wo. Wenn es der Person auffällt, darf sie zurück schlagen. Magie darfst du verwenden, um dir schwere Arbeiten zu erleichtern, aber nie um andere zu täuschen."

"Lass mich nicht allein, Volusian", bat sie impulsiv. "Das ist alles so fremd für mich."

Lächelnd berührte er ihre Schulter. "Wir werden uns oft genug sehen. Und wenn du zwischendurch etwas von mir brauchst, geh zu Cleochares. Er ist für die Mischlinge verantwortlich."

Es war schon gegen Abend als Volusians Kopf plötzlich herum fuhr. Das Schwert sprang förmlich in seine Hand Kampfbereit sah er sich um. Loretta starrte ihn bewundernd an.

"Geh weiter!", schrie er sie an.

Seine Söhne standen plötzlich neben ihm. Beißender Rauch und der Gestank nach verbranntem Fleisch drang in Lorettas Nase. Sie eilte hinter den anderen her, einen Zipfel ihres Kleides gegen die Nase gepresst.

Der Wald wurde immer lichter. Endlich kamen sie hinaus ins freie Land. Vor ihnen dehnte sich eine hügelige Graslandschaft mit einigen Büschen. In einer Senke lag ein kleines Dorf, durchschnitten von einem Bach. Und von dort wehte eine dunkelgraue Rauchwolke zu ihnen. Die Bewahrerinnen trieben ihre Einhörner an. Aus dem Wald drangen Schreie und das Klirren von Metall auf Metall.

Loretta drehte sich um und suchte Volusian mit den Blicken. Andere Geräusche mischten sich in den Lärm. Ein Wolf heulte, dann brüllte ein Bär und noch andere Tierlaute ertönten. Wo war ihr Vater? Wenn er jetzt umgebracht wurde, war sie ganz allein in einer fremden, feindlichen Welt. Schon wollte sie zurück in den Wald laufen, da packte sie eine Frau am Arm und zog sie mit.

"Lauf, Kleine!"

"Aber mein Vater..."

"Die Elatha sind die besten Krieger in allen Welten", behauptete die Frau. "Sie sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist."

Notgedrungen lief sie mit den Elatha mit. Die Krieger, Männer wie Frauen, schwärmten aus und bildeten einen schützenden Kreis um die Häuser. Loretta folgte der Frau auf den Dorfplatz. Ja, dieses Dorf war überfallen worden. Von einigen Häusern standen nur noch rauchende Ruinen. Viele Menschen waren verletzt und am Dorfplatz brannte ein Scheiterhaufen. Von dort kam auch der fürchterliche Gestank. Aus einer der Ruinen kamen zwei Männer. Auf einer Bahre trugen sie die zerfetzten Überreste eines Menschen. Sie warfen sie samt der Bahre auf den Scheiterhaufen.

"Mein Gott! Was ist denn hier passiert?", stieß Loretta heraus.

"Es waren Nynx", antwortete ein alter Mann, der einen Arm in der Schlinge trug. "Das ist der zweite Überfall in diesem Monat."

"Komm, Vater, die Bewahrerinnen haben begonnen!", rief ein junger Mann und zog den Alten von Loretta fort.

"Was haben sie begonnen?", rief Loretta, aber niemand antwortete ihr.

Die Elatha lagerten am Rand des Dorfplatzes, möglichst weit weg von dem Scheiterhaufen. Um die Bewahrerinnen hatten sich Trauben von Menschen gebildet. Neugierig ging Loretta hin. Die zwei Frauen hielten etwa einen Meter Abstand voneinander. Sie sahen sich die Verletzungen der Menschen an, legten eine Hand darauf und dann begann der Kristall auf ihrer Brust zu glühen. Wenn sie dann die Hand wegnahmen, waren kleine Wunden verschwunden, größere sahen viel besser aus.

Das möchte ich auch können, dachte Loretta und ging zurück zu den anderen Elatha. "Hat jemand Volusian gesehen?", fragte sie in die Menge.

Die meisten beachteten sie gar nicht. Einige schüttelten stumm den Kopf. Dann suche ich ihn eben, dachte sie und ging auf den Rand des Dorfs zu. Dort wurde sie von einer Kriegerin mit einer Keule aufgehalten.

"Geh zurück ins Dorf!", befahl sie barsch. "Die Nachhut wird schon noch kommen."

Traurig wanderte sie durchs Dorf. Die Elatha mochten sie nicht. Die Dörfler hatten andere Sorgen. Sie fühlte sich verlassen. Schließlich wurde sie müde. Die Nacht war längst hereingebrochen, der Scheiterhaufen herunter gebrannt. Die Elatha hatten in den intakten Häusern Unterkunft gefunden. Nur einige Krieger patrouillierten noch ums Dorf. Niemand hatte sich um sie gekümmert.

Loretta hatte Hunger, sie fror und die Einsamkeit presste ihr die Luft ab. Sie hockte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand und legte den Kopf auf die Knie.

"Loretta!"

Erschreckt fuhr sie hoch. War sie wirklich eingeschlafen? Ihr Vater beugte sich über sie. Als er sie hochzog, merkte sie wie steif und erfroren sie war. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er war wieder da und alles andere zählte nicht. Halb trug, halb führte er sie in ein kleines Haus, wo ein weiches Lager für sie gerichtet war. Sie bekam auch heißen Tee und ein Stück Brot. Dankbar kuschelte sie sich in die Decken. Volusian lag neben ihr und schlief bereits.



Die Elatha verließen das Dorf im Morgengrauen. Schon nach wenigen Stunden war die Festung zu sehen. Sie erhob sich auf einem flachen Hügel. Für Loretta sah sie wie eine Burg aus einem Ritterfilm aus, mit Türmen und Erkern, Schießscharten und einem Wehrgang, auf dem mit Speeren bewaffnete Wachen patrouillierten. Trotzdem war etwas anders, sie konnte nur nicht sagen was.

