STORIES


KIRSCHBLÜTE IM WINTER

von Fred H. Schütz



Ich bemerkte sie erst, als ich schon fast an ihr vorüber gegangen war. Sie stand in die Ecke zwischen zwei gegeneinander versetzten Hausmauern gekauert, ein fahler Schatten in der Dunkelheit. Der rauhe Dezemberwind spielte mit dem Saum ihres bodenlangen Kleides, und das war es wohl, was meine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hatte. Sie zitterte vor Kälte.

Sie blickte erschreckt auf, als ich auf sie zutrat und den Hut lüpfte. Der nasse Asphalt reflektierte gerade genug Licht einer fernen Straßenleuchte, daß ich ihre Gesichtszüge eben so wahrnehmen konnte. Dunkle schräge Augen in einem kantig wirkendem blassen Antlitz, schmale Lippen, fast ohne Farbe, wie zum Schrei geöffnet. Sie drückte sich noch fester in die Nische.

Ich bot ihr meine Hilfe an, zuerst auf deutsch, dann auf englisch. Beim zweiten Ansatz hauchte sie "Thank you" mit schwacher Stimme. Da kam - wenn man's nennt, kommt es gerennt - ein Taxi mit Freizeichen die Straße herunter, fast ein Wunder in dieser Nacht. Ich hielt es an und lud sie ein, einzusteigen. Sie zögerte, stieg aber doch ein. Auch der Taxifahrer hatte gesehen, wie sie fror und holte eine Decke aus dem Kofferraum, in die ich sie einhüllte. Sie dankte mir mit einem schwachen Lächeln. "Wohin, Bruder?" sagte der Fahrer und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Er sah älter aus, als er wohl war und gleichzeitig müde. Sicher hatte er mehr gesehen und erlebt, als einem Menschen lieb sein kann.

Ich fragte sie nach ihrer Adresse, sah die Furcht in ihren Augen, als sie verneinend den Kopf bewegte. "Möchten Sie in ein Hotel gehen?" fragte ich und erhielt als Antwort wieder das verneinende Kopfschütteln. "Die Polizei?" sagte der Fahrer hilfreich. "Wenn sich einer verlaufen hat, sucht er am besten die Hilfe der Polizei." Er war ein weiser Mann, wenn er so rasch erkannte, daß er es mit einer verlorenen Seele zu tun hatte.

Sie muß das Wort verstanden haben, denn sie stieß einen erschreckten Ruf aus und griff nach der Türklinke, die Füße nach hinten ziehend, um sich zu erheben. Ich griff rasch zu, ihres Wehrufes nicht achtend, und zog sie zurück. "Easy," sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. "Nur die Ruhe!" Während ich die Decke wieder über sie breitete, sagte ich zum Fahrer, "Fahren Sie uns nach Hause," und nannte meine Adresse.

"Es ist Ihr Leben, Bruder," brummte der gutmütig und setzte das Fahrzeug in Bewegung. Während der Fahrt versuchte ich, ihren Namen zu erfragen. Die direkte Frage schien sie nicht zu verstehen, sah mich fragend an; es kann aber auch sein, daß sie nur Angst hatte. Ich legte die Hand auf meine Brust, nannte meinen Vornamen und deutete dann auf sie, die Augenbrauen hochgezogen und ihr zunickend. Das schien sie zu verstehen. Sie machte eine nickende Bewegung mit dem Kopf und hauchte etwas, das wie "Hina" klang. Ob es ihr Name war, vielleicht auch ein Kosename, oder ob mir schlicht und ergreifend ihre Aussprache nicht ins Ohr ging, kann ich natürlich nicht sagen. Dann fragte ich, ob sie Japanerin sei, denn ich hatte beim Einsteigen im Licht der Fahrgastzelle gesehen, daß sie einen Kimono trug. "Nippon?"

Wieder kam die verneinende Kopfbewegung. "Korea," murmelte sie. Diesmal hatte ich mich nicht verhört, des war ich mir sicher. Ob das der Grund war, daß sie nicht die breite Stoffbahn um den Leib geschlungen hatte, wie sie Japanerinnen zum Kimono tragen? Aber dieses Problem erschien mir geradezu läppisch im Vergleich mit der Frage, was sie zur nächtlichen Stunde auf die einsame Straße getrieben hatte. Aber schon der Versuch einer entsprechenden Frage scheiterte kläglich am gegenseitigen Unverstehen.

Nachdem wir vor meinem Haus anhielten - ich um die Summe ärmer, die ich mir hatte sparen wollen, indem ich zu Fuß ging - und der Fahrer uns ein freundliches "Gute Nacht, Ihr Täubchen" nachrief, schleuste ich sie durch die Haustür. Im Foyer blieb sie wankend stehen, das Gesicht verhärmt und blass, den Kimono mit den Händen gerafft. Er war einheitlich rosafarben und sah aus, als ob sie darin geschlafen hätte; sie war wohl schon länger unterwegs, als es zuerst den Anschein hatte. Wie froh war ich, daß der häßliche Bau, worin ich wohnte, einen Aufzug aufwies! In ihrem Zustand hätte sie die Treppen nicht geschafft, und ich wohnte ich vierten Stock ...

Oben angekommen, ließ ich sie eintreten und führte sie gleich ins Bad. Ein heißes Bad war jetzt das Wichtigste, um einer Erkältung oder noch Schlimmerem vorzubeugen. Wie freute ich mich jetzt, daß ich vor einem Jahr beim Einkauf versehentlich die Flasche Schaumbadlösung gegriffen hatte! Zu schade zum Wegschmeißen hatte sie nutzlos herumgestanden, aber jetzt konnte ich sie gut brauchen. Während das heiße Wasser einlief, öffnete ich den Verschluß und ließ sie an der Flasche riechen; sie nickte. Als die Wanne voll war, das Wasser mit einer dicken Schaumkrone verziert, ließ sie formlos den Kimono fallen und stieg mühsam hinein.

Ich schätze, ich muß einen Schrei des Schreckens ausgestoßen haben, als ich ihren Rücken sah; er war über und über mit roten Striemen, Abschürfungen und blauen Flecken bedeckt! Auch an den Unterarmen trug sie blaue Male und an den Handgelenken tiefe rote Rinnen. Diese Frau war gnadenlos ausgepeitscht worden! Kein Wunder, daß sie sich lieber dem Kältetod aussetzte, als in den Händen ihrer Peiniger zu verbleiben ...

Als sie sich tiefer ins Wasser gleiten ließ und sich ächzend zurücklehnte, raffte ich den Kimono vom Boden auf - er war aus wertvoller Seide und schön gemacht, aber viel zu dünn für die Jahreszeit, und er war das einzige Kleidungsstück, das sie getragen hatte - faltete ihn mehr oder weniger kunstvoll zusammen und legte ihn auf den Wäschekorb. Sie sollte ihn sehen können, wenn sie nach ihm suchte. Dann stöberte ich im Arzneischränkchen, bis ich die nahezu aufgebrauchte Tube mit Wundgel fand, und legte sie zusammen mit Verbandsmaterial heraus. Darauf ging ich in die Küche.

Als ich zurückkam - in der einen Hand eine Schale, aus der Dampf und ein eigenartiges Aroma aufstieg, in der anderen eine halbvolle Flasche - war sie eingeschlafen. Sie sah jünger aus, als ich gedacht hatte, die exotischen Gesichtszüge nicht mehr so kantig, wenn auch nicht gerade hübsch - zumindest nicht für meinen Geschmack. Aber was spielte das für eine Rolle! Sie bedurfte der Hilfe und ich war der einzige, der sie ihr geben konnte. Einen Arzt zu rufen erschien mir angesichts ihrer Angst vor der Polizei nicht sinnvoll. Aber zunächst mußte ich sie aufwecken, wenn ich nicht zusehen wollte, wie sie ertrank.

Sie schreckte mit einem Wehlaut auf, als ich ihre Schulter berührte und ich sagte schnell, "Nur die Ruhe! Hier sind Sie in Sicherheit." Dann hielt ich die dampfende Schale vor ihr Gesicht. "Trinken Sie, Es wird Ihnen gut tun!" Vor dem Geruch, oder womöglich beim Anblick der Milch wandte sie das Gesicht ab, aber ich ließ nicht locker, bis sie die Schale ausgetrunken hatte. Sie enthielt Großmutters Geheimmittel gegen Grippe - zwei Aspirin in heißer Milch gelöst, mit einem ordentlichen Schuß Rum - vor dem Schlafengehen zu reichen. "Besser?" fragte ich und sie nickte.

Sodann half ich ihr beim Herausklettern, tupfte ihr mit einem Handtuch vorsichtig und ganz sachte den Rücken trocken, und während sie sich mit dem Badetuch vollends abtrocknete, tupfte ich ihr mittels Wattebausch das Olivenöl aus der Flasche auf den Rücken; es war das Einzige neben dem Wundgel, das ich zur Behandlung ihrer Verletzungen zur Verfügung hatte, und das Öl ist bekanntlich gut für die Haut. Schließlich strich ich ihr noch den Rest Wundgel, den ich aus der Tube quetschen konnte, auf die Fesselspuren an ihren Handgelenken und umwickelte sie locker mit Verbandszeug. Ich tat das alles ohne sie direkt anzuschauen, denn ihre Nacktheit weckte doch gewisse Gefühle in mir.

Als ich mit allem fertig war, half ich ihr in meinen Bademantel, der ihr natürlich viel zu groß war; ich mußte die Ärmel umkrempeln, damit sie ihre Hände frei hatte. Da ihr Haar naß geworden war, gab ich ihr noch ein frisches Handtuch, das sie sich um den Kopf wand. So ausstaffiert brachte ich sie ins Schlafzimmer, wo ich die Bettdecke bereits zurück geschlagen hatte, und ließ sie darauf Platz nehmen.

Auf den Nachttisch hatte ich einen Teller mit Sandwiches gestellt, den ich ihr nun anbot. Ich hatte mir gedacht, daß sie Käse nicht mögen würde und daher die Brote nur mit Roastbeef belegt, aber auch die Butter, mit der sie bestrichen waren, schien ihr nicht zu schmecken. Dennoch aß sie alles mit wahrem Heißhunger auf. Ich sah ihr dabei zu, und als sie alles gegessen hatte und auf meine Frage, ob sie satt sei, stumm nickte, hob ich ihre Beine ins Bett und legte die Bettdecke über sie. Dann drehte ich das Nachtlicht zur Seite, so daß es ihr nicht in die Augen schien, und ging mit dem Teller in der Hand zur Tür. Als ich sie leise rufen hörte, wandte ich mich um.

Sie hatte die Bettdecke zurück geschlagen und ließ mich ihren Körper sehen. Bot sie sich an, um mir so ihre Dankbarkeit zu erweisen? Das stellte mich vor ein Dilemma. Nahm ich das Angebot an, wäre ich mir wie ein Schwein vorgekommen, und wenn ich es ablehnte, würde sie sich gedemütigt fühlen. Diese Frau hatte für meine Begriffe bereits viel zu sehr gelitten.

Ich ging zu ihr zurück, beugte mich vor und zog sachte die Decke wieder über sie. Dann strich ich ihr über die Stirn und machte eine küssende Geste mit den Lippen. "Schlaf gut, Kind. Ruhe dich aus!"

Ich war nicht mehr jung genug, daß das Wort "kid" aus meinem Munde lächerlich geklungen hätte. Dann ging ich zur Zimmertür, warf ihr noch eine Kußhand zu und löschte das Deckenlicht. Die Tür ließ ich einen Spalt offen.

Im Wohnzimmer machte ich es mir auf der Couch so bequem wie möglich. Wer schon einmal auf einem solchen Möbel genächtigt hat, weiß wie wenig gemütlich das ist. Ich wälzte mich hin und her, her und hin, und suchte die möglichst bequeme Stellung. Schlaf wollte nicht kommen.

Die Frau nebenan in meinem Bett ging mir nicht aus dem Sinn. Was hatte sie in eiskalter Nacht spärlich bekleidet auf die Straße getrieben? Sie war gequält worden, das war klar, aber warum und von wem? Wer war das Ungeheuer, das solche Frevel beging? Warum hatte sie sich nicht besser versorgt, als sie floh, oder war das nicht möglich?

Hatte sie einen Augenblick der Unachtsamkeit seitens ihrer Peiniger ausgenützt und war Hals über Kopf davon gestürzt? Wie weit mochte sie gelaufen sein, um ihren Verfolgern zu entkommen? Fragen, auf die ich wohl niemals eine Antwort erhalten würde ..... Ich lauschte, aber aus dem Nebenzimmer drang kein Laut. Ich hoffte, daß sie schlief, gut schlafen würde, denn ihr Körper und ihre Seele hatten Erholung dringend nötig. Einen Moment lang dachte ich daran, den Fernseher einzuschalten, um mich zu zerstreuen, aber dann fürchtete ich, daß die Geräusche sie womöglich wecken würden und unterließ es.

Schließlich muß ich doch eingeschlafen sein. Ich hatte wüste Träume, an die ich mich nicht erinnere und die mich immer wieder aufschrecken ließen. Als ich erwachte, war es bereits heller Tag. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß es nahezu Mittag war. Vor mir auf dem Kaffeetisch standen ein Teller mit belegten Broten und ein Glas Orangensaft. Sie hatte mein Frühstück bereitet, war also schon auf.

"Hina!" rief ich und ging in die Küche, um zu sehen, ob sie selber frühstückte. Die Küche war leer, das Geschirr von gestern Abend abgewaschen und zum Trocknen in den Ständer gestellt. Mein Ruf war unerwidert verhallt.

Ich schaute ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, aber leer, nur die Tür des Kleiderschranks stand einen Spalt breit offen. Sie ist schwergängig und wenn man sie zudrückt, knarrt sie. Im Bad hingen die Handtücher auf der Stange und der Kimono lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Wäschekorb. Ich habe ihn sorgsam in Plastik verpackt in den Schrank gelegt, für den Fall, daß sie wiederkäme, aber sie kommt nicht zurück. Stille kann sehr laut sein, wenn man Antwort erwartet, die nicht kommt. Hina, oder wie immer sie hieß, war gegangen.

Sie konnte nicht nackt auf die Straße gelaufen sein. Ich schaute in den Kleiderschrank und fand, daß mein Jogginganzug, der alte Trenchcoat und der alte verschlissene Pullover, den ich schon immer aussortieren wollte, fehlten. Außerdem vermißte ich ein Paar meiner Schuhe und meinen Lieblingsschal. Ob sie sich meiner Unterwäsche und Socken bedient hatte, konnte ich im Augenblick nicht feststellen, aber ich hoffte, daß sie sich gut eingepackt hatte, denn sie sollte nicht frieren. Geld hatte sie nicht genommen, und ich fragte mich, wie sie sich in einem fremden Land ohne Sprachkenntnisse durchschlagen würde, aber eine Antwort darauf wußte ich nicht.

Auf dem Kaffeetisch lag ein Zettel, den ich vorhin nicht bemerkt hatte. Darauf stand in ungelenken Buchstaben, "No look me," darunter ein paar verschachtelte Zeichen, die wohl ihre Unterschrift waren, vielleicht ein Gruß auf koreanisch. Ich sollte nicht nach ihr suchen, hatte sie geschrieben.

Ach Hina! Wie hätte ich in dieser großen Stadt nach dir suchen sollen! Eine Person aufzuspüren, von der man so gut wie nichts weiß, ist wie die famose Nadel im Heuhaufen suchen. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in sie verliebt hätte, dennoch vermißte ich sie. Sie war für einen flüchtigen Moment in mein Leben eingetreten, hatte es verändert, und nun war ich einsamer als je zuvor.

Ich rief in der Firma an, um mich zu entschuldigen, und ging am nächsten Tag wie üblich zur Arbeit. Den Kollegen habe ich nichts von meinem Abenteuer erzählt. Wozu auch?

Nicht ganz eine Woche später sah ich ihr Bild in der Zeitung auf Seite drei, das Gesicht eigenartig starr und ausdruckslos. Dazu ein kurzer Artikel und über allem die Überschrift, fett gedruckt: "Wer kennt diese Frau?" Spaziergänger hatten ihre nackte Leiche in einem kleinen Wald nahe der nördlichen Zufahrt zur Autobahn gefunden; eine Frau asiatischer Herkunft, zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt. Der Bericht besagte, sie hätte bereits mehrere Tage an der Stelle gelegen, und nur die herrschende Kälte habe den Verwesungsprozeß verzögert. Bekleidungsstücke, auch Teile, die zu der Leiche paßten, wurden nicht gefunden. Sie wies Foltersspuren auf, aber der Tod sei durch Genickbruch herbeigeführt worden. Für Hinweise, usw. blabla ...

Ich bin selbstverständlich nicht zur Polizei gegangen. Es hätte die Ermittler keinen Schritt weitergebracht, zu wissen, daß sie die wahrscheinlich letzte Nacht ihres Lebens bei mir verbracht hatte, und mir ersparte ich eventuell einen unangenehmen Besuch. Ein junges, voll heißer Sehnsüchte und Hoffnungen begonnenes Leben war brutal ausgelöscht und der malträtierte Körper achtlos weg geworfen worden.

Den Kimono besitze ich immer noch, aber die Hoffnung auf Hinas Wiederkehr ist von mir gewichen. Manchmal hole ich ihn hervor, um ihn zu betrachten, und male mir aus, wie es gewesen wäre, wenn sie sich entschlossen hätte, bei mir zu bleiben ...

ENDE



zurück