STORIES


DAS SCHACHBRETT

Folge 2

von Susanne Stahr



Die Drachenhöhlen



"Böse Sache!", brummte Florix und strich nachdenklich über seinen Bart. "Die Gilde bietet Schutz für Diebe, aber nicht für Mörder."

"Shira hat nicht gemordet!", widersprach Aurix und legte den Arm um seine Gefährtin. "Es war der Marimba. Sie war besessen!"

Das Schachbrett war nur knapp den Wachen entgangen und hatte sich nach einer wilden Verfolgungsjagd, die Shira alle ihre magischen Tricks abverlangt hatte, zu Florix in das Gildenhaus geflüchtet. Es war aber auch wirklich Pech, dass diese alte Jungfer gerade in der Nacht, in der Shira vom Marimba besessen war und mordlüstern durch die Straßen Akushnetas lief, an Schlaflosigkeit gelitten hatte und nichts Besseres zu tun wusste, als aus dem Fenster zu luchsen. Unter eben diesem Fenster hatte die Diebin zwei Betrunkene erstochen, von denen der eine ein Wächter und der andere der Pastetenkoch des Präfekten war.

"Wenn du es sagst, dann war sie eben besessen", meinte Florix nüchtern. "Die Wachen werden ihr das aber sicher nicht abnehmen. Die Ugbali gelten als barbarisch und ..." Er verstummte, da Shiras Dolchspitze sein linkes Auge bedrohte.

"Wir sind keine Barbaren!", knirschte sie und vergaß ganz, dass sie sich gerade eben alles andere als zivilisiert verhielt. "Unsere Kultur ist mindestens so alt wie eure!"

"Shira!" Aurix' kräftige Hand legte sich auf einen schwarzen Unterarm. "Wenn du ihn umbringst, kann er uns nicht mehr helfen."

"Vielleicht will er das ja gar nicht." Mit einem bösen Fauchen ließ sie den Bruder ihres Geliebten los und setzte sich widerstrebend auf ein Kissen. Doch jeder Muskel ihres geschmeidigen Körpers war angespannt.

"Bist du sicher, dass der Geist ausgetrieben ist?" Florix rieb seine Kehle, die Shiras Hand gequetscht hatte.

"Natürlich! Sie hat nur Angst", beschwichtigte ihn Aurix. "Kannst du uns von der Insel schaffen?" Er öffnete einen festen grauen Jutesack, der die Beute der beiden enthielt.

Bedauernd schüttelte Florix den Kopf. "Der Hafen wird von den Wächtern besonders streng kontrolliert. Sie mögen es nicht, wenn einer ihrer Kameraden getötet wird. Ich müsste mindestens zwei von ihnen bestechen. Das wäre sehr teuer und sie hätten mich dann in der Hand. Die Diebesgilde hat noch nie einen Mörder gedeckt. Ich habe einen Ruf zu verlieren."

"Ich bin keine Mörderin!", zischte Shira. "Geht das nicht in deinen bleichen Wasserkopf?!"

"Hüte deine Zunge, Schimpansenweib!", schoss Florix zurück.

Wieder sprang Shira wütend auf. "Ich kämpfe!", schrie sie. "Entweder in die Freiheit oder bis zum Tod! Du hast uns Schutz versprochen für einen Teil unserer Beute. Wir haben immer pünktlich bezahlt und sogar ehrliche Arbeit geleistet und jetzt windest du dich wie eine nadisische Made! Ich gehe! Lass mich raus aus deinem bekackten Hühnerstall!" Mit einem Fußtritt stieß sie den Wächter an der Tür des Besprechungszimmers zur Seite. Sie hatte schon den halben Hof überquert als Aurix sie erreichte und mit beiden Armen umfing.

"Sei vernünftig, Shira!", beschwor er sie. "Florix wird einen Ausweg finden. Du darfst ihn nur nicht vorher umbringen."

"Du Scheusal!" Ihre schwarzen Finger verkrallten sich in seinen blonden Locken und schüttelten kräftig. "Hältst du mich auch für eine Mörderin?", fauchte sie.

"Aua! Nein! Natürlich nicht! Du bist nur aufgebracht." Verzweifelt versuchte er sich zu befreien. "Shira! Lass doch los! Du reißt mir noch alle Haare aus!"

Schnaubend ließ sie los und Aurix massierte seinen malträtierten Kopf. Mit einem Knurren schüttelte sie ausgerissene Haare von ihren Fingern. Dann folgte sie dem Meisterdieb zurück ins Haus.

Florix hatte inzwischen zwei zusätzliche Wachen antreten lassen. "Ich glaube, ich habe was für euch beide. Die Drachenhöhlen!", grinste er aufmunternd.

Misstrauisch wechselten die beiden Blicke. "Er will uns einem Drachen zum Fraß vorwerfen", knurrte Shira.

"Oh nein!", beteuerte Florix. "In den Drachenhöhlen ist seit Jahren kein Drache mehr gesehen worden."

"Seit Jahren?" Aurix fixierte seinen Bruder scharf.

"Seit hundert Jahren." Florix zog ein wenig die breiten Schultern hoch. "Also mindestens seit achtzig Jahren. Es gibt niemanden in Akushneta, der sich an einen Drachen erinnern kann."

"Bist du sicher?" Aurix war noch nicht überzeugt. "Ein Drache kann viele Jahre schlafen und wenn er erwacht, möchte ich nicht in der Nähe sein."

"Brüderchen, vertraust du mir nicht?" Beleidigt schüttelte der Gildenmeister den Kopf. "Lass mich nur machen." Begeistert winkte er einer Wache. "Holt mir Grimel her."

Wenig später erschien die unscheinbare Frau, die sie schon bei ihrem ersten Besuch bei Florix angetroffen hatten, und führte Shira aus dem Raum.

"Du wirst sie nicht wiedererkennen", versprach Florix grinsend. "Und nun zu dir. Wenn du dir die Haare abrasierst ..." Die weiteren Worte blieben vor Aurix' mörderischem Zähnefletschen ungesagt. "Na ja", lenkte er ein, "Ein Turban würde es vielleicht auch tun. In zwei Tagen verlässt eine Karawane galenischer Kaufleute die Stadt in Richtung Tishomingo, der zweitgrößten Stadt auf Wellanka. Ihr könnt euch in geeigneter Kleidung der Gruppe anschließen. Eine Wegstunde von der Stadtmauer entfernt erheben sich die Parowan-Berge. Sie sind von zahllosen Höhlen durchlöchert ..."

Ein erstickter Schrei ließ ihn seine Ausführungen unterbrechen. Aurix starrte mit weit aufgerissenen Augen und Mund auf die kleine, vermummte Gestalt, die mit Grimel eingetreten war. Eine bodenlange, dunkle Kutte ließ die Konturen des Körpers verschwimmen. Den Kopf bedeckte eine Kapuze, die nur in Augenhöhe einen schmalen Schlitz aufwies. Von dort blitzten Shiras schwarze Augen ihren Gefährten zornig an.

"Ein Wort und ich reiße dir die Zunge raus!", drohte das Ugbali-Mädchen.

"Wie sieht denn meine Verkleidung aus?", fragte er kleinlaut.

"Undankbares Pack!", schimpfte Florix. "Du wirst einen Turban tragen, mit einem Schleier. Mit deiner Statur kannst du als Krieger durchgehen. Dazu müsstest du nur deinen Körper mit Alesha einreiben. Das gibt ihm die richtige Farbe und auch den passenden Geruch."

Aurix stöhnte. Alesha stank bestialisch und die Kleidung eines galenischen Kriegers bestand in der Hauptsache aus Riemen und Gurten, an denen die verschiedensten Waffen hingen. Es gab nur einen knappen Lendenschurz, der notdürftig die Blöße bedeckte. Schuhe oder gar Stiefel, wie Aurix sie liebte, galten als weibisches Zubehör. "Willst du mich umbringen, Bruder?", jammerte er vorwurfsvoll.

"Eine Stunde wirst du es schon aushalten. In den Höhlen gibt es genug Wasser mit dem du die Farbe wieder abwaschen kannst."

"Und wie soll es weitergehen? Wir können nicht ewig in den Höhlen bleiben", warf Shira ein. Sie hatte die Kapuze vom Kopf gerissen und eine Ecke geschleudert.

"Ihr bekommt Lebensmittel für zehn Tage mit", erklärte Florix eifrig. "Wenn sich hier die Gemüter beruhigt haben, könnt ihr in Ruhe nach Tishomingo gehen und von dort die Insel verlassen. Ich werde alles arrangieren. Vertrau mir, Bruder!"

Ein unbehagliches Gefühl beschlich die beiden. In einer unbekannten Höhle festzusitzen gefiel ihnen gar nicht. Aber es war immer noch besser als der Block des Henkers.



Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Steppe im Süden von Akushneta. Die Räder der klobigen Wagen und die Hufe der Pferde wirbelten feinen Staub auf, der sich in jede Falte setzte. Shira schwitzte zwischen ähnlich vermummten Frauen auf einem hochrädrigen Wagen mit einem löcherigen Sonnendach. Daneben ritt Aurix mit zusammengebissenen Zähnen auf einem hochbeinigen knochigen Wallach einher. Am liebsten hätte er sich das gelbliche Turbantuch um den Leib gewickelt, um seine empfindliche Haut vor der Sonne zu schützen. Leider dufte er seine Tarnung noch nicht aufgeben. Noch waren sie in Sichtweite der Wachen, die auf den Mauern von Akushneta patrouillierten. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er zu den Parowan-Bergen, die sich wie der Rücken eines leprösen Schweines in scheinbar greifbarer Nähe erhoben. Fast schien es ihm, als käme die Karawane gar nicht vom Fleck. Die Hänge des Massivs waren nur von wenigen Büschen und verkrüppelten Bäumen bewachsen und die Öffnungen der zahllosen Höhlen wirkten einmal wie Wunden, dann wieder wie gierig aufgerissene Mäuler.

Aurix rutschte unruhig im Sattel hin und her. Der warme Wind trocknete die Haut aus und blies ihm den feinen Sand in die brennenden Augen und zwischen Sattel und seinen kaum geschützten Körper, was ein schmerzhaftes Jucken hervorrief. Den Ochsen, die die Karren der Kaufleute zogen, schien die Hitze nichts auszumachen. Sie trotteten stur Schritt für Schritt weiter. Besorgt beobachtete Aurix einen Geier, der über der Karawane kreiste.

"Der wird uns bis Tishomingo begleiten", lachte ein braungebrannter galenischer Krieger hinter seinem Schleier hervor. "Er bringt uns Glück!"

Er scheint die Hitze und den Staub gar nicht zu bemerken, dachte Aurix neidisch. "Kennst du die Drachenhöhlen?", fragte der Meisterdieb. "Man sagt, dass dort früher Drachen gehaust hätten."

"Ich habe einmal in einer übernachtet", erzählte der Krieger. "Aber da war nicht einmal ein Knochen von einem Drachen, nur eine Schlange." Aurix riss erschreckt die Augen auf. "Sie hat gut geschmeckt. Es war eine Blaubandnatter." Nun lachte der Krieger so heftig, dass sein Schleier flatterte. Erleichtert stieß Aurix die Luft aus. Blaubandnattern waren eine Delikatesse. "Drachen wirst du dort nicht finden", fuhr der Mann fort. "Höchstens ein paar tote Schatzsucher. Einige haben sich wohl in dem Labyrinth verirrt und müssen immer noch dort sein. Die Legende von einem unermesslich reichen Drachenhort hält sich hartnäckig, obwohl noch niemand auch nur ein Stück davon gefunden hat." Ein vermummter Kopf hob sich über die anderen und Aurix fühlte, wie Shira die Ohren spitzte. "Es sind immer nur Fremde, die auf dieses Märchen hereinfallen", schnatterte der Galenier weiter. "Die Einheimischen wissen schon, dass in den Höhlen nichts zu holen ist. Ihr habt nichts zu befürchten." Ein Zungenschnalzen ließ sein Pferd stärker ausgreifen, um die Karawane sichernd zu umkreisen.

Endlich waren die Berge so nahe gerückt, dass die Diebe die ersten Höhlen mit einem kurzen Fußmarsch erreichen konnten. Die Galenier überreichten den beiden zwei prall gefüllte Rucksäcke und dann trennten sich die Reisegefährten.