"Stadt und Festung Arrian", sagte Volusian. "Das wird dein neues Zuhause."

Bei der ersten Gelegenheit bin ich weg, dachte Loretta, äußerte sich aber nicht dazu. "Was ist ein Nynx?", fragte sie statt dessen.

"Echsen, grün, mit viel zu vielen spitzen Zähnen und viel zu langen Krallen." Er zeigte ihr einen tiefen Kratzer an seinem Arm. "Jemand muss sie hergeholt haben, denn von selbst können sie nicht in unsere Welt kommen."



Es war später Nachmittag als sie durch das Stadttor schritten. Stumm gingen sie durch die Stadt und erreichten bald die Festung. Die Tore standen weit offen. Loretta sah Männer und Frauen mit Stöcken kämpfen. Manche rangen auch mit Raubtieren.

"Hey Elatha!", erklang es von hier und da. Bevor Loretta eine diesbezügliche Frage stellen konnte, hatte sie Volusian auf ein kleines Haus zu geschoben, das an der Innenseite der Burgmauer klebte. Ein hagerer Mann in den Dreißigern kam eben zur Tür heraus. Er grüßte Volusian respektvoll.

"Cleochares, das ist meine Tochter Loretta", wurde sie vorgestellt.

Neugierig sag sie sich um während die beiden Männer leise miteinander sprachen. Das sollte ihr Zuhause werden? Es sah alles so primitiv aus. Kein elektrisches Licht, keine Autos, sicher auch kein Fernseher.

"So oft ich Zeit habe, werde ich nach dir sehen", versprach Volusian. Dann wandte er sich ab und verschwand in der eigentlichen Burg.

Loretta war von diesem schnellen Abgang so überrascht, dass er längst verschwunden war, ehe sie einen Laut herausbrachte.

Obwohl Cleochares nicht viel größer als Loretta war, strahlte er Kraft und Autorität aus. An den Schläfen zogen sich einige Silberfäden durch sein dunkles Haar, doch sein drahtiger Körper wirkte geschmeidig. Er wies ihr in dem Haus ein Bett zu und fragte dann:

"Welche Aufgaben willst du übernehmen. Zwei darfst du wählen. Wenn du gewählt hast, musst du dabei bleiben, es sei denn du willst Kriegerin werden." Das rasselte er so herunter als hätte er es schon oft gesagt.

"Ich will weben und kämpfen", entschied sie.

Überrascht hob er eine dunkle Braue. "Kannst du dich verwandeln?"

"Äh ... was?"

"Also nicht", stellte er fest. "Noch eine Selbstmörderin." Seufzend rüstete er sie mit Männerkleidung und einem Schwert aus.



Schon am nächsten Morgen musste sie mit den anderen Kriegern im Hof antreten. Da lernte sie als Erstes den Waffenmeister Fulrad kennen. Loretta schätzte ihn auf 25 und er sah aus als wäre der Ausdruck 'Cornetto' extra für ihn geprägt worden. Seine Bewegungen waren katzenhaft geschmeidig. Wie Cleochares war auch er kein Elatha.

"Das ist Loretta", stellte er sie den anderen Mischlingen vor. Auch sie zeigten wenig Interesse für sie. Kein "Hallo!", nur ein flüchtiger Blick von dem einen oder anderen. Dann nannte er ihr die Namen der anderen. Zarias, ein bulliger Mittdreißiger. Bosan, ein drahtiger, junger Mann mit scharf geschnittenen Zügen. Statira, die einzige Frau unter ihnen, groß, Anfang zwanzig mit lindgrünem Haar, spitzen Ohren und wasserhellen Augen, die Lorettas Blick immer wieder anzog. Hellonion, ein schlanker Mann ohne Ohren. Rothas, ein hübscher Kerl mit einer schneeweißen Locke in seinem schwarzen Haar. Ganga, ein haarloser Mann mit einem Schnurrbart wie eine Katze und Nicaros, ebenfalls ohrenlos mit seltsam gemusterter Haut.

Ihr Vater hatte sie vorgewarnt, dass einige anders aussähen. Aber sie nun leibhaftig zu sehen, war doch ein Unterschied. Trotzdem waren sie nur Männer, dachte sie. Wie war das damals mit den Jungs in der Schule? Wenn sie es wollte, waren sie vor ihr gekniet. Das sollte kein Problem sein. Nur die Grünhaarige bereitete ihr ein wenig Unbehagen.

Sie begannen mit einem Dauerlauf einige Male rund um die Burg, gefolgt von Krafttraining. Loretta kam spielend mit. Sport war eins ihrer Lieblingsfächer in der Schule gewesen. Enttäuscht bemerkte sie das Fehlen der bewundernden Blicke, die sie von Springville gewohnt war.

Dann wurden Waffen ausgegeben, Stöcke und stumpfe Messer. Fulrad erklärte zuerst den anderen Kriegern ihre Übungen bevor er sich an Loretta wandte.

"Hast du irgendeine Kampfausbildung gemacht?", fragte er.

"Äh, nein."

"Dann beginnen wir mit dem Schwert." Er nahm zwei armlange Stöcke aus einer Kiste und gab Loretta einen.

"Das ist doch kein Schwert!", rief sie aus.

"Es hätte wenig Sinn, dir eine scharfe Waffe in die Hand zu geben, wenn du keine Ahnung hast. Du könntest dich verletzen", erklärte er kühl. "Ahme alle Bewegungen nach, die ich mache. Zuerst die sechs Standardangriffe." Der Stock fuhr kreuz und quer durch die Luft.

Das ist leicht, dachte sie. Weit gefehlt! Immer wieder korrigierte Fulrad die Stockführung, ihre Körperhaltung, den Winkel ihrer Schläge. Nach einer Weile ließ er sie allein weiter üben und ging zu den anderen Mischlingen.

Loretta fand es langweilig, immer dieselben Bewegungen zu machen. Das war doch Kinderkram. So achtete sie mehr auf die anderen.

Rothas ließ eben seinen Stock fallen und Fulrad schalt ihn. Der junge Mann wurde dunkelrot.

Das wäre eine gute Gelegenheit mitzumischen, dachte Loretta. Ein wenig Magie und Rothas' weiße Locke stand kerzengerade in die Höhe. Sah das komisch aus! Auch die anderen grinsten. Rothas' Hand fuhr an den Kopf, drückte das Haar nieder, dann warf er ihr einen zornigen Blick zu. Sie warf ihm ihr verführerischstes Lächeln zu und warf sich in Pose. Leise sagte er etwas zu Ganga. Der Haarlose kniff die Augen kurz zusammen, sah ebenfalls zu ihr herüber und schüttelte den Kopf.

So war es schon besser. Sie würde ihnen schon zeigen, was es hieß, sie zu ignorieren. Kurz danach ließ sie auf Bosans Fuß einen Stein fallen. Der Drahtige stolperte und Zarias' Stock traf seine Hand. Er schrie auf und ließ den Stock fallen. Hellonion unterbrach sein Training und streichelte Bosans Hand. Zarias zuckte mit den Schultern und deutete auf Loretta. Auch die anderen Mischlinge unterbrachen ihre Übungen.

Zufrieden mit ihrer Rache konzentrierte sie sich wieder auf ihr Training. Da schien der Himmel auf sie zu stürzen. Eine Titanenfaust warf sie zu Boden und nagelte sie dort fest. Dann stand Hellonion über ihr.

"Das nächste Mal breche ich dir den Arm", zischte er kalt, drehte sich um und ging.

Fulrad schickte Bosan ins Haus und brüllte Kommandos. Die Mischlinge nahmen ihr Training wieder auf. Wütend kam der Waffenmeister auf sie zu als sie sich gerade wieder aufgerappelt hatte.

"Was fällt dir eigentlich ein?", schimpfte er. Sein Stock traf ihr Hinterteil. "Das ist doch kein Kindergarten!"

Loretta schrie vor Schmerz und Wut und versuchte auszuweichen. Doch Fulrad war verdammt flink. Noch ein Hieb. Eben ging Bosan mit einer Bandage an seiner Hand an ihr vorbei. Er schnaubte verächtlich.

"Hier werden keine magischen Spielchen gemacht!" Wieder ein Hieb. "Hast du verstanden?" Ein weiterer Hieb trieb ihr die Tränen in die Augen.

"Aufhören!", schrie sie. "Ich mach's nie wieder!"

"Das will ich hoffen", brummte Fulrad. "In deinem Interesse."

Verbissen übte sie die Schläge. Welch eine Demütigung! Nein, hier würde sie keinen Tag länger bleiben als unbedingt möglich.

Fulrad ging ruhig zu den Mischlingen zurück und gab ein Kommando. Plötzlich duckten sich eine Echse, ein Bär und ein grüner Gepard, wo eben noch Hellonion, Bosan und Statira standen. Erschrocken und gebannt von dem Ungeheuerlichen ließ sie den Stock sinken und wartete, was nun geschah. Hatte Cleochares das mit Verwandeln gemeint?

Die vier Männer griffen die Tiere an und es entstand eine wüste Keilerei. Jedenfalls sah es für Loretta so aus. Allerdings wurde keiner dabei verletzt. Da traf ein Stock ihre ohnehin noch schmerzende Kehrseite.

"Mach weiter! Wer hat dir eine Pause gestattet?", schimpfte der Waffenmeister. "Du tust ja so als hättest du noch nie eine Verwandlung gesehen!"

"Hab ich auch nicht", verteidigte sie sich und hielt schützend eine Hand hinter den Rücken.

"Aus welcher Welt kommst du bloß!", wunderte er sich. Er war wieder ganz ruhig, als wäre vorhin nichts vorgefallen. "Das ist aber trotzdem kein Grund zum Faulenzen." Dabei wirbelte er den Stock im Kreis.

Loretta versuchte es auch. Da sah es aber lange nicht so elegant aus.

"Das kannst du später üben. Jetzt machst du das, was ich dir gezeigt habe." Damit stapfte er zu den Verwandelten.

Loretta schnitt eine Grimasse hinter seinem Rücken, tat aber wie geheißen. Sie ließ es sich aber nicht nehmen, die anderen Mischlinge zu beobachten. Noch drei der Krieger konnten sich verwandeln. Das Mädchen sah einen Wolf, eine Schlange und eine nackte Großkatze. Erst als die Sonne im Zenit stand, durften sie die Übungen beenden.

Ganz nebenbei sah sie sich um. Sie übten in einem abgelegenen Teil des Burghofs. Weit und breit gab es weder Tür noch Fenster in der mehrere Meter hohen Mauer. Irgendwie musste sich doch eine Flucht bewerkstelligen lassen. Sie hatte die vage Vorstellung, dass sie nur intensiv genug an ihr Zuhause denken musste, um hin zu kommen. Nicht mehr lange, sagte sie sich. Wenn sie bis dahin ein wenig kämpfen lernte, konnte das nur gut sein für ihr geplantes Leben in der großen Stadt.

Loretta war schweißgebadet als sie zu Tisch gerufen wurden. In dem kleinen Haus an der Mauer war ein langer Tisch für die Mischlinge gedeckt. Hier saßen schon vier andere, erwachsene Mischlinge, drei Frauen und ein kleiner, grauhaariger Mann, die wohl anderen Aufgaben nachgingen. Hungrig nahmen sie ihre Plätze ein und Loretta fand sich neben der Grünhaarigen. Wie schön diese Frau war! Diese stahlharten Muskeln, der geschmeidige Körper mit den festen Brüsten. Wie gern hätte sie mit ihr ein wenig geplaudert, doch sie erinnerte sich noch gut an den kühlen Empfang und schwieg.

Als sie zu essen beginnen wollte, rutschte ihr Teller weg und ihr Löffel traf den Tisch. Schnell griff sie danach und klatschte mit der Hand in den Eintopf. Wütend sah sie sich um. "Wer war das?", fauchte sie.

Die anderen Mischlinge grinsten. Keiner antwortete ihr, nur Rothas' weiße Locke richtete sich zu einem spitzen Pinsel auf und winkte ihr zu. Das gutaussehende Gesicht des jungen Mannes war zu einem schadenfrohen Grinsen verzogen.

Heiß stieg ihr das Blut ins Gesicht. Was du kannst, können wir schon lange, schien das zu bedeuten. Wütend schlug sie mit ihrer Magie zurück und prallte gegen eine unsichtbare Wand. Es war als befinde sie sich in einem anderen Raum, obwohl sie doch am selben Tisch mit ihnen saß. Loretta fühlte sich plötzlich sehr klein, hilflos und unsicher. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen unterdrücken. Zu Hause war sie allen überlegen gewesen, doch hier war sie nur eine unter ähnlich Begabten. Es war sogar gut möglich, dass die anderen noch besser mit Magie umgehen konnten als sie. Sieben gegen eine! Das war nicht fair!

"Was ist deine zweite Aufgabe?", erklang da neben ihr eine weiche Stimme.

Überrascht sah Loretta auf. "Weben", sagte sie schnell. "Und was machst du?"

"Ich hüte die Mischlingskinder." Statira schob ihren Teller von sich. "Wir haben derzeit sieben. Einige werden sich später verwandeln können. Welches Tier kannst du denn werden?"

"Ich ... ich kann das nicht", stotterte Loretta. "Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist. Bei mir zu Hause ... äh, gibt es das nicht."

"Welch eine arme Welt!", rief Statira aus. "Du kannst froh sein, dass du in Arrian sein darfst."

Nun senkte Loretta den Kopf. Sie wäre viel lieber in Springville gewesen.

"Mag sein, dass es schwer für dich ist", flüsterte die Kriegerin da. "Es wäre aber klüger, vorerst keine Magie gegen die anderen zu richten."

Schon wieder, dachte Loretta. Zu Hause hatte sie ohne zu denken ihre Tricks angewendet, wie es ihr eben genehm war. Warum sollte es jetzt anders sein? Still wartete sie, bis Cleochares sie in die Werkstatt der Weber brachte.



"Hast du schon einmal einen Webstuhl bedient?", fragte ein knorriger, alter Mann mit Namen Vigian. In seinem breiten Gesicht dominierte eine große Hakennase, über der scharfe, blaue Augen blitzten. Sein Haar war schlohweiß und dünn, doch die Kraft seiner Hände war ungebrochen.

"Ein wenig", nickte sie.

"Ich erkläre es dir trotzdem noch einmal." Geduldig zeigte er ihr die Handgriffe, ließ sie selbst versuchen. Wieder und wieder, bis er zufrieden war. Dann setzte er sie an einen Webstuhl von der Breite eines kleinen Schreibtisches.

"Das soll ein Läufer für einen Seitengang in der Burg werden. Das Muster ist ganz einfach, Kreise und Karos, immer abwechselnd." Er wollte sich abwenden.

"Ich möchte aber ein Bild machen", erklärte sie.

"Zuerst musst du deine Technik verfeinern", tat er ihren Wunsch ab. "Bilder sind viel zu kompliziert für dich."

"Ich habe aber schon zwei gemacht", widersprach sie trotzig.

"Letzter Schrott", knurrte er. Dann legte sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals. "Willst du endlich gehorchen?", fragte er sanft während sich die Schlinge langsam zuzog.

Nach Atem ringend nickte sie und der Druck auf ihren Hals schwand. Das muss ein Elatha sein, dachte sie und griff nach dem Schiffchen.

Innerlich seufzend nahm sie die Arbeit auf. Der ganze Nachmittag versank in Karos und Kreisen. Sobald sie sich zurück lehnte oder das Schiffchen sinken ließ, war Vigian da und ermahnte sie. Ich werd's dir schon zeigen, dachte Loretta und webte statt Kreisen Herzchen.

Eine knorrige Hand quetschte schmerzhaft ihre Schulter.

"Auftrennen!", kam Vigians kaltes Kommando. "Du wirst ein wenig länger bleiben müssen, wenn du dein Pensum erreichen willst."

Wütend riss sie die Wolle heraus. Das war ja Sklavenarbeit! Zähneknirschend arbeitete sie weiter. Die Stunden flossen dahin, die Schatten wurden länger. Schließlich wurde es zu dunkel zum Weben.

Vigian brachte ihr eine Lampe. "Diesen Strähn musst du noch aufarbeiten. Dann kannst du gehen."

Loretta sah ihn nicht an. Verbissen webte sie Karos und Kreise während hinter ihr die anderen Weber die Werkstatt verließen. Endlich war die Wolle aufgebraucht. Müde stand sie auf und streckte sich. Dann ging sie zu Vigian.

Er saß an einem breiten Webstuhl und arbeitete an einem wunderschönen Teppich aus feiner Wolle. Ein herrlicher Park mit einem Schloss war schon zu erkennen. Das Bild war so realistisch, dass Loretta dachte, sie müsste nur einen Schritt machen um dort zu sein.

"So möchte ich auch weben können", flüsterte sie.

"Das wirst du auch, Loretta", sagte er lächelnd. "Vorher kommen aber noch viele Karos und Kreise." Jetzt sah er gar nicht mehr wie ein brutaler Sklaventreiber aus.

Du täuschst mich nicht, dachte Loretta und zuckte mit den Schultern. "Darf ich jetzt gehen?" Sie wartete nur auf sein Nicken und lief über den nächtlichen Hof.

Ein einsamer Teller mit einer dicken, kalten Suppe stand auf dem Tisch. Die anderen Mischlinge lagen schon lange in ihren Betten.

"Kann man das aufwärmen?", fragte sie Cleochares.

"Iss oder lass es sein", antwortete er streng.

Ein wenig Magie ließ die Suppe dampfen. So schmeckte das Zeug sicher besser. Mit dem Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben, ging sie zu Bett.



Die folgenden Tage liefen alle nach dem Muster des ersten ab. Vormittags wurde trainiert, nachmittags gewebt. Cleochares achtete sehr darauf, dass möglichst jeder Kontakt mit den Bewohnern der Burg unterblieb. Ihren Vater sah sie in der ersten Woche gar nicht. Vielleicht am Sonntag, dachte sie. Es musste doch auch einmal einen Ruhetag geben. Doch nichts dergleichen geschah. Täglich wurde sie beim Morgengrauen aus dem Bett gejagt.

"Wann gibt's denn mal einen freien Tag?", fragte sie Cleochares an ihrem neunten Tag in Arrian. "Ich brauche auch mal eine Pause." Sie vermisste besonders ihren Fernseher.

"Wenn dich die Nynx zerrissen haben, hast du eine sehr lange Pause", antwortete er. Als er ihren Schrecken sah, fügte er noch hinzu: "Mit etwas mehr Kampftraining könntest du allerdings eine Chance gegen sie haben."

Sie fragte nie wieder. Aber ihr Kopfkissen musste viele Tränen schlucken. Mehr denn je sehnte sie sich nach ihrem früheren Leben.



Ab der zweiten Woche bekam auch sie Trainingspartner. Allerdings achtete Fulrad darauf, dass sich keiner verwandelte. Nicaros hatte sich während einer Übungsrunde einmal in eine Schlange verwandelt und sich um sie gewickelt. Lorettas erster Gedanke war, er würde sie erdrücken. Er und Zarias, sein besonderer Freund, der sich in einen Bären verwandeln konnte, hatten sich über ihren Schrecken halb kaputt gelacht.

Jetzt konnte sie schon Angriffe und Paraden. Langsam begann die Sache Spaß zu machen. Mit Statira übte sie am liebsten. Ein Training mit einem männlichen Mischling brachte ihr meist blaue Flecken ein. Anders die Grünhaarige. Loretta fühlte sich auf eine Art zu ihr hingezogen, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie war auch die Einzige, die ab und zu ein paar Worte mit Loretta wechselte. Die sechs Männer teilten sich in drei Paare, die sich in ihrer spärlichen Freizeit nur um einander kümmerten und sonst niemanden.

"Ich werde das nie so gut können wie du", seufzte Loretta eines Tages.

"Du brauchst nur ein wenig Übung. So musst du das machen." Statira stellte sich hinter sie und führte ihre Hand.

Loretta fühlte ihren Atem im Genick, die Wärme ihres vom Kampf erhitzten Körpers. Es war auf seltsame Art angenehm und löste bei Loretta Verwirrung aus. Unwillkürlich versteifte sich ihr Rücken. "Ich will das mal allein probieren", sagte sie.

Da trat Statira zur Seite. "Lass mal sehen." Klang ihre Stimme wirklich ein wenig enttäuscht oder bildete sich Loretta das nur ein?

"Ich bin so froh, dass du mir soviel hilfst", sagte sie schnell und lächelte Statira an.

Da flog ein Lächeln zu ihr zurück. "Das mach ich doch gerne."

Nun gab sich Loretta die größte Mühe bei den Übungen. Ihre Achterschleifen wurden immer gleichmäßiger. Immer mehr gewann sie Kontrolle über den Stock.

Da sah sie Volusian mit einem Mann im schwarzen Kapuzenumhang über den Hof gehen. Heftig gestikulierend redete der Paladin auf den Schwarzen ein. Der antwortete ebenso erregt. Am Tor trennten sie sich und der Schwarze verschwand in der Stadt.

Ohne zu denken ließ sie den Stock fallen und lief auf ihren Vater zu. "Volusian! Wo warst du die ganze Zeit?"

"Ich habe jetzt keine Zeit, Loretta. Später", sagte er ungeduldig. "Geh zurück zu ..."

"Aber ich will nicht hier bleiben", bat sie. "Ich verspreche dir, dass ich nicht mehr zaubern werde, aber lass mich bitte, bitte nach Hause gehen."

"Du bleibst hier, Bastard!" Amyntha war aus der Burg gekommen. Ihr Tonfall war so verletzend, dass Loretta die Luft wegblieb. "Der König wartet", sagte sie ruhig zu Volusian, Loretta eiskalt ignorierend. Dann sah sie Volusian an.

Der blonde Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er verständigte sich mit einem Blick mit ihr und sie verschwand in der Burg.

"Mach keine Dummheiten, Kleines", sagte er und legte kurz eine Hand auf ihre Schulter. "Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht mit der Magie spielen sollst?"

"Wieso ...?" Zornig ballte sie eine Faust. "Wer hat gepetzt? War es Rothas oder Bosan? Diese Mistkerle! Die sind so gemein!"

Traurig schüttelte Volusian den Kopf. "Du irrst, Loretta. Es gehört zu Cleochares' Pflichten, jeden fünften Tag über die Fortschritte der Mischlinge zu berichten. Besondere Vorkommnisse müssen sofort gemeldet werden. Alle Mischlinge haben anfangs Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen. Je schneller du dich fügst, umso leichter wirst du es haben."

"Du hast versprochen, dass wir uns oft sehen werden", warf sie ihm vor.

"Nein, ich sagte, oft genug", korrigierte er geduldig. "Jetzt ist Arrian in Gefahr. Wenn das vorbei ist, habe ich sicher mehr Zeit für dich. Jetzt aber wartet der König auf mich." Das war endgültig. Er wandte sich von ihr ab und eilte seiner Frau nach.

"Volusian, bitte!" Loretta lief ihrem Vater nach. Wenige Schritte vor dem Eingang zur Burg stürzte sie über einen Stock, der plötzlich zwischen ihren Beinen aufgetaucht war.

"Weißt du nicht, dass Mischlinge die Burg nicht betreten dürfen?!", herrschte Fulrad sie an. "Wer hat dir erlaubt, den Kampfplatz zu verlassen?"

Loretta biss die Zähne zusammen und erhob sich. Von einem abgeschürften Knie lief ein Tropfen Blut ihr Schienbein hinunter. Auch ihre Handballen brannten. Mit gesenktem Kopf humpelte sie zu den anderen zurück.

Dort gab ihr Fulrad einen Stoß und sie verlor das Gleichgewicht. Loretta stieß einen Schrei aus als sie wieder auf das bereits verletzte Knie fiel. Nun blutete es stärker. Dreck und Steinchen steckten in der Wunde, es fühlte sich an als wäre das ganze Knie zermatscht. Loretta begann hemmungslos zu weinen. Nein, hier würde sie sicher nicht bleiben.

Da legte sich sanft eine sehnige Hand auf ihre Schulter. "Lass mal sehen, Mädchen", sagte Statira.

Bei der Berührung lief Loretta eine Gänsehaut über den Rücken. Was war denn das? Ungekannte Gefühle stürzten über sie herein. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Verwirrt zuckte sie zusammen.

"Kümmere dich um das da, Statira", ordnete Fulrad an. "Aber nur ein Verband."

"Nur ein Verband, Waffen meister?", fragte die Grünhaarige. "Sie wird nicht mehr kämpfen können, wenn sie Schmerzen hat."

"Nur ein Verband", wiederholte er nachdrücklich und Statira senkte gehorsam den Kopf.

Dann half sie Loretta auf die Beine und führte sie in das Mischlingshaus.

"Es ist besser, du hältst dich an die Regeln", riet sie während sie Lorettas Knie reinigte und verband. "Dann kannst du ein relativ gemütliches Leben haben." Leise summte sie das Lied, das sie den Kindern immer abends vorsang. Statira hatte eine klare Stimme und kannte viele Lieder.

"Zu Hause war es gemütlich", grollte Loretta. "Wie lange bist du schon hier?"

"Seit meiner Kindheit. Damals hütete eine alte Elatha die Mischlingskinder. Sie keifte den ganzen Tag. Da schwor ich mir, dass das meine zweite Aufgabe sein würde, wenn ich einmal groß wäre. Auch Mischlinge brauchen Liebe." Dann drückte sie Loretta einen sanften Kuss auf die Wange. "Komm jetzt."

Wieder überfielen Loretta eigenartige Gefühle. Etwas wie Sehnsucht regte sich in ihrer Brust. Nein! Das konnte doch nicht sein! Statira war eine Frau und sie konnte doch nicht ... Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Statt dessen dachte sie an ihre geplante Flucht.

Als sie zurück auf den Kampfplatz kamen, war Fulrad nicht mehr allein. Eine hohe Gestalt im schwarzen Kapuzenumhang stand neben ihm. Das Gesicht war ein bleiches Oval, das keinen Rückschluss auf Gedanken oder Gefühle des Mannes zuließ. Loretta erinnerte sich, diesen Mann schon einmal im Gespräch mit ihrem Vater gesehen zu haben. Jetzt stand er nur ruhig da und sah den Mischlingen bei ihren Übungen zu. Als der Blick der tief liegenden Augen Loretta streifte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

"Wer ist das?", fragte sie flüsternd die Kriegerin.

"Raduald, der Hofmagier", antwortete diese genauso leise.

"Und was macht er hier?", fuhr sie fort. "Er scheint zu überlegen, wer von uns am besten schmecken könnte."

"Da hast du gar nicht so unrecht", gab Statira zu. "Fressen will er uns nicht, aber ..."

"Ende der Plauderstunde!", peitschte Fulrads Stimme über den Hof. "Abwehr eins bis sechs, Loretta!", kam sein Kommando.

Statira biss sich auf die Lippen und griff an. Jetzt musste sich Loretta so konzentrieren, dass sie auf den Arrian-Magier nicht mehr achten konnte. Als sie sich in einer Kampfpause umsah, war er gegangen.

Loretta hatte beobachtet, dass das Burgtor oft erst weit nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde. So trödelte sie an diesem Tag beim Weben absichtlich und wurde auch prompt mit Nachsitzen bestraft. Genauso wollte sie es aber. Verbissen webte sie Kreise und Karos bis Vigian sie endlich entließ. Dann rannte sie schnurstracks zum Burgtor.

Cleochares wartete dort schon auf sie. Wie hatte er das nur ahnen können? Heftig schalt er sie und schickte sie ohne Essen ins Bett. Würde er jetzt zu ihrem Vater gehen und von ihrem Fluchtversuch berichten? Vielleicht konnte sie seine Erinnerung verändern. Vorsichtig streckte sie einen telepathischen Fühler aus.

Die Magie schlug voll zurück. Glühende Pfeile schienen sie von allen Seiten zu durchbohren. Stöhnend ging sie in die Knie. Bunte Kreise tanzten vor ihren Augen. Nur langsam ließ der Schmerz nach.

Da gewahrte sie Cleochares in ihrer Nähe. Wie das dräuende Unheil stand er über ihr.

"Hat dich Volusian nicht gewarnt, Magie anzuwenden?", fragte er ruhig, aber eiskalt. "Ihr Götter! Du musst doch tatsächlich alles ausprobieren! Für wie dumm hältst du uns? Gegen solche Angriffe bin ich selbstverständlich geschützt. Glaubst du, du bist die Erste, die das versucht hat?" Sein rechter Zeigefinger tippte gegen eine grün schimmernde Kette, die eng um seinen Hals lag. "Fulrad trägt auch so eine Schutzkette. Du kannst dir also einen weiteren Versuch ersparen. Das wäre auch für dich gesünder." Damit wandte er sich endgültig von ihr ab und ging.

Wie schafft der das nur, immer so ruhig zu bleiben?, wunderte sich Loretta. Seit sie hier war, hatte sie ihn noch nie zornig oder auch nur aufgebracht erlebt. Mühsam quälte sich Loretta auf die Füße und kroch in ihr Bett. Ihre Entschlossenheit zu fliehen war erheblich gewachsen. Auf Magie verzichtete sie aber in den nächsten Tagen, ausgenommen beim Weben.



Loretta hielt es für klüger, sich vorerst ganz brav zu geben. Gehorsam führte sie alles aus, was ihr aufgetragen wurden. Nebenbei kundschaftete sie den besten Zeitpunkt für ihre Flucht aus. Mittags waren so viele Leute im Hof, da fiel es sicher nicht auf, wenn sie sich unter sie mischte und verschwand.

Eines Vormittags stand plötzlich Volusian neben Fulrad und beobachtete die Mischlinge beim Training. Kam jetzt ein Donnerwetter wegen ihres Fluchtversuchs? Nein, alles blieb ruhig. Der Paladin scherzte sogar mit dem Waffenmeister.

Neidisch registrierte Loretta die enge Vertrautheit zwischen den beiden Männern. Das waren Freunde. Jeder hatte hier Freunde. Sie hatte sogar den Verdacht, dass manche der Mischlinge mehr als nur Freunde waren. Wie Hellonion damals Bosans Hand gestreichelt hatte! Und eines Abends hatte sie Rothas, dem Gutaussehenden mit der weißen Locke und Ganga, die haarlose Großkatze eng umschlungen in ihrem Zimmer verschwinden sehen. Nur sie hatte keine Freunde. Der einzige Mensch, dem sie sich nahe fühlte, war ihr Vater. Und Statira? Sie war eine gewandte Kämpferin, immer freundlich zu ihr. Ein leises Kribbeln kitzelte ihren Nacken. Sie drehte sich um und sah Statira schnell den Kopf abwenden.

Verwirrt konzentrierte sie sich auf ihre Übung. Dabei bemühte sie sich, ihre Schläge besonders korrekt auszuführen. Wem wollte sie gefallen? Volusian oder Statira? Nein, sagte sie sich. Warum sollte sie sich noch anstrengen, wenn sie ohnehin weg ging?

Da trat Volusian auf sie zu und nahm Statira den Kampfstock ab. "Probieren wir eine Runde", sagte er und griff an.

Tapfer versuchte sie alles, was sie bisher gelernt hatte. Immer wieder machte ihr Vater sie auf Fehler aufmerksam. "Jetzt habe ich dir den Bauch aufgeschlitzt." "Du hast eben deinen linken Arm verloren." "Der Kopf ist gespalten." "Dein Knie ist hinüber." So kommentierte er seine Treffer, zeigte aber sofort, wie sie es besser machen konnte. Beschämt erkannte sie, dass er sich ihr zuliebe viel langsamer bewegte als er könnte. Seine Bewegungen waren so elegant, so geschmeidig. Das wäre der richtige Trainingspartner für sie!

"Warum bist nicht schon früher gekommen?", fragte sie.

"Wenn der König ruft, muss ich kommen. Darauf habe ich einen Eid geschworen." Er gab Statira wieder den Stock. "Mach weiter so, Loretta." Dann ging er wieder.

Wenn er das öfter täte, könnte sie es vielleicht aushalten. Obwohl sie für diesen Tag ihre Flucht geplant hatte, blieb sie. Vielleicht kam Volusian ja jetzt öfter. Eine ganze Woche wartete sie auf ihn, doch er tauchte nicht wieder auf. Ab und zu sah sie ihn über den Hof eilen. Oder er war in ein Gespräch mit Amyntha vertieft. Es hatte keine Zweck noch länger zu warten.

Als die Mischlinge nach dem Training zum Essen drängten, rief sie: "Ich muss nur schnell mal austreten!" und verschwand zwischen den Wagen, die Gemüse für die Burg brachten. Ungehindert kam sie aus der Burg und lief einfach geradeaus weiter. Wo war nur das Stadttor? Sie hatte nicht darauf geachtet als sie vor ... wie lange war das nun? Drei Wochen? Oder länger?... einzogen. Sorgfältig achtete sie darauf, nicht im Kreis zu laufen. Ihre Augen suchten nach markanten Zeichen, die vielleicht eine Erinnerung hervor riefen. Aber sie fand keine.

Plötzlich stand Fulrad vor ihr. "Hast du dich verlaufen?"

Blitzschnell machte sie kehrt und rannte davon. Weit kam sie nicht, denn Fulrads Beine waren wesentlich länger als ihre. Bald hatte er sie eingeholt. Wortlos packte er sie am Arm und führte sie zurück in die Burg.

"Geh jetzt essen", befahl er da. "Danach wird dir die Ehre eines Extratrainings zuteil."

So kam es dann auch. Eine geschlagene Stunde jagte er sie über den Hof. Am Ende war sie völlig erschöpft und voller blauer Flecken, aber nicht gebrochen.



Eine Woche danach gelang es ihr, nach dem Weben die Stadt hinter sich zu lassen. Sie nahm nur ihr Schwert und etwas Proviant mit. Ein fast voller Mond verbreitete genug Licht um die Bäume der Obstgärten zu drohenden Schatten zu machen. Loretta biss sich auf die Lippen. Ein vages Gefühl von Gefahr jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Hatte sich da etwas bewegt? Sie starrte angestrengt zu den Brombeerbüschen. Nein, sie würde nicht umkehren. Alles war besser als diese Tretmühle aus Weben und Trainieren.

Ein trillernder Pfiff von rechts durchschnitt die Stille der Nacht. Wie angeklebt blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. Wieder ein Pfiff, von links vorne. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Da raschelte es und eine breit gebaute Echse stand vor ihr. Ihre Krallen waren so lange wie Lorettas Finger. Grüne Schuppen hatte sie auch. Das muss ein Nynx sein, schoss es Loretta durch den Kopf.

"Was haben wir denn da?", sagte der Nynx zischelnd. "Ein später Imbiss."

Zwei weitere Nynx tauchten aus den Büschen auf. Zu dritt umkreisten sie sie. Loretta hielt das Schwert vor sich wie Fulrad es ihr gezeigt hatte, doch sie machte sich keine Illusionen. Mit einem hätte sie vielleicht fertig werden können, aber nicht mit dreien. Sie spielten mit ihr. Ab und zu schoss eine Klaue vor und fetzte ein Stück Stoff aus ihrer Tunika. Mit wachsender Verzweiflung suchte sie nach einem Ausweg. Sollte das ihr Ende sein? Jetzt war sie nicht mehr so sicher, dass ihr Leben in der Burg so schrecklich öde war.

Die Nynx kamen langsam näher. Eine Kralle schnitt in ihren Schwertarm. Loretta ließ die Waffe fallen und schrie auf. Der Schmerz weckte einen unbändiger Zorn in ihr. Brennen sollten sie, diese hässlichen Eidechsen! Bis nichts mehr von ihnen übrig war. Ihre Wut entlud sich in einem gewaltigen Blitz, der die drei Nynx erfasste und in Flammen aufgehen ließ. Entsetzt sah sie sich von drei mannshohen, schrill kreischenden Fackeln umgeben. Was hatte sie getan? Ein Busch fing Feuer. Knisternd breiteten sich die Flammen aus. Wo sollte sie hin? Die Nynx waren erledigt, aber sie würde mit ihnen verbrennen. Panik ergriff sie.

Da stieß eine riesige Fledermaus aus dem Himmel, packte sie und flog mit ihr zurück in die Burg. Im Hof setzte sie das Mädchen ab und landete elegant. Sekunden später stand ihr Vater vor ihr.

"Was hast du in der Nacht dort draußen zu suchen!?", schrie er sie an. "Dort wimmelt es von Nynx. Wenn du unbedingt sterben willst, kannst du es hier leichter haben."

"Ich will nach Hause!", schrie sie zurück während heiße Tränen über ihre Wangen liefen. "Hier ist es todlangweilig. Immer nur weben und fechten! Und niemand mag mich. Ich habe nicht einen einzigen Freund hier."

"Wie viele Freunde hattest du in Springville?", fragte Volusian ruhig.

Angelockt von dem Lärm kamen einige Mischlinge in den Hof. Fackeln flammten auf und eine Gruppe Krieger verließ die Burg.

"Zu Hause hatte ich so viele Freunde wie ich wollte", behauptete Loretta trotzig.

"Weil du sie mit deiner Magie beeinflusst hast", widersprach Volusian. "Wie viele echte Freunde hattest du dort?"

Ja, ihr Vater hatte recht. Sie hatte sich immer auf ihre Magie verlassen. Es hatte Spaß gemacht, ihre Mitschüler nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Aber wer hatte sie wirklich gemocht? Zutiefst unglücklich setzte sie sich auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie fühlte sich plötzlich müde und ausgelaugt.

"Du bist hier nicht ganz allein", sagte eine leise Stimme in ihrem Kopf.

Ungläubig hob sie den Kopf. Statira kniete vor ihr. Die Hand, die so meisterhaft das Schwert führen konnte, strich sanft über ihr Haar, die Schulter und blieb sekundenlang auf ihrer Brust liegen. Wohlige Schauer durchflossen sie.

"Willst du meine Schwertschwester sein?"

Schwertschwester? Ja, eine Schwester wäre gut, jemand, der da war, wenn sie sich einsam fühlte. Wie in Trance nickte sie und ließ sie sich von Statira aufhelfen.

"Geh jetzt schlafen, Loretta", befahl Volusian.

"Du warst eine Fledermaus", sagte sie halb fragend, halb vorwurfsvoll.

"Ja, wie sollte ich dich sonst da heraus holen?", antwortete er schlicht. "Geh zu Bett. Für heute hast du genug Unheil angerichtet."

Nur zu gern ging Loretta mit Statira in ihre Unterkunft. Dort legte die Grünhaarige ihre Hand auf Lorettas verletzten Arm. Während tausend Ameisen sie aufzufressen schienen, blickte sie gedankenverloren vor sich auf den Boden. Ihr Vater konnte sich in eine Fledermaus verwandeln. Nun ja, es war eine mächtig große Fledermaus, aber ein Drache oder wenigstens ein Löwe wäre ihr doch lieber gewesen. Loretta stellte fest, dass sie stolz auf ihren Vater sein wollte und eine Fledermaus trug nicht allzu viel dazu bei.

Da nahm Statira die Hand weg und der Arm des Mädchens wurde gefühllos. Die Wunde hatte sich geschlossen. Nur eine dünne, weiße Narbe war zu sehen.

"Du kannst heilen?", rief Loretta aus. "Ich dachte, das können nur Bewahrer!"

"Mein Talent ist minimal und es geht auf die Substanz." Müde wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Gesicht sah nun bleich und eingefallen aus. "Gib mir von deiner Kraft." Zärtlich nahm sie das Mädchen in die Arme. Ihre Lippen trafen sich zu einem Kuss.

In dieser Nacht schlief Loretta in Statiras Armen. Das erste Mal, seit sie ihr Heim in Springville verlassen hatte, empfand sie ein wenig Glück. Arrian erschien ihr nun nicht mehr so trist. Vielleicht könnte sie sich ja doch daran gewöhnen, überlegte sie.



Fortsetzung folgt....


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