Shira riss als erstes die Kapuze vom Kopf und Aurix hüllte sich ächzend in seinen Umhang. Beides wurde von einem missbilligenden Schnaufen der Galenier quittiert. Ohne sich noch einmal umzudrehen marschierten die beiden los. Anfangs kamen sie gut voran. Doch dann mussten sie durch Geröllhalden klettern und Felsbrocken ausweichen. Am Boden kriechende Brombeerranken zerkratzten ihre Beine. So waren sie einigermaßen erschöpft als sie den untersten Höhleneingang erreichten. Eine kalte Feuerstelle zeigte an, dass hier schon oft Menschen ihr Lager aufgeschlagen hatten. Das schien nicht gerade ein sicherer Zufluchtsort zu sein. Nach einer kurzen Rast kletterten sie den Berg hoch, zu einer Höhle, deren Eingang halb von einem stacheligen Busch verdeckt war. Auch hier fanden sie Spuren von früheren Benutzern.

"Heute gehe ich nicht mehr weiter", murrte Shira und ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten.

"Aber hier sind wir nicht sicher", widersprach Aurix.

"Die Sonne steigt immer höher. Willst du in dieser Affenhitze in den Felsen herumkrabbeln?" Trotzig schob sie das Kinn vor. "Ich rieche Wasser."

Im Nu entledigte sich auch der Meisterdieb seines Gepäcks und folgte seiner Gefährtin, die tiefer in den felsigen Schlund vordrang. Zuerst verengte sich die Höhle zu einem schmalen Gang, der so niedrig war, dass Aurix den Kopf einziehen musste. Es wurde auch immer finsterer. Kein Problem für Shira. Ein magisches Wort ließ einen kleinen Feuerball entstehen, der vor ihnen her schwebte und Licht spendete. Nach einigen Minuten erweiterte sich der Gang zu einem hohen runden Dom. Leise plätschernd speiste eine Quelle aus dem Hintergrund des Doms einen kleinen See. Hier wurde es wieder heller, denn ein Loch in der Decke gab den Blick auf einen wolkenlosen Himmel frei. Ein schleifendes Geräusch ließ Shira aufhorchen. Dann sah sie Aurix das Riemenzeug abstreifen. Er musste der Verursacher gewesen sein, dachte sie und ließ sich von dem frischen Wasser verlocken.

Nachdem sie ausgiebig geplanscht hatten, war Aurix' Körper von der dunklen, stinkenden Schminke befreit und beide fühlten sich erfrischt und tatendurstig.

"Vielleicht gibt es hier doch einen Drachenhort", überlegte Shira als sie bei einem Imbiss im vorderen Teil der Höhle saßen.

"Du hast doch gehört, dass nichts dran ist. Drachen gibt es hier seit einer Ewigkeit nicht mehr. Und wenn es jemals einen Hort gegeben hat, wurde er sicher von den Einheimischen längst geplündert."

"Wir können uns doch ein wenig umsehen", beharrte sie. "Im Moment haben wir doch ohnehin nichts zu tun."

Schulterzuckend gab Aurix nach. Was konnte es schaden, die Höhlen zu erforschen?

Schon in den ersten Tagen stellten die beiden fest, dass viele Höhlen miteinander durch Gänge und Schächte verbunden waren. Die Parowan-Berge waren ein Kalkmassiv, das im Laufe der Zeit so durchlöchert wie goranischer Käse war. Shira ließ auf ihren Erkundungsgängen immer ein magisches Licht voranschweben und Aurix machte mit Holzkohle Zeichen auf die Wände, damit sie sich in dem Labyrinth nicht verirrten. Einmal schwebte der Ball in eine kleine Kammer, die sein Licht tausendfach zurückwarf. Shira reduzierte hastig die Helligkeit der Kugel. Da erkannten sie, dass sie am Eingang einer gigantischen Druse standen. Wie Stacheln wuchsen wasserhelle Kristalle in allen erdenklichen Größen von den Wänden der Kammer.

"Das ist Bergkristall", erklärte Aurix fachmännisch. "Wenn wir hier die schönsten Stücke ausbrechen, können wir bei einem Juwelier einen schönen Preis erzielen." Vorsichtig stocherte er mit seinem Flammendolch zwischen den Kristallen. Auch Shira hatte ihr Messer gezogen und begann steinerne Gestecke aus der Wand zu brechen. Bald häufte sich am Boden der Kammer ein beachtlicher Schatz. Wieder hörte die kleine Diebin ein Schleifen und Tappen. Oder war es eine Täuschung? Irritiert schüttelte sie den Kopf. Die glitzernden Kristalle waren wichtiger.

Shiras knurrender Magen machte die beiden darauf aufmerksam, dass schon einige Stunden vergangen waren. Das ewige Dunkel der Höhlen ließ

sie das Zeitgefühl verlieren. Widerstrebend kehrten sie zu ihrem Lager zurück. Sie trennten sich nur ungern von den Kristallen. Doch, wer sollte sie ihnen stehlen?



Als die beiden Diebe am nächsten Tag mit einem Sack zur Kristallkammer zurückkehrten, war ihr aufgehäufter Schatz zertreten, die Kristalle in der ganzen Höhle verstreut. Betreten wechselten die beiden einen Blick.

"Wer könnte das getan haben?", flüsterte Shira und biss sich auf die Lippen. "Wir hätten auf diese Geräusche hören sollen."

"Welche Geräusche?", fragte Aurix. "Ich habe nichts gehört."

"Das kommt nur davon, weil du zuviel säufst, du nimmersatter Schluckspecht!"

"Warum hast du mir nichts gesagt? Wenn es hier noch einen Bewohner gibt, bedeutet das eine Gefahr für uns, hirnlose Kröte!", verteidigte er sich. Hastig sammelte er die heil gebliebenen Steine ein.

"Vielleicht gibt es doch einen Drachen", vermutete Shira.

"In deinem hohlen Kopf vielleicht. Wir müssen einfach vorsichtiger sein und du erzählst es mir besser, wenn du etwas hörst. Ich bin eben nicht im Urwald groß geworden. Wir Stadtmenschen haben andere Qualitäten als Luchsohren. Feine Sitten, zum Beispiel."

"Du solltest deine Sitten mal sehen, wenn du dich hast vollaufen lassen", motzte sie noch ein wenig. Doch im Grunde gab sie ihm recht.



Durch ihre täglichen Streifzüge kannten sie jetzt einen Teil des Labyrinths. Wenn sie neue Gänge betraten, taten sie das nie ohne eine Waffe in der Hand. Doch sie fanden keine Spur von dem geheimnisvollen Bewohner des Berges. Als sie zwei Tage später von einer Erkundung zurückkamen, hörten sie Stimmen aus ihrer Schlafhöhle.

"Das müssen zwei sein", sagte eine raue Stimme. "Schatzsucher. Sie haben Edelsteine gefunden."

"Die sind nicht viel wert. Im Hort müsste viel mehr sein, Gold und Geschmeide", antwortete eine anderer.

Aurix stieß seine Gefährtin an. Diese Stimme kannten sie. Sie hatten sich in eine dunkle Nische gedrückt und Shira hauchte nun in Aurix' Ohr: "Wie kommt Hurro hierher?" Seit ihrem Abenteuer im Turm des toten Zauberers, in dessen Verlauf Aurix in einen Frosch verwandelt worden war, hatten sie nichts mehr von dem Meister der Diebesgilde von Am-Horeb gehört. Sie hatten ihn damals in einer wenig erfreulichen Lage verlassen. Das war auch der Grund für ihre Flucht von Idias gewesen.

"Welcher Dämon hat diesen Kerl hierher geführt?", schimpfte Aurix leise.

"Du weißt doch, dass er schon immer nach einem großen Schatz gierte. Im Gildenhaus hatte er einen geheimen Raum mit Schriftrollen, die alle möglichen Legenden und Schatzkarten enthalten. Es hätte mich gewundert, wenn er nichts von den Drachenhöhlen wüsste."

"Warum muss er gerade jetzt hier auftauchen!"

Ein dumpfes Tappen, verbunden mit einem schleifenden Geräusch aus dem tieferen Teil des Höhlensystems jagte eine Gänsehaut über Shiras Rücken. Aurix legte einen Arm schützend um sie, doch sie spürte den Schauder, der seinen Körper packte und hörte das Knirschen seiner Zähne. Jetzt hatte er es auch gehört. In der Finsternis der Parowan-Berge lebte etwas. Alle Sinne aufs äußerste gespannt hockte das Schachbrett in der Nische und versuchte gleichzeitig auf Hurro und seine beiden Gesellen und den geheimnisvollen Bewohner des Labyrinths zu lauschen. Als das Tappen sich entfernte und endlich nicht mehr zu hören war, entspannten sich die beiden.

Inzwischen hatte Hurro die Habseligkeiten der beiden Diebe durchstöbert und tat sich nun mit seinen Helfern an den Vorräten gütlich. Das war zuviel! Sie verständigten sich mit einem Blick und traten hervor. Aurix hielt seinen Flammendolch drohend in der Hand während Shira einen Zauber wob, der etwaige Angriffe des Trios abwehren sollte.

"Lass die Finger von unseren Sachen, du verfressenes Schwein!", fauchte Shira und hob die Hände zu einem neuen Zauber.

Hurro wirbelte seinen massigen Körper erstaunlich schnell herum. Sein tätowierter Schädel glänzte im Licht der untergehenden Sonne. "Das Schachbrett!" Er spuckte die Worte aus wie wurmige Kirschen. "Schnappt sie euch, Männer!" Doch sein Befehl wurde nicht befolgt. Die zwei Ganoven, die ihn begleiteten, saßen mit einem dümmlichen Grinsen auf den Gesichtern am Höhlenboden, den Blick entrückt in die Ferne gerichtet. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Aurix. In seiner Hand war ein gefährlicher Schlagring erschienen, seine bevorzugte Waffe. Geschmeidig wich der Meisterdieb dem ersten Schlag aus. Sein Dolch wob ein blitzendes Muster vor dem vierschrötigen Gesicht des Gildenführers.

Shira überlegte fieberhaft, wie sie ihrem Freund beistehen konnte. Hurro war offenbar gegen ihre Magie geschützt und die Höhle war schon für zwei Kämpfer ziemlich eng. So beschränkte sie sich darauf, den beiden nicht im Wege zu stehen. Vorsorglich nahm sie ein kleines Wurfmesser aus dem linken Stiefel und wartete auf ihre Chance.

Die beiden ungleichen Männer umkreisten einander knurrend und mit gefletschten Zähnen. Jetzt war keine Zeit für coole Sprüche. Sie brauchten ihre ganze Aufmerksamkeit um auf dem unebenen Boden nicht zu stolpern. Jedes Straucheln konnte den Tod bedeuten. Hurros Arm zuckte blitzschnell vor und ratschte über Aurix' Oberarm. Sofort färbte sich der Riss im Ärmel rot. Ein Schnaufen war alles, was der Meisterdieb von sich gab, dann schoss sein Dolch hoch. Hurro wich nach rechts aus und stöhnte auf als Aurix' kleines Schnappmesser in seine fleischige Hüfte biss. Sekunden später steckte Shiras Wurfmesser in Hurros rechtem Unterarm. Fluchend riss der schwere Mann die kleine Waffe heraus, tauchte unter Aurix' Arm durch und verschmolz mit dem Dunkel des Ganges.

"Verdammt! Wo ist er hin?", fluchte Aurix.

"Er wird nicht umsonst 'der Unsichtbare' genannt", meinte Shira trocken und hob ihr Messer auf. Lauschend legte sie den Kopf schief. "Er ist im Gang zur Kristallhöhle."

Mit einem Nicken verständigte sich das Schachbrett und schlich hinter dem Obersten Dieb her. Hurro bewegte sich fast lautlos. Doch Shiras scharfen Ugbali-Sinnen entging sein leises Schlurfen nicht. Shira riskierte eine winzige Flamme als Lichtquelle. Nach wenigen Minuten mischte sich das bereits bekannte Tappen unter Hurros Geräusche. Die beiden Diebe erstarrten alarmiert. Auch von dem Gildenmeister war nichts mehr zu hören. Unaufhaltsam näherte sich das unbekannte Wesen. Shira fühlte ihre Handflächen feucht werden und auch Aurix' Atmung ging gepresst. Mit aufs Äußerste angestrengtem Gehör lauschte die Ugbali auf das leise Tapp-tapp, das immer wieder von kurzen Pausen unterbrochen wurde.

Plötzlich erklang Hurros Kampfschrei. Ihm antwortete ein hohles Röhren und Trampeln. Der Gang hallte von Kampfgeräuschen wider. Als es wieder still wurde, klangen den beiden Dieben die Ohren. Trotzdem entging ihnen nicht ein unregelmäßiges Tappen und Schleifen, das sich langsam entfernte. Shira drosselte ihr magisches Flämmchen noch mehr und huschte hinter ihm durch die Finsternis. Aurix blieb ihr dicht auf den Fersen.

Sie fanden Hurro, oder besser gesagt, seine Überreste, schon hinter der vierten Biegung des Ganges. Seine dicken Wurstfinger umklammerten immer noch den Schlagring. Der Gildenmeister hatte tapfer gekämpft, doch sein Gegner hatte ihn trotzdem überwältigt. Im magischen Flackerlicht schien der Tote sie hämisch anzugrinsen. Ein grässlicher Riss teilte seinen Hals und Brustkorb. Ein Bein hing halb abgetrennt in der zerrissenen Hose. Überall an der Leiche und in ihrem Umkreis war Blut, dessen Geruch sich mit einem stechenden Gestank mischte. Shira ließ die Flamme um den vom Blut glitschigen Kampfplatz wandern. Doch es schien nicht nur Hurros Blut zu sein. Eine Spur von langgestreckten dreizehigen Füßen führte rot und feucht tiefer in den Berg hinein.

"Das war kein Mensch", hauchte Aurix.

"Ein Drache?", raunte Shira zurück. Aurix' verkniffene Miene war Antwort genug. "Kennst du diesen Gestank?"

Ein knappes Kopfschütteln antwortete ihr. "Er ist verwundet. Aber wir wissen nicht, wie schwer", gab er zu bedenken als sich seine Gefährtin anschickte, dem geheimnisvollen Wesen zu folgen.

Shiras Augen und Zähne blitzten unternehmungslustig auf. Auf Zehenspitzen hüpfte sie über Blutlachen und folgte dem verletzten Höhlenbewohner. Das Wesen schien sich nur langsam fortzubewegen. Schritt für Schritt tastete sich das Schachbrett vor. Der Gestank und die Blutspur führte sie in Gänge, die sie noch nicht betreten hatten. Die meiste Zeit ging es abwärts, bis sie endlich vor einer glatten Wand standen, die ihnen den Weg versperrte. Die blutige Spur endete genau davor, doch von dem Wesen war nichts zu sehen. Shiras Amulett leuchtete in hellem Grün, ein deutliches Zeichen, dass Magie im Spiel war.

"Eine Illusion?", fragte Aurix und drückte mit der Hand gegen den Stein. Ihm schien es massiver Fels zu sein.

Die kleine Diebin trat näher und tippte mit einem Finger einen kurzen Rhythmus gegen die Wand. Dazu murmelte sie machtvolle Worte. Die Wand begann rötlich zu leuchten und wurde transparent. Dahinter wand sich der Gang noch ein kurzes Stück weiter und mündete in eine weitläufige Höhle aus der es nur so gleißte und glitzerte.

"Noch eine Druse?", wunderte sich Aurix. Dieses Glänzen blendete so stark, dass nichts Genaues zu erkennen war.

"Die Höhle wird magisch beleuchtet", meinte Shira. Dann stutzte sie. "Sieh doch, Aurix!" lenkte sie seine Aufmerksamkeit auf eine zusammengesunkene Gestalt, die im Gang hinter der Wand kauerte. Deutlich waren seine langen, dreizehigen Füße mit den scharfen Krallen zu erkennen. Der Körper war von der Form her menschlich, doch über und über mit glänzenden Schuppen bedeckt. Die beiden Augen über dem gebogenen Schnabel waren geschlossen, nur das dritte in der Mitte der hohen Stirn war weit geöffnet und schien die Diebe durch die Wand anzusehen. Den eiförmigen Kopf krönte ein Schopf aus dunklen Federn, die auch den langen dünnen Schwanz bedeckten, der zwischen den Beinen hervorragte. Hurro hatte das Wesen übel zugerichtet. Das Schuppenkleid war an einigen Stellen aufgerissen und ein Arm hing in einer unnatürlichen Stellung herunter.

"Was ist das?", flüsterte Aurix. Der Blick des dritten Auges machte ihn nervös.

"Keine Ahnung", antwortete sie ebenso leise. "Aber es lebt noch. Sieh, wie es atmet."

"Ich will mir die Höhle ansehen. Aber wie kommen wir hier durch?" Aurix' Geschäftssinn witterte wertvolle Dinge in dem Gleißen der Höhle.

"Der Zauber dieses Geschöpfs ist stärker als meiner", gab sie zurück. "Außerdem wissen wir nicht, wie stark es noch ist. Es wird uns nicht so einfach in sein Schlafzimmer spazieren lassen, wenn es dies verhindern kann. Denk an den Bergkristall!"

Aurix knurrte einen Fluch. Unwillig drehte er sich um. Hier standen sie, durch eine Wand von dem vielleicht größten Schatz der Welt getrennt und konnten nichts tun. Und jetzt begann auch noch seine Armwunde zu brennen.

Enttäuscht machten sie sich auf den Weg zu ihrer Schlafhöhle. Hurros Leichnam war verschwunden. Nur noch das Blut am Boden des Ganges zeugte von dem Kampf. Auch seine Männer waren nicht mehr da. Je weiter sich das Schachbrett von den beiden entfernt hatte, umso schwächer war der Zauber geworden, bis er endlich erlosch. Ärgerlich fand das Pärchen, dass auch der Sack mit den Bergkristallen fehlte.



Schon am nächsten Tag streiften sie wieder durch die Gänge der Parowan-Berge, auf der Suche nach einem anderen Zugang zu der Glitzerhöhle des seltsamen Wesens. Immer wieder lauschten sie auf ein Tappen und Schleifen. Doch die Höhlen und Gänge blieben stumm. War das Wesen seinen Verletzungen erlegen? Die magische Wand bot noch immer ein unüberwindliches Hindernis.

"Wir sind sicher falsch", meinte Aurix. "Seit einer Ewigkeit gehen wir bergauf. Die Höhle liegt viel tiefer."

"Vielleicht sind wir über der Höhle. Dann brauchen wir nur noch einen Schacht." Shira stampfte frustriert mit dem Fuß auf und stockte als ein kleiner Stein über ihren Fuß rollte.

"Wenn du fester trampelst, kommst du vielleicht durch", höhnte der Meisterdieb. "Soll ich dir helfen?" Damit stampfte er ebenfalls auf. Diesmal rieselten mehrere kleine Steine über den Boden und der Berg grollte.

"Vielleicht hast du recht", meinte sie und sprang kräftig hoch. Der Aufprall ihrer Stiefel ließ den Boden erzittern. Sand und Steine rutschten durcheinander. Durch das Höhlensystem ging ein dumpfes Ächzen und Tosen. Dann löste sich die Welt in Staub und Trümmer auf und das Schachbrett fiel.

Shira war als Erste wieder bei sich. Hustend kämpfte sie sich aus einem Berg halb verrotteter Stoffballen, die ihren Sturz gemildert hatten. Erstaunt glitt ihr Blick über Haufen von Schätzen, die von einem unirdischen Licht beleuchtet wurden. Nach einer kurzen Untersuchung fand sie sich, abgesehen von ein paar unbedeutenden Beulen und Kratzern, unverletzt. Aurix schien es härter getroffen zu haben. Sein Kopf war gegen einen goldenen Brustpanzer geschrammt, was eine heftig blutende Wunde über seinem rechten Auge zur Folge hatte. Rasch riss sie einen Streifen Stoff von einem Ballen und verband die Verletzung.

"Aurix! Liebster! Wach auf!", rief sie und tastete dabei seinen Körper nach Brüchen und weiteren Wunden ab.

Der blonde Dieb schnaufte tief und murmelte: "Mach weiter, meine schwarze Prinzessin. Das ist irre!"

Tappende Geräusche hinter ihrem Rücken ließen Shira herumfahren. Der Unheimliche näherte sich langsam, aber unaufhaltsam. Sein gebrochener Arm schien über Nacht geheilt. Wo noch gestern sein Schuppenkleid zerfetzt war, bedeckten Bandagen aus sioulanischer Seide seinen Körper. Das große Auge auf seiner Stirn war nun geschlossen. Dafür blitzten die beiden Anderen umso wütender. Als sich sein Schnabel zu einem bösartigen Zischen öffnete, wurden Reihen von spitzen Zähnen an den Schnabelrändern sichtbar. Eine dreifingrige Klaue griff nach einem juwelenbesetzten Schwert und holte aus.

Behände sprang die Diebin beiseite. Mit einer fließenden Bewegung glitt der Dolch in ihre Hand und gleichzeitig trat sie ihren Freund aufmunternd in die Seite. "Steh auf, Aurix!" schrie sie. "Das Ding lebt noch und es hat ein Schwert!"

Nun wurde auch Aurix munter. Kraftvoll wuchtete er sich hoch und legte schwankend eine Hand an seinen Kopf. Sofort wandte sich das Wesen ihm zu. Die Klinge zischte gefährlich nahe an Aurix' Arm vorbei. Schnell schnappte sich der Dieb einen prächtigen Krummsäbel mit breiter Klinge und parierte den nächsten Hieb. Wieder griff das Wesen an und Shira hatte das erste Mal Gelegenheit, Aurix' Fertigkeit im Schwertkampf zu bewundern. So nebenbei dachte sie, die Legende vom Schatz in den Drachenhöhlen beruhte also doch auf Wahrheit! Nur dass der Hüter kein Drache war. Leise pirschte sie sich von hinten an das Geschöpf heran, den Dolch stoßbereit. Inzwischen drängte Aurix das Wesen von den kostbaren Bergen weg. Immer wieder zuckte sein Säbel vor.

Neue Verletzungen ließen neues Blut über die Schuppen fließen. Doch auch Aurix blieb nicht verschont. Seine Kleidung hatte sich an der Brust und über der Hüfte bereits rot gefärbt. Endlich fand Shira ihre Chance. Blitzschnell stach ihr Dolch von hinten in ein schuppiges Bein. Kreischend fuhr ihr unheimlicher Gegner herum. Doch die Ugbali war schon außer Reichweite des Schwerts. Dafür schnitt Aurix' Säbel in die Seite des Wesens. Heulend warf es das Schwert nach seinem Peiniger und rannte in einen schmalen Gang.

Sekundenlang verharrte das Schachbrett noch kampfbereit, bis die beiden erkannten, dass ihr Gegner tatsächlich Fersengeld gegeben hatte.

"So ein zäher Knochen", brummte Aurix und streifte sein zerrissenes Hemd ab. Ein langer, zum Glück oberflächlicher Schnitt zog sich quer über den Brustkorb. Die zweite Wunde war ein kleiner Kratzer über der Hüfte. Shira verband beide mit feinem Leinen, das sie unter den Stoffen fand. Dann flocht sie aus Stoffbahnen einen Beutel und füllte ihn hurtig mit goldenen Schalen und Edelsteinen. Aurix beteiligte sich an der Aktion, indem er Münzen und kostbare Schmuckstücke hinzufügte. Schließlich warf sich Shira den Sack über die Schulter und hastete in den nächsten Gang. Ihr Gefühl hatte ihr recht gegeben. Hier war gestern noch eine magische Wand, jetzt war der Weg frei.

Wie von Furien gehetzt rannten die beiden Diebe durch die Gänge. In ihrer Schlafhöhle rafften sie ihre Sachen zusammen und stürmten den Berg hinunter. Erst an der Straße von Akushneta nach Tishomingo blieben sie stehen. Nur ein Blick genügte zur Verständigung, dann marschierten sie in Richtung Tishomingo.

"Die Leute von Tishomingo werden uns nicht gerade erfreut aufnehmen, wenn sie erfahren, wer wir sind", überlegte Shira. "Der Präfekt von Akushneta hat einen langen Arm. Jedenfalls hat das Grimel behauptet."

"Wir können nach Idias zurückkehren", grinste Aurix. "Hast du nicht den frisch aufgeworfenen Hügel aus Steinen gesehen? Groß genug für Hurros fetten Wanst."

"Hm. Ob wir unsere Zimmer in Snippys Kneipe wieder haben können?"

"Warum nicht das Gildenhaus? Hurro braucht einen würdigen Nachfolger." Lachend legte er seinen Arm um Shira und drückte sie an sich.



Ar-Atos Plantage



"Du hast uns da hineingeritten, du hirnlose Bohnenstange!", schimpfte Shira und riss an den Ketten, die sie an den dicken Holzpfahl fesselten, der auf einer der vielen Plattformen auf dem Sklavenmarkt von Manesha, der Hauptstadt Siouls, montiert war.

"Ich konnte doch nicht wissen, dass es ein Sklavenschiff ist!", verteidigte sich Aurix. "Du hattest doch nur Augen für diesen verhungerten Ugbali. Wie eine läufige Hündin bist du um ihn herumscharwenzelt."

"Vielleicht hätte er uns helfen können. Außerdem wollte ich mal wieder mit einem kultivierten Menschen sprechen, du eifersüchtiger Hammel mit dem Hirn eines Truthahns!"

"Was weißt du von Kultur, du ungebildete Matschraupe!"

Als Antwort wollte die schwarze Diebin ihren Gefährten, der an einem ähnlichen Pfahl hing, einen Tritt verpassen. Doch ihre Fußfesseln waren zu kurz. "Halt die Klappe, Strohkopf!" zischte sie. "Der eitle Gockel ..."

Es war schon zu spät. Lovis, ein eleganter, gutaussehender Mann mit einer melodiösen Stimme, in dem man nie einen Sklavenhändler vermutet hätte, war auf die beiden aufmerksam geworden. Mit zwei Schritten stand er hinter Aurix. Im nächsten Moment klatschte seine kurze Peitsche auf den nackten Rücken des Meisterdiebs und zog eine weitere blutige Spur über die von der Sonne gerötete Haut. Aurix klammerte sich an den Pfahl und biss keuchend die Zähne zusammen. Trotzdem konnte er ein Stöhnen nicht unterdrücken.

"Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst, Sklave!", herrschte ihn Lovis an. "Hast du verstanden, du stinkendes Stück Hundedreck?!"

Aurix hielt den Blick gesenkt. "Ich habe verstanden", quetschte er zwischen den Zähnen hervor.

Wieder biss die Peitsche in seinen Rücken. "Was hast du gesagt?"

"Ich habe verstanden, Herr." Aurix senkte den Kopf noch tiefer um den Hass in seinen Zügen zu verbergen, den er gegen den wellankanischen Sklavenhändler hegte. Er hätte nichts lieber getan, als diese edel geformte Nase flach zu schlagen.

Es war aber auch wirklich ein Pech, dass das einzige Schiff im Hafen von Tishomingo diesem Lovis gehörte. Obwohl sich das Schachbrett möglichst unauffällig durch die Stadt bewegte, wurde es schon bald von einer Wache erkannt. Aurix erinnerte sich nicht gern an den Kampf und die anschließende Flucht durch die Stadt. Sie hatten unterwegs den Sack mit den Schätzen aus der Drachenhöhle verloren und so beschlossen sie, sich heimlich auf ein Schiff zu schleichen. Wenn man sie später, auf hoher See, entdeckte, gäbe es sicher eine Möglichkeit, sich mit dem Kapitän zu arrangieren. Nun, das war eine Fehleinschätzung.

Lovis hatte sie blitzschnell taxiert und in Ketten legen lassen. "So gute Ware und sie kommt sogar noch freiwillig zu mir!", hatte er gegrinst.

Die nächsten vierzehn Tage hatten sie im Bauch des Schiffes verbracht, zusammengepfercht mit zwei Dutzend anderen Unglücklichen. Erst im Hafen von Manesha hatten sie wieder das Licht der Sonne erblickt. Seit dem frühen Morgen standen sie da, durstig und mit knurrendem Magen, und warteten darauf verkauft zu werden. Die Sonne näherte sich schon dem Zenit und einige der schwächeren Sklaven waren erschöpft auf die Knie gesunken.

Wieder hob sich der Arm mit der Peitsche und Aurix wappnete sich für einen weiteren Hieb. Da kam Hilfe von einer gänzlich unerwarteten Seite. Ein kleiner dicker Mann in der nun zerrissenen Robe der Heilmagier von Rehobot-Ir, der gleich neben ihm angekettet war, hob den Kopf. Mochte der Himmel wissen, warum seine Robe orange und hellrot gefleckt war. Aurix kannte die Magier nur einfarbig gekleidet. Die kurzen Finger des Adepten vollführten eine schnelle Geste. Die Peitsche klatschte auf Aurix' Schulter, doch der brennende Schmerz blieb aus. Ein kühler Schauer erfrischte seinen Körper und linderte seine Qualen. Um sich nicht zu verraten, stöhnte Aurix unterdrückt. Zufrieden sah sich Lovis nach neuen Kunden um.

"Du hast etwas gut bei mir", flüsterte Aurix. "Ich bin Aurix von Idias. Wie heißt du?"

"Vadim von Eldasch", antwortete er. "Scht! Lovis sieht schon wieder her."

Tatsächlich näherte sich Lovis mit einem reich gekleideten Sioulaner in mittleren Jahren. "Das ist beste Qualität, Lord Ar-Atos. Starke Männer für jede Arbeit und die schönsten Frauen für deinen Harem." Der Sklavenhändler scharwenzelte um den Adeligen herum und dirigierte ihn geschickt zu seiner Plattform. Sechs nephitische Frauen hatte er schon an einen Wäschereibesitzer verkauft. Die stämmigen braunen Weiber waren nicht schön, aber stark und zäh bei der Arbeit.

Geschlitzte Augen mit dicken Tränensäcken, die von einem ausschweifenden Leben zeugten, glitten über die zerlumpte Schar. "Du behandelst deine Ware nicht gut", nörgelte Ar-Atos mit seiner quäkenden Stimme und schüttelte den Kopf, dass seine dicken goldenen Ohrringe hin und her schlenkerten. Seine weichen manikürten Finger mit den zahlreichen Ringen tasteten über Aurix' gut ausgebildete Armmuskeln. "Du scheinst ein kräftiger Bursche zu sein. Gut für meine Bananenplantage."

"Ich bin ein Krieger. Außerdem kann ich lesen und schreiben", entgegnete Aurix stolz und drückte die Brust heraus. Der Meisterdieb verfluchte sein Schicksal inbrünstig. Dieser Mann war dermaßen mit Schmuck behängt, dass es schier körperlich wehtat, ihn nicht bestehlen zu können.

"Hm. Mag sein. Bei mir tust du das, was ich dir befehle." Er wandte sich an Lovis. "Zwei Goldstücke."

"Was?" Der Sklavenhändler rang die Hände. "Er ist gut und gern zwanzig wert!"

"Er war zehn wert, bevor du ihn verprügelt hast", widersprach der Lord. "Ich gebe dir vier, da ich ihn zuerst füttern und gesund pflegen muss." Das klang endgültig. Ar-Atos überhörte Lovis' Zähneknirschen und fixierte Vadim. "Bist du ein Gaukler, Dicker?"

"Ich bin Adept ... äh, dreieinhalbten Grades des Klosters von Rehobot-Ir, mein Lord", antwortete der kleine Mann mit ruhiger Würde.

"Ah, ein Heiler. Bist du auch schriftkundig?" Vadim bejahte und Ar-Atos erwarb ihn ebenfalls.

Lovis rieb sich die Hände als die Augen des Sioulaners gierig aufleuchteten. Nun wurden die Frauen begutachtet.

Ar-Atos leckte sich die dicken Lippen. "Für die Ugbali gebe ich dir zehn." Sein Blick erfasste noch drei weitere Mädchen, alle blutjung und gertenschlank.

Nun begann das Handeln. Lovis versuchte den Preis noch in die Höhe zu treiben. Ein Angebot jagte das andere. Schließlich einigten sie sich auf 50 Goldstücke und Ar-Atos zählte die geforderte Summe in Lovis kräftige Hand. Ein Wink mit zwei Fingern und zwei rothaarige challisische Krieger eskortierten die sechs neuen Sklaven zu Ar-Atos' Palast.

Das Heim des Sioulaners war ein flacher Bau ein wenig außerhalb der Stadt, nahe seiner Plantage. Auf einem Vorsprung räkelte sich eine schlanke weiße Katze mit dunklem Gesicht und Pfoten in der Sonne. Der gesamte Besitz war von einer übermannshohen Dornenhecke umgeben, die nur von einem Bootshaus an einem schmalen Kanal unterbrochen war.

Außerdem wurde das Gut noch Tag und Nacht von Kriegern bewacht. Auf Sioul gab es genügend Räuberbanden, für die eine reiche Plantage wie diese eine große Verlockung wäre.

Shira registrierte unauffällig, aber dafür umso aufmerksamer die Sicherheitsvorkehrungen während sie über eine kurze Freitreppe die Eingangshalle betraten. Ihr war die lange Baracke am Rande der Plantage, einen Steinwurf vom Herrenhaus entfernt, nicht entgangen. Das war wohl das Quartier für die Arbeitssklaven. Auch in der Halle ließ sie ihre Blicke umherwandern. Filigrane Gitter vor den Fenstern dienten mehr der Zierde als dem Schutz. Durch die strahlenförmig von der Halle ausgehenden Gänge huschten Haussklaven um der Herrschaft jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Kostbare Teppiche bedeckten die gekachelten Fußböden und dämpften die Schritte. Auch hier sah sie einige der auffällig gezeichneten Katzen.

Aus einem der Gänge kam ein riesenhafter Fleischberg. Das war Nogar, der als Verwalter und Obereunuch fungierte. Ihm wurden die Mädchen übergeben, der sie unverzüglich in den Harem brachte, wo sie gereinigt und gespeist wurden.

Auch um Aurix und Vadim kümmerten sich Diener. Der Meisterdieb nahm den frischen Baumwollkittel mit dem aufgenähten Wappen des Lords dankbar an. Staunend sah er, wie Vadim rasch einen Zauber sprach, woraufhin sein neuer Kittel die Farben seiner alten Robe annahm. Nachdem der Adept Aurix' Rücken versorgt hatte, führte Nogar die beiden in die Schreibstube. Mit einem unterdrückten Seufzer nahm Aurix einen Berg von Pergamenten entgegen, die er nach ihrem Inhalt und dem darauf geschriebenen Datum ordnen musste. Was aus seinem Vorgänger geworden war, ließ ein nur mangelhaft weggewaschener Blutfleck auf den rohen Holzbohlen der Stube ahnen.



Als sich die Nacht über Manesha senkte und Aurix müde auf die harte Pritsche sank, betrat Lord Ar-Atos in Nogars Begleitung die Frauengemächer. Der unförmige Eunuch klatschte in die fetten Hände und die Frauen stellten sich in einer Reihe auf. Shira stand am äußersten Ende der Riege.

Zielstrebig ging der Lord auf sie zu. "Du wirst mich heute Nacht erfreuen", bestimmte er

Ohne große Begeisterung, aber auch ohne Angst, folgte sie Ar-Atos in sein Schlafgemach. Schwerer Moschusduft hing über dem riesigen Bett mit den feinen Seidenkissen.

"Lass dich ansehen", grinste der Adelige und tastete nach Shiras kleinen festen Brüsten in dem perlenbestickten Mieder. Außer einer Pluderhose aus hauchfeiner grüner Seide war dies die einzige Kleidung, die man ihr gegeben hatte. Sie fühlte sich denkbar unwohl darin, vermisste sie doch ihren schwarzen Lederdreß, der ihren Körper wie eine zweite Haut vom Hals bis zu den Knöcheln umschloss. Lovis hatte ihn ihr abgenommen und sie musste die ganze Zeit auf dem Schiff in einem schmutzigen Hemd verbringen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung wich sie den gierigen Händen aus. "Auf Ugbali ist es Sitte, dass die Frauen die Männer mit einem Tanz stimulieren, bevor sie sich hingeben." Sie füllte einen Kristallkelch aus einem großen Weinkrug, den sie auf Ar-Atos' Toilettentisch entdeckt hatte. "Trink einen Schluck Wein! Er wird dir Kraft geben." Mit heller Stimme begann sie ein Lied aus ihrer Heimat zu singen und wiegte sich dazu im Takt.

Aber der Lord wollte zur Sache kommen. "Du kannst nachher tanzen", sagte er barsch. "Zieh dich aus!"

"Aber, Herr! Wie willst du mich lieben, wenn du vollständig ange-kleidet bist?", wandte Shira ein. "Lass dich von mir verwöhnen." Lächelnd öffnete sie Schnallen und Bänder und streifte Ar-Atos ein Kleidungsstück nach dem anderen ab. Bald saß er nur noch in seiner Unterhose und mit seinem Schmuck behängt auf den seidenen Laken. Shira griff nach der silbernen Kette an seinem Hals. Sie hatte den Anhänger sofort erkannt. So ein Amulett hatte sie auch getragen. Es schützte und warnte vor Magie. Lovis hatte es ihr als erstes abgenommen. "Nimm das Ding ab, Herr", bat sie. "Es macht mir Angst."

"Das ist nur ein Talisman", widersprach er und zog sie an ihrem Mieder an sich. Der Fetisch drückte gegen ihre Brust und Shira spürte das Pulsieren der Macht. Mit einem Seufzer ließ sie ihren Körper schlaff werden.

"Was ist los mit dir, Weib!", rief Ar-Atos und schüttelte sie ungehalten. Seine Erregung zeichnete sich bereits deutlich ab.

"Dein Talisman!", keuchte sie. "Er lähmt mich."

"Verflucht!" Eine Hand warf das Amulett auf den Teppich neben dem Bett während die andere nach Shiras Hose grabschte. Der dünne Stoff zerriss unter dem groben Griff. Und schon fasste die andere Hand nach dem Mieder. Abgerissene Perlen sprangen über die Kissen. "Jetzt gehörst du mir, du schwarze Schlampe!", zischte er während Speichel aus seinem Mundwinkel tropfte. Grob warf er sich auf sie und schob ein Knie zwischen ihre Schenkel.

"Wie du es wünscht, mein Lord", säuselte Shira und hob die Hände über seinen Kopf. Ihre Finger woben ungesehen von Ar-Atos einen Zauber. Die geschlitzten Augen des Sioulaners wurden starr und schlossen sich.

Wie eine Schlange wand sich die kleine Diebin unter dem schlaffen Körper hervor und sah ihn verächtlich an. "Süße Träume, du geiler Bock!", brummte sie und schüttete den Wein in eine große bauchige Vase mit Trockenblumen. Ein rascher Blick auf den Fetisch belehrte sie, dass es keine magischen Sperren im Haus gab und schon huschte sie durch die Gänge. Nach einigem Suchen fand sie den Weg zu den Quartieren der Sklaven. Lautlos schlängelte sie sich zwischen verschwitzten, ungewaschen und riechenden Leibern durch. Endlich sah sie Aurix' blonden Kopf im Schein des Halbmondes.

Sie legte eine Hand fest auf seinen Mund und flüsterte in sein Ohr: "Wach auf, Strohkopf!"

Mit einem tiefen Atemzug öffnete Aurix die Augen. "Meine schwarze Königin!", seufzte er leise und drückte sie an sich. "Können wir fliehen?"

"Halt die Klappe, Blondschopf!", rief der Vorarbeiter von der anderen Seite der Baracke.

"Ich muss mal austreten", antwortete Aurix und erhob sich.

"Die Latrine ist hinterm Haus", brummte der Mann und drehte sich auf seiner Pritsche.

Der Meisterdieb tastete sich zum Ausgang und machte dabei absichtlich mehr Lärm als nötig um Shiras Schritte zu übertönen. Durch den Ruf des Aufsehers waren alle Sklaven wach geworden und murrten über die Störung.

"Wann können wir endlich fliehen?", drang er in sie. "Die Arbeit in der Schreibstube ist

nicht gerade nach meinem Geschmack."

"Glaubst du, mir geht es besser? Der hässliche Knilch wollte mich heute vernaschen."

Aurix' Augen blitzten zornig im Mondlicht. "Du hast doch nicht mit ihm ...?"

"Keine Sorge, Strohkopf", grinste sie. "Nachdem er sein Amulett abgelegt hatte, war es ein Kinderspiel."

"Shira! Ich will weg von hier!", drängte Aurix. "Von der Schreibstube aus kann ich nichts auskundschaften."

"Geduld, mein Liebster", beschwor sie ihn. "Ich habe auch nicht jede Bewegungsfreiheit."

"Das einzige, das ich erfahren habe, ist, dass in der Dornenhecke die Leichen von einem Dutzend entflohener Sklaven stecken."

"Klingt nicht gerade ermutigend", meinte sie. "Ich werde die Augen offen halten. Jetzt muss ich zurück."

"Schade!" Innig drückte er sie an sich. Am liebsten hätte er ... aber das wäre doch zu gefährlich. Nur widerstrebend ließ er sie gehen.

Die Sonne stand schon hoch als Ar-Atos erwachte. Am Fußende seines Bettes saß Shira und lächelte ihn sanft an. Stirnrunzelnd starrte er Shira an. "Was tust du hier, Weib?", fragte er barsch.

Die Diebin senkte demütig den Blick. "Ich bin deine Sklavin und du geruhtest mich letzte Nacht mit deiner Aufmerksamkeit zu beehren."

Ar-Atos legte eine Hand an seinen schweren Kopf. Letzte Nacht? Was war letzte Nacht geschehen? In seiner Erinnerung gähnte ein großes, schwarzes Loch. Ein Blick in seinen Weinkrug zeigte ihm, dass dieser leer war. Hatte er den ganzen Wein ausgetrunken? Verwirrt entließ er sie in den Harem und begab sich in seine Schreibstube. Vadim saß schon dort, über die Bücher gebeugt und rechnete. Auch Aurix hatte bereits den Kampf mit den Rechnungen und Briefen aufgenommen. Hier war alles in Ordnung. Ungeduldig rief er nach Nogar.

"Hattest du eine angenehme Nacht, Herr?", fragte der Eunuch unterwürfig.

Ar-Atos' Brauen zogen sich zusammen. Er konnte sich an rein gar nichts erinnern. "Ja, ja", sagte er geistesabwesend. Stirnrunzelnd musterte der Lord die hochgewachsene Gestalt des Meisterdiebs. Auf seinen Befehl musste Aurix den Kittel ausziehen und stand nur noch mit einem Lendenschurz bekleidet vor ihm. "Du willst ein Krieger sein?", fragte der Adelige. "Wo hast du gekämpft?"

"Überall, wo ein Krieger gebraucht wird", antwortete Aurix stolz.

"Soso, ein Söldner." Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ging Ar-Atos um seinen neuen Sklaven herum. "Für einen Krieger hast du aber erstaunlich wenige Narben. Vielleicht bist du nur ein Meuchelmörder."

"Ich bin noch jung und sehr wendig", erklärte Aurix.

"Mal sehen, was du kannst. Welche Waffe bevorzugst du?"

Aurix überlegte fieberhaft. Der Sioulaner wollte einen Kampf sehen, vielleicht auch Blut . Wenn er aber verwundet wurde, konnte er vielleicht nicht fliehen. Besiegte oder tötete er gar seinen Gegner, war sein Schicksal mehr als ungewiss. "Ich bevorzuge den waffenlosen Kampf. Mein Kommandeur benutzte mich meist als Späher", versuchte er das Geschehen zu lenken.

Ar-Atos grinste breit und wandte sich an Nogar. "Hol mir Orel." Dann begab er sich auf die Terrasse hinter dem Palast und ließ sich erwartungsvoll unter einem Sonnenschirm nieder. Haussklaven brachten ihm kühle Getränke, Obst und Süßigkeiten.

Aurix roch die saftigen Pfirsiche und schluckte. Sein Frühstück war eine Schüssel geschmackloser Brei gewesen, der bloß den Magen füllte.

Orel entpuppte sich als hünenhafter Kar-Mani, der sein glattes braunes Haar am Scheitel zu einem dicken Knoten gebunden trug. Er war einer der Wachsoldaten.

"Dieser Sklave behauptet ein Krieger zu sein. Ringe mit ihm, aber brich ihm keine Knochen", befahlt Ar-Atos. "Ich brauche ihn noch für die Schreibstube."

Orel taxierte Aurix' durchtrainierten Körper und zog abfällig die Mundwinkel nach unten. "Ich höre dich, Herr." Bedächtig legte er Schwertgurt und Brustpanzer ab.

Die ausgeprägten Armmuskeln, die breite Brust und die kräftigen Beine des Mannes beeindruckten Aurix, aber er ließ sich nichts anmerken. Hier konnte er nur durch Schnelligkeit und List siegen. Sein Blick glitt über die Platten, mit denen die Terrasse ausgelegt war. Einen guten Schritt von Ar-Atos' Ruheplatz entfernt stand die Ecke einer Kachel ein wenig hoch. Aurix unterdrückte ein Lächeln

Orel grunzte bereits ungeduldig. Wachsam begannen sich die beiden ungleichen Gegner zu umkreisen. Plötzlich schossen Orels lange Arme vor und umschlangen den wesentlich schlankeren Aurix. Schon wollte sich ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht des Kar-Mani breit machen. Da entschlüpfte ihm Aurix wie ein Fisch, flutschte zwischen seinen Beinen durch und trat dem Mann gegen die rechte Kniekehle. Orels Bein knickte ein und brachte ihn für Sekunden aus dem Gleichgewicht. Im nächsten Moment knallten Aurix nackte Füße gegen Orels Hüfte. Der schwere Krieger, der noch um Balance rang, stolperte einen Schritt vor, blieb mit dem Fuß an der vorstehenden Platte hängen und schlug lang hin. Gedankenschnell war er wieder auf den Beinen. Doch wo war sein Gegner? Wutentbrannt sah er sich um. Da erblickte er Aurix' grinsendes Gesicht über der Schulter des Lords. Der Meisterdieb hatte sich hinter seinen Herrn geflüchtet.

"Kämpfe!", schrie Ar-Atos verärgert und Nogar, der neben seinem Herrn stand, hob seine Peitsche.

Aber Aurix hatte anderes vor. Blitzschnell hatten seine Finger den prallen Geldbeutel von Ar-Atos juwelenbesetzten Gürtel gelöst und in einer Tasche von Nogars weiten Hosen verschwinden lassen. "Ich sagte doch, dass ich als Kundschafter eingesetzt wurde", rief er und machte keine Anstalten, den sicheren Platz hinter dem Lord zu verlassen. "Erst, wenn du sagst, dass ich gewonnen habe, komme ich hervor."

Ärger und Belustigung kämpften in Orels Gesicht. Endlich stemmte er die Fäuste in die Hüften und warf lachend den Kopf zurück. "Ich gebe mich geschlagen, Herr", sagte er. "Der Heuhüpfer ist so schlüpfrig wie ein Grottenolm."

Eine Handbewegung des Lords entließ den Kar-Mani. "Du bist ein listenreicher Kämpfer, Heuhüpfer", sagte Ar-Atos.

"Mein Name ist Aurix, Herr", meldete sich der Meisterdieb, der seinen Platz hinter dem Lord aufgegeben hatte und nun in demütiger Haltung vor ihm stand.

"Du bist mein Sklave und ich sage, du heißt Heuhüpfer", bestimmte Ar-Atos scharf und wandte sich an Nogar. "Wo könnte er seine Talente am besten einsetzen?"

"Er könnte im Frauenhaus für Ordnung schaffen. Man müsste ihn nur kastrieren", antwortete der Verwalter hämisch grinsend.

"Das wäre mein Tod!", stieß Aurix erschrocken hervor.

"Ach, die meisten überleben den Schnitt", tat Ar-Atos den Einwand ab.

"Wenn ich an dem ... äh, Schnitt nicht sterbe, werde ich mich selbst töten", erklärte Aurix im Brustton der Überzeugung.

"Er wird es nicht tun", meinte Nogar und rieb sich die feisten Hände.

"Nein, es ist mir zu riskant. Dafür war er zu teuer." Nachdenklich strich Ar-Atos über sein glatt rasiertes Kinn und spielte mit seiner goldenen Kette. "Kannst du singen und tanzen?"

"Ich bin gelegentlich als Zauberkünstler aufgetreten." Das entsprach der Wahrheit. Bevor ihm Shira über den Weg lief, hatte er diesen Trick auf Wochenmärkten öfter angewandt und sein Publikum regelrecht ausgeplündert.

"Ein Gaukler! Du bist wahrlich vielseitig." Ar-Atos' Stimmung hob sich ein wenig. "Nogar, gib dem Heuhüpfer alles, was er für eine Vorstellung braucht. Heute Abend soll er mir seine Kunst zeigen. Wenn er nicht gut ist, kann ich ihn noch immer kastrieren lassen."

Aurix senkte demütig den Kopf und folgte dem Eunuchen in eine Rumpelkammer. Fieberhaft überlegte er, welche Tricks den Lord am meisten beeindrucken würden. Die Angst vor dem Verlust seiner Männlichkeit ließ ihm den kalten Schweiß ausbrechen. Zwischen alten Möbeln, leeren Tonkrügen und ausrangiertem Geschirr machte er eine Liste von Dingen, die seiner Einschätzung nach nicht im Palast zu finden waren. Seidene Tüchlein, ein weißes Häschen und noch einige andere Utensilien. Er wollte Nogar aus dem Weg schaffen, um sich besser nach einem Fluchtweg umsehen zu können.



Inzwischen machte sich Shira mit ihrer Umgebung vertraut. Die Frauengemächer bildeten eine abgeschlossene Einheit im Palast, zu der auch ein Garten mit einem Springbrunnen gehörte. Vom restlichen Besitz wurde dieser Teil durch eine dichte Dornenhecke abgeschlossen. Diese lebenden Zäune schützten das Anwesen besser als jede Mauer, denn die Stacheln hatten Widerhaken und sonderten außerdem ein betäubendes Gift ab, wie von den anderen Frauen versichert wurde.

"Wo kommt das Wasser her?", dachte Shira laut. "Ich habe keine Quelle gesehen und der Brunnen liegt zu weit entfernt in der Plantage."

"Hast du nicht die Kanäle gesehen, die zum Fluss führen?", fragte eine Frau mit leeren, braunen Augen..

"Kanäle? Ja, ich glaube schon. Als wir das Schiff verließen, sah ich einen schmalen Fluss, der ins Meer mündet." Langsam ging sie an der Hecke entlang und versuchte sie vergeblich mit

den Augen zu durchdringen. Gemächlich kehrte sie ins Haus zurück, wo eben das Mittagessen aufgetragen wurde.



Ar-Atos gute Laune war verflogen. Er konnte sich noch immer nicht erinnern, was letzte Nacht passiert war und außerdem vermisste er seinen Geldbeutel. Der einzige Lichtblick war die Vorfreude auf Aurix' Darbietung am Abend. Nachdem der blonde Idier sich bereit erklärt hatte, schickte ihn der Lord in die Schreibstube.

"Du scheinst dein Schicksal leicht zu nehmen", sagte Aurix zu Vadim während er Rechnungen sortierte. "Für mich ist die Sklaverei unerträglich. Denkst du nicht auch an Flucht?"

Der dicke Adept schürzte überlegend die fein geschwungenen Lippen. "Sieh mich an! Ich habe nicht so lange Beine wie du und meine Fülle bringt mich bald außer Atem. Ein Fluchtversuch würde mir nur einen Sack voll Peitschenhiebe eintragen."

"Aber du verfügst über Magie!", wandte Aurix ein.

"Meine Magie ist ausschließlich den Meistern gewidmet. Sie dient der Forschung und der Heilung." Eine braune Haarsträhne fiel in

die breite Stirn und wurde weggeblasen.

"Und du darfst dich selbst nicht damit retten?", wunderte sich der Meisterdieb.

"Die Meister werden mich retten, wenn die Zeit gekommen ist."

"Deine Zuversicht möchte ich haben!" Aurix konnte nur den Kopf schütteln. "Wir werden bei erster Gelegenheit fliehen."

"Nimmst du mich mit?", kam die überraschende Frage.

"Ich dachte, du wartest auf deine Meister", meinte Aurix und versuchte sich vorzustellen, wie mit dem beleibten Adepten eine flinke Flucht gelingen könnte.

"Vielleicht bist du, ohne es zu wissen, der Bote der Meister. Allein kann ich nicht fliehen, aber mit dir könnte es gelingen." Ein hoffnungsvolles Lächeln stahl sich auf das runde Gesicht mit dem Stubsnäschen. Der Magier war noch jung und beileibe nicht so ruhig wie er sich gab. "Einen Steinwurf von den Sklavenquartieren steht ein kleines Haus. Ein Bootshaus, in dem eine schlanke Barke liegt."

Ein breites Grinsen erschien auf Aurix' Zügen. "Halte dich bereit, Vadim von Eldasch", sagte er und beugte sich wieder über die Rechnungen. "Wenn alles gut geht, fliehen wir heute nacht."



Erfrischende Kühle breitete sich über Ar-Atos Gut als die Sonne hinter den Bananenstauden versank. Die Haussklaven hatten im Speisesaal einen kleinen mit einem dunkelblauen Seidentuch bedeckten Tisch aufgestellt, um den einige geheimnisvolle Behälter standen. Außer dem Lord, Rembod, dem Hauptmann der Wache und Nogar durften auch einige Frauen an dem Essen teilnehmen. Da er endlich wissen wollte, welche Qualitäten diese Ugbali als Nebenfrau hatte, befahl er auch sie zu dem Mahl.

Aurix begann mit kleinen Taschenspielertricks. Er ließ Karten verschwinden und überraschend wieder auftauchen, zog kleine Seidentücher aus Nasen und Ohren seiner Zuschauer und holte Eier aus seinem Kittel, die sich in silberne Ringe verwandelten. Als aus einem Strauß Papierblumen ein Häschen wurde, hob sich Ar-Atos Laune wieder.

Dann bat Aurix um einen kleinen Gegenstand. "Ein Schmuckstück oder einen Geldbeutel",

"Gib ihm etwas", sagte der Lord zu Nogar.

Der massige Eunuch zog die Schultern hoch. "Ich besitze nichts", sagte er und steckte demonstrativ die Hände in die Taschen seiner Hose um sie umzustülpen und erstarrte. Als seine Hand mit dem Geldbeutel seines Herrn erschien, erbleichte er. "Herr, das ist ... wie kann das ... ich habe nicht ...", stotterte er zitternd.

Nun verdunkelten Gewitterwolken Ar-Atos verlebtes Gesicht. "Du fette Kröte vergreifst dich an meinem Geld?!", brüllte er wütend. "Das wirst du mir büßen! Vierzig Peitschenhiebe!" Schon wurde der um Gnade winselnde Eunuch von zwei kräftigen Wachen abgeführt. In dem Durcheinander war es Shira gelungen, ein breites Armband von Ar-Atos Handgelenk zu lösen und dem Hauptmann in den Gürtel zu stecken.

"Der fette Hund hat schon lange nach meinen Besitztümern geschielt", brummte Ar-Atos misslaunig und griff nach einer Banane. Mitten in der Bewegung hielt er inne und starrte auf seinen Arm. "Wo ist mein Armband?!" Zornig starrte er um sich. Da entdeckte er das Schmuckstück am Gürtel seines Hauptmanns. "Du auch, Rembod!", Nun war er ganz außer sich. Auf sein Brüllen erschienen mehrere Wachen mit gezogenen Schwertern. "Peitscht ihn aus! Er hat mich bestohlen!", schrie der Lord.

Die Krieger sahen unschlüssig von Ar-Atos zu ihrem Befehlshaber. "Das war nur ein Trick dieses ausgefuchsten Idiers", erklärte der Hauptmann ruhig und überreichte seinem Herrn das Schmuckstück. "Ich habe es nicht nötig zu stehlen." Sein narbiges Gesicht nahm einen harten Zug an. "Wir sind keine Sklaven. Wenn du gegen mich die Peitsche erhebst, werden meine Männer deinen Palast verwüsten." Zur Bekräftigung seiner Worte nahmen die Krieger eine drohende Haltung ein. Sie alle stammten von Kar-Mannon oder der Nebeninsel Challis. Die Ehrbegriffe dieser Menschen waren sprichwörtlich.

Mit einem Schlag sah sich der sioulanische Adelige jeden Schutzes beraubt. Widerstreitende Gefühle malten sich in seinen Zügen. Einerseits wollte er keinen Rückzieher machen, andererseits würde der Verlust seiner Wachmannschaft seinen Besitz den streunenden Räuberbanden preisgeben. "Geh mir aus den Augen und tu deine Pflicht", brummte er schließlich.

Rembod erhob sich und verließ in stolzer Haltung mit seinen Leuten den Speisesaal. Nun war dem sioulanischen Adeligen auch die Lust an weiteren Kunststücken vergangen. Höchst ungnädig schickte er alle außer Shira weg und zog sich mit ihr in sein Schlafgemach zurück. Dieser vertrackte Tag sollte wenigstens ein gutes Ende finden. Ungeduldig entledigte er sich seiner Kleidung und streckte die Arme nach Shira aus. Die Ugbali zeigte sich willig, doch hinter seinem Rücken woben ihre Finger wieder einen Schlafzauber. Diesmal belegte sie ihn zusätzlich mit einem Fluch, der ihn mit einem nässenden und juckenden Ausschlag schlug. Es hatte Shira große Überwindung gekostet, ihre Gefühle zu verbergen als sie an dem Mahl teilnahm. Sie hasste den dekadenten Mann, der Menschen wie leblose Gegenstände behandelte. Lautlos wie ein gestaltloser Schatten huschte sie zur Sklavenbaracke. "Du wirst dein blaues Wunder erleben, sioulanischer Kakerlakenschwanz!", knirschte sie leise.

Als sie an zwei Wachen vorbeikam, hörte sie, wie die Männer den Auftritt beim Abendessen besprachen.

"Ich hätte das geile Schwein zu gern aufgespießt", sagte der eine.

"Das wäre nur gerecht gewesen, so wie er Rembod behandelt hat", stimmte der andere zu. "Der Hauptmann war immer loyal. Ar-Atos muss verrückt geworden sein."

"Rembod will sich morgen in der Stadt umhören. Er sucht für uns einen besseren Dienstgeber."

Shira hatte genug gehört und eilte weiter. Aurix und Vadim warteten bereits vor der Baracke auf sie.

"Was willst du mit dem Heiler?", fragte sie.

"Vadim kommt mit uns. Er weiß von einem Boot." Damit gab er dem Adepten einen auffordernden Schubs.

Das Schachbrett bewegte sich nahezu lautlos, doch Vadim schien wie ein betrunkener Kesselflicker dahin zu stolpern. Ab und zu hob eine Wache alarmiert den Kopf. Doch Shira amte das Maunzen einer Katze nach und wandte so die Gefahr ab. Endlich erreichten sie das Bootshaus. Aurix und Vadim machten die Barke los während sich die Ugbali noch einmal dem Anwesen zuwandte. Ihre Hände durchschnitten die Luft und belegten den Boden um den Palast mit einem Tanzzwang. Die Wachen wurden als erste davon befallen. Singend und johlend sprangen sie vor dem Haus im Kreis herum. Dadurch erwachten die Sklaven und schlossen sich dem wilden Treiben an. Dieser Lärm brachte auch die Haussklaven auf den Plan, die sofort von dem Zauber erfasst wurden und in wilden Sprüngen durch den Garten hetzten. Endlich erschien auch der Herr des Hauses, tänzelnd und sich unter seinem Juckreiz windend. Da auch die Eunuchen von dem Tanzzauber ergriffen wurden, brachen die Frauen aus dem Harem aus und machten das Chaos komplett. Der Anblick so vieler wohlgeformter, sich verführerisch wiegender Körper weckte in den Wachen die Lust nach Liebe. Schon bald fanden sich Paare zusammen und verschwanden tanzend und singend hinter Büschen und Hecken.

Unbehelligt lenkten sie das Boot aus dem Haus und strebten dem Fluss zu. Dieser trug sie alsbald in den Hafen von Manesha. Lovis Schiff lag noch im Hafen. Das bedeutete, dass der Sklavenhändler seine lebende Fracht noch nicht vollends verkauft hatte.

Die drei entlaufenen Sklaven schlichen sich an das Schiff heran. Ein Lichtschein aus der Kajüte belehrte die drei, dass Lovis an Bord war. Shira schickte einen magischen Fühler aus und fand einen zweiten Mann auf Deck. Diesmal bereitete ihr das Zaubern Mühe. Beunruhigt stellte sie fest, dass ihre Kräfte erlahmten.

"Eine einzige Wache", flüsterte sie und musterte zweifelnd den Magier. "Was machen wir nur mit dir? Du bist kein Kämpfer."

"Da hast du recht", gab Vadim seufzend zu und sah sich um. Neben der Planke, die das Schiff mit dem Kai verband, lag ein großer Haufen alter Seile. Geschickt drapierte das Schachbrett die Taue über ihn und ermahnten ihn, keinen Mucks von sich zu geben. Dann schlichen die Diebe lautlos an Bord. Neben dem Steuerrad fanden sie einen der Seeleute, der dösend an der Reling lehnte, einen halbvollen Weinschlauch in der Rechten.

"Deine Mutter braucht dich", raunte ihm Shira ins Ohr und wob mit letzter Kraft einen Zauber.

Die Wache nahm schlaftrunken einen Schluck aus dem Weinschlauch. "Meine Mutter! Wo ist sie?", säuselte der Mann.

"Suche sie! Verlass das Schiff! Sie wartet auf dich."

Torkelnd machte sich der Matrose auf den Weg. Er hatte gerade die Planke überquert als Lovis aufs Deck kam. "Ture! Wo gehst du hin, du versoffener Schnarchsack!", rief er.

"Ich muss zu meiner Mutter", kam die undeutliche Antwort.

"Was? Bist du übergeschnappt? Komm sofort zurück!"

Nun trat das Schachbrett aus den Schatten. Shiras Hände zuckten durch die Luft, doch sie hatte sich mit den anderen Zaubersprüchen schon zuviel verausgabt. Der Sklavenhändler zog mit der Rechten ein Kurzschwert und mit der Linken ein Messer. Zähneknirschend erkannte Aurix seinen Flammendolch.

"Hat es euch bei Ar-Atos nicht gefallen?", höhnte der elegante Mann und ging auf Aurix los. "Er wird mich reich belohnen, wenn ich euch zurückbringe."

Geduckt umkreiste der Meisterdieb seinen Gegner. Dass er einen geübten Kämpfer vor sich hatte, war offensichtlich. Shira schob sich Schritt für Schritt hinter den Sklavenhändler. Als er angreifend auf Aurix zu sprang, gab sie ihm einen Tritt ins Hinterteil, der ihn stolpern ließ. Sofort traf Aurix' Handkante sein linkes Handgelenk und der Dolch polterte auf die Bretter. Knurrend nahm ihn der blonde Idier an sich.

"Jetzt ist der Kampf ausgeglichen", lachte Aurix und stieß zu. Die gewellte Klinge schnitt Lovis' rechten Ärmel auf und hinterließ eine tiefe Wunde im Unterarm. Das Schwert entfiel den kraftlosen Fingern. Aber der Sklavenhändler war noch nicht wehrlos. Seine linke Faust traf Aurix' Schulter und warf den schlanken Mann fast um. Da sprang Shira auf seinen Rücken und grub ihre Zähne in sein linkes Ohr. Ekel befiel sie als sie Blut schmeckte, doch sie ließ nicht los. Das war für Aurix genug Ablenkung um Lovis Kniesehnen zu durchtrennen. Nun sank er hilflos aufs Deck und bat um Gnade.

"Warum sollen wir dich verschonen?", höhnte Aurix. "Du hast uns geschlagen, ausgeraubt und verkauft." Die Spitze des Flammendolchs zeichnete ein Schachbrettmuster auf Lovis Stirn und Wangen. "Niemand versklavt das Schachbrett. Das kannst du auch Ar-Atos von uns ausrichten."

"In der Kajüte ist eine Truhe mit Gold und Edelsteinen. Nehmt euch alles, nur verschont mein Leben!", winselte Lovis.

"Du bist es nicht wert von uns getötet zu werden", sagte Aurix verächtlich und stieg mit seiner Gefährtin die Leiter zur Kajüte hinunter. Den Sklavenhändler legten sie ins Mannschaftsquartier, um seine Hilferufe unhörbar zu machen. In der Kapitänskajüte fanden sie tatsächlich eine Truhe mit Schätzen. Daneben gab es aber auch noch geschnitzte Kästchen in denen seltene Gewürze dufteten und eine große Kiste mit kostbaren Stoffen und Kleidern. In letzterer fanden die Diebe Aurix' lederne Beinkleider, Stiefel und ein passendes Hemd aus nachtschwarzer Seide. Auch Shiras schwarzer Lederdress tauchte auf. Der Magier, der ihnen neugierig gefolgt war, sobald der Kampf beendet war, tauschte seinen Kittel gegen ein langes Gewand mit Goldborte und wandte sich dem Mannschaftsquartier zu. Die Diebe packten einen Reisesack voll mit Schätzen, warmen Umhängen und Reservekleidung und gingen wieder an Deck. Vadim hatte inzwischen Lovis Wunden verbunden und sprach eben einen Heilzauber.

"Musste das sein?", motzte Aurix. "Diese Rattennase hat deine Behandlung gar nicht verdient."

"Es ist meine Pflicht, Leiden zu lindern, wo ich es finde", gab Vadim ruhig zurück.

"Ist ja ätzend, wie gut du bist!", rief Shira aus. "Komm, Heiler. Dort macht sich ein shanikischer Frachter zum Auslaufen bereit." Damit schob sie ihn vor sich über den Anlegesteg.

Aurix lief voraus und verhandelte mit dem Kapitän. Als Shira und der Magier den Kauffahrer erreichten, wechselten gerade einige Goldmünzen den Besitzer.

Der Kapitän verbeugte sich tief. "Lord Vadim, du und deine Leibwächter bekommt die beste Kajüte auf dem 'Stern von Shaniko'"

Vadim riss die Augen auf und setzte zu einem Protest an. Doch ein Tritt Shiras ließ ihn schweigen. "Zelto sei Dank", sagte er nur. "Ich bin todmüde."

Eine rote Sonne stieg langsam aus dem Meer empor und der Kauffahrer hielt genau darauf zu.



Der Draugr



"Hat dich die Ochsenfresse begrapscht?" Aurix' Blick hielt die kleine, dunkelhäutige Diebin wie in einem Schraubstock fest. "Ich hab's gesehen, du verlauste Sumpfziege! Leugnen ist zwecklos!"

"Er hat nur den Riemen meines Rucksacks geglättet, du eifersüchtiger Pinsel!" Shira trat ihrem blonden, hochgewachsenen Freund absichtlich auf den Fuß.

"Autsch! Du ungeschicktes Flusspferd! Kannst du nicht aufpassen, wo du deine schmutzigen Treter hinstellst?!"

"Besser als du!", grinste sie hämisch. "Ich stehe nicht in Maultiermist, hirnlose Bleichgurke!"

Wütend erkannte Aurix, dass Shira recht hatte und wischte seine weichen Raulederstiefel an einem dicken Grasbüschel ab. Sie sahen danach besser aus, aber der Geruch! Gerade setzte er zu einer zornigen Entgegnung an, da fuhr ihr derzeitiger Arbeitgeber dazwischen.

"Ruhe, ihr beiden Stinkvögel!", kam von Graupnar das Machtwort. "Leibwächter, die sich wegen jeder Mäusekacke in den Haaren haben, kann ich nicht gebrauchen! Das ist ja zum Brezeln spucken!" Der riesenhafte Kaufmann mit dem dichten, braunen Schopf, der für Kar Mani typisch war, stampfte mit seinen genagelten Stiefeln zornig auf. Neben ihm sahen der langhaarige Meisterdieb und seine Ugbali-Gefährtin wie eine Bohnenstange beziehungsweise ein mageres Kind aus.

Nachdem das Schachbrett und Vadim glücklich aus der sioulischen Sklaverei entronnen waren, erreichten sie Shaniko. Von dort wollten die Drei ein Schiff nach Idias nehmen. Doch der Kapitän erkannte das Schachbrett und fürchtete um das Eigentum seiner Passagiere. Nur der Magier durfte an Bord gehen. Den beiden Dieben blieb nichts Anderes übrig als das einzige verfügbare Schiff, einen Kauffahrer von Kar Manon zu nehmen. Zu allem Überfluss erklärte der Kapitän als sie Groß-Manon, den Haupthafen der Insel erreichten, dass er die nächsten Monate hier bleiben wollte und in absehbarer Zeit auch kein anderes Schiff zu erwarten wäre. Nun galt es einen anderen Hafen zu erreichen. Da kam ihnen Graupnar, der auf der Suche nach Leibwächtern war, gerade recht. In einer geschickt arrangierten Kneipenschlägerei überzeugten sie ihn von ihrer Kampfkraft und das Geschäft war perfekt.

Im Großen und Ganzen war Graupnar mit den beiden zufrieden, nur ihre immer wiederkehrenden Streitereien gingen ihm auf den Geist. Obwohl er von Shiras Kampf- und Zauberkunst beeindruckt und von ihren Kraftausdrücken geschockt war, behandelte er sie wie eine Dame und versuchte, ihr die Reise über das Manon-Gebirge, das sich wie ein Rückgrat aus dem flachen Teil der Insel erhob, so angenehm wie möglich zu machen. Aurix betrachtete diese Bevorzugung mit wachsender Eifersucht.

"Er hat dich begrapscht, leichtfertige Schlammdistel!", zischte Aurix noch und nahm gleich zwei der dicken Stoffballen um sie einem der beiden Maultiere aufzuladen. Die Fischer an der Ostküste von Kar Manon brauchten das feste, widerstandsfähige Tuch für ihre Segel und zahlten einen guten Preis. Graupnar bestand darauf, dass der Meisterdieb das Beladen erledigte, weil er Shira für zu schwach hielt.

"In den Bergen solltet ihr nicht die Zeit mit Streiten vergeuden", brummte Graupnar und sah sich aufmerksam um. "Wir sollten noch vor Einbruch der Dunkelheit über den Pass sein. Also haltet die Klappe und beeilt euch."

Immer mehr Felsen ragten zwischen den Bäumen und Büschen hervor. Der Weg wurde steiniger und schmäler. Beständig stieg das Gelände an. Nach kurzer Zeit wuchsen rechts und links Berge in die Höhe, aus denen gegen Mittag Felswände wurden, in denen außer Flechten und kleinen rosa Blumen nichts mehr wuchs. Nur am Wegrand standen stachelige, herb riechende Gewächse, die die Maultiere im Vorbeigehen abrupften. Aurix versuchte gar nicht, sie daran zu hindern und auch Shira, die wenig Erfahrung mit Maultieren hatte, war bald an der Sturheit der Tiere gescheitert. Ihre zwecklosen Versuche nötigten Graupnar nur ein schwaches Grinsen ab.

"Du wirst dich vielleicht bald mit anderen Gegnern messen können." Der Blick des massigen Kaufmanns schweifte suchend über die Felswende und die verstreut liegenden Felsbrocken. Shira glaubte sogar einen ängstlichen Zug in dem bärtigen Gesicht zu erkennen. Auch die beiden Diebe bewegten sich mit erhöhter Wachsamkeit.

Aurix' Maultier bäumte sich plötzlich wiehernd auf. Fluchend stemmte sich der Meisterdieb in die Zügel. Da ertönte ein hohles Heulen und ein eisiger Hauch strich über die kleine Gruppe.

"Wa-was war d-denn das?", fragte Shira zähneklappernd während ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper lief.

Graupnar hatte mit dem zweiten Tier zu tun, doch schien er damit schon wesentlich mehr Erfahrung zu haben. "Ein Draugr." Kaum verhohlene Furcht schwang in diesem Wort.

"Ein was?", konnte Aurix gerade noch fragen, dann stürzten heulend und säbelschwingend vier kleinwüchsige, zottige Gestalten zwischen den Felsen hervor.

Graupnar packte den Saum des zweiten Maultiers und brüllte ein kurzes Wort. Sofort begannen sich die beiden Tiere im Kreis zu drehen und nach allen Seiten auszuschlagen und zu beißen. Aurix zückte seinen Flammendolch. Er achtete nicht auf das verächtliche Schnaufen Graupnars. Die gewellte Klinge glitt fast spielerisch unter ein bärtiges Kinn und ein stinkender Gegner sank röchelnd zu Boden. Auch seine schwarze Gefährtin kämpfte tapfer. In kurzer Folge verließen feurige Kugeln ihre Hände und brannten Löcher in die schmutzigen Felle, was jedes Mal mit einem schrillen Quietschen quittiert wurde. Graupnar spaltete mit seiner Streitaxt einen haarigen Schädel, dann war der Spuk vorbei. Nachdem er seine Lasttiere beruhigt hatte, schritt er von einer kleinen Leiche zur anderen und hackte die Köpfe ab.

"Musste das sein?", fragte der Meisterdieb angewidert. Der Kampf war überraschend schnell vorbei gewesen.

"Wenn wir sie nicht wieder treffen wollen", entgegnete der Kaufmann trocken. "Das sind Zwergtrolle. Sie sind dumm, aber schwer zu töten. Köpfen ist eine gute Methode. Ich jedenfalls will nicht in ihren Kochtöpfen enden."

"Was es nicht alles gibt!", wunderte sich Shira und holte Verbandszeug hervor. Ihr scharfes Auge hatte einen kleinen Schnitt an Aurix' linkem Handgelenk entdeckt.

Graupnar hob abwehrend die Hand. "Das muss gereinigt werden!", beschwor er sie. "In einer halben Stunde erreichen wir eine Quelle."

Der blonde Dieb hob seine Hand, von der stetig Blut tropfte. "Dann sollten wir uns beeilen", meinte er. "Es brennt." Schnell griff er nach einem Zaumzeug und stapfte, das Maultier hinter sich her ziehend, voraus.

Knapp vor der Passhöhe, die Sonne war gerade dabei die Bergspitzen zu küssen, hörten die Reisenden das Plätschern von Wasser. Sogleich schritten die Maultiere kräftiger aus. Während Shira Feuer machte, tränkte der Kaufmann seine Tiere, doch nahm er ihnen nicht die Lasten ab. Bald brodelte heißes Wasser im Kessel. Die kleine Ugbali tauchte einen sauberen Lappen ein und begann damit die kleine Wunde auswaschen. Als sie damit fertig war, wickelte sie geschickt sauberes Leinen darüber. Dann wurde der Kessel ein zweites Mal mit Wasser gefüllt.

"Was willst du denn jetzt wieder?", nörgelte Graupnar. "Es wird schon dunkel!"

"Ich koche Tee", erklärte Shira. "Aurix muss noch Heilkräuter essen und uns wird er aufwärmen."

Unruhig brummend rannte Graupnar auf und ab und sah sich dabei immer wieder misstrauisch um. Als ihm Shira einen Becher reichte, trank er so hastig, dass er sich die Zunge verbrannte.

Die Sonne verschwand nun vollends und es wurde schlagartig eiskalt. Zwischen den Bergen heulte der Wind und ließ winzige Regentropfen wie tausend Nadeln in jedes Fleckchen ungeschützte Haut stechen.

"Beeile dich, Shira!", drängte Graupnar und zog die Schultern hoch. "Iss deine Kräuter, Aurix; dann müssen wir weiter."

Eben füllte sie Aurix' Becher, da begann Shiras Amulett mit einer Heftigkeit zu pochen, wie sie es noch nie erlebt hatte. Gleichzeitig stieg ein dumpfer, erdiger Geruch in ihre feine Nase. Erschrocken sah sie sich um. Im flackernden Licht des Feuers sah sie einen riesigen Mann, der sich gerade außerhalb des Lichtkreises auf den Boden kauerte. Obwohl alles in ihr nach Flucht schrie wandte sie sich dem Unbekannten zu. "Willst du einen Becher heißen Tee?" Eine unwiderstehliche Kraft zwang sie dazu. Sie suchte den Blick des Fremden, doch seine Lider hingen so tief herab, dass sie die Augen nicht sehen konnte. Verwirrt musterte sie die grobe Kleidung, die verdreckt und an manchen Stellen schon arg mitgenommen aussah. Seine ehemals eleganten Stiefel wiesen sogar Risse im Oberleder auf als wären sie lange Zeit nicht mehr gepflegt worden.

Der schmale Kopf des Fremden drehte sich langsam hin und her. "Erzähle mir eine Geschichte", forderte er mit einer Stimme, die wie das Rascheln vertrockneter Wespennester klang. "Du scheinst von weit her zu kommen, Mädchen mit der dunklen Haut."

Überrascht blickte Shira von Aurix zu Graupnar. Während der Meisterdieb angewidert auf den Kräutern herum kaute, starrte Graupnar nur sprachlos zurück. Das Gesicht des Kaufmanns hatte eine kränkliche Färbung angenommen. Sein Mund bewegte sich in dem vergeblichen Bemühen einen Laut hervorzubringen während seine Hände sich in den Saum seiner dicken Jacke gekrallt hatten. Was sollte das nun wieder bedeuten?

"Ich höre!", drängte der unheimliche Fremde.

Überlegend legte Shira den Kopf schief. Was sollte sie erzählen? "Auf meiner Heimatinsel Ugbal gibt es eine Pflanze, die nur zwischen den Wurzeln des Trompetenbaumes wächst. Sie blüht leuchtend rot und heißt Pfeifenputzerblume. Eine Legende erzählt, dass sie vor langer Zeit ein junges Mädchen war. Ihr Gesicht war ebenmäßig und ihr Körper wohlgestaltet. Zumeist trug sie ein rotes Kleid, das ihr sehr gut stand. Sie bewegte sich mit großer Anmut und viele junge Männer wollten sie heiraten. Doch sie lehnte alle Anträge ab. Ihre ganze Liebe gehörte ihrem Vater, der der beste Trompeter im Dorf war. Jedes Mal, wenn er gespielt hatte, putzte sie sein Instrument, bis es wie die Sonne selbst glänzte. Eines Tages kam ein Fremder ins Dorf. Er setzte sich auf den Versammlungsplatz, holte eine Trompete aus seinem Sack und spielte, dass die Vögel schwiegen und alle im Dorf den Atem anhielten. Die Tochter des Trompeters sank zu seinen Füßen nieder und niemand konnte sie dazu bringen, sich zu entfernen. Ihr Vater kam und bat sie unter Tränen zu ihm zurück zu kehren. Aber sie hörte nicht auf ihn. Drei Tage und drei Nächte lang spielte der Fremde seine Trompete und nichts vermochte das Mädchen von seiner Seite zu reißen. Sie aß nichts und trank auch nichts. Ihre einzige Nahrung war die Musik. Am Morgen des vierten Tages schwieg die Musik und statt des Fremden wuchs ein Trompetenbaum auf dem Dorfplatz. Und zwischen seinen Wurzeln fand man eine kleine, feuerrote Blume."

Ein zufriedenes Brummen kam aus dem fahlen Gesicht des Fremden. "Das war eine schöne Geschichte", sagte er. "Ich werde dich nicht vergessen." Nach diesen Worten sprang er auf, stürzte sich vor den entsetzten Augen der drei Reisenden kopfüber in die Erde und war spurlos verschwunden.

"Da-das wa-war e-e-ein D-D-D-raugr!", fand Graupnar die Sprache wieder.

"Was ist denn nun ein Draugr?", forschte Aurix leicht genervt. "Ein Geist oder was?"

Graupnar sah den Meisterdieb erstaunt an. "Du weißt nicht was ein Draugr ist? Hast du nicht gesehen, dass er sich von der Quelle fernhielt? Jedes Kind ..."

"Ich komme von Idias und dort gibt es keine Draudinger", unterbrach Aurix den Kaufmann ungeduldig. "Und mit einem Kind lasse ich mich ganz sicher nicht vergleichen!" Seine großen, weißen Zähne blitzten aus dem zornigen Gesicht und eine Hand lag locker auf dem Griff des Flammendolchs.

"Draugar sind Untote, Verstorbene, die keine Ruhe finden", erklärte der Händler nun schnell. "Bei allen Göttern! Diese Stiefel!", murmelte er vor sich hin. Nur Hrappur trug solche Stiefel und er liebte Geschichten über alles. Aber das kann doch nicht sein."

"Was blubberst du da? Wer ist Hrappur?", wollte Aurix wissen.

"Hrappur war einer aus meiner Zunft und mein Freund. Vor zwei Monaten schleppte er sich schwer verletzt gerade noch bis Slognir wo er starb. Ich werde sein Grab besuchen und ihm die letzte Ehre erweisen."

Die beiden Diebe wechselten einen Blick. Was mochte sie noch auf dieser rauen Insel erwarten?

"Was macht ihr mit euren Toten, dass sie herumwandern?", wollte Aurix nun wissen. "Gebt ihr ihnen keinen Fährlohn mit, damit sie die Überfahrt in Zeltos Reich bezahlen können?"

"Es sind ja nicht alle Widergänger", verteidigte sich Graupnar nun. "Nur einige. Eben die, die noch etwas zu erledigen haben. Meist ist es Rache für ein Unrecht."

"Woran wollte sich denn der Draugr bei der Quelle rächen?", mischte sich nun Shira ein.

"Schluss mit dem nutzlosen Gerede!", brummte der Händler. "Auf Leute! Wir müssen heute noch nach Slognir." Ungeduldig stampfte er mit dem Fuß auf. Hastig packte er seine Sachen zusammen. Auch das Schachbrett half eifrig mit. Keiner von ihnen wollte noch länger hier bleiben. Selbst den Maultieren schien es hier nicht mehr zu gefallen, denn sie schritten munter aus.

Ein kalter Wind war aufgekommen, der umso heftiger wurde je dunkler es wurde. Jetzt waren die beiden Diebe dankbar für die warmen Schafwollponchos, die ihnen Graupnar als Anzahlung gegeben hatte. Immer wieder sah sich der Händler ängstlich um während die Gruppe auf die das Dorf zu strebte. Slognir bot sich in der Dunkelheit als Ansammlung dunkler Gebilde aus denen ein einzelnes Lichter strahlte, die Laterne, die die Herberge kennzeichnete. Der Wind steigerte sich zum Sturm und führte nun auch eisigen Regen mit sich. Shira zog den Poncho eng um sich, doch ihre Zähne wollten einfach nicht aufhören zu klappern. Endlich, als es schon stockfinster war, erreichten sie die Herberge. Nun sahen sie auch den schwachen Schimmer von Lampen hinter den mit groben Tüchern verhängten Fenstern der Fischerhütten. Ein junger Bursche kam aus der Herberge und übernahm mit einem mürrischen Gruß die Maultiere.

"Geht in die Stube und bestellt euch etwas zu essen und zu trinken", sagte Graupnar. "Ich komme gleich nach." Damit verschwand er zwischen den Hütten.

Frierend begab sich das Schachbrett in den Gastraum. Einige Männer standen an der Theke und tranken aus kleinen, irdenen Bechern. Sie sahen nur einmal kurz auf und wandten sich dann wieder ihren Gesprächen zu. Sie alle hätten Graupnars Brüder sein können mit ihren stämmigen, hochgewachsenen Körpern und dem dichten, braunen Haar. Nur ihre Kleidung war gröber und ärmlicher. Derbe Gesichter mit dunklen Ringen unter den Augen musterten die Ankömmlinge misstrauisch.

Aurix leckte sich die Lippen beim Anblick der Würste, die von der rußgeschwärzten Decke hingen. Wo war der Wirt? Da kam schon eine Frau in mittlerem Alter aus der Küche. Sie war das weibliche Gegenstück zu den Männern an der Theke. Kräftig gebaut, mit breiten Hüften und Brüsten wie Melonen. Shira wirkte mehr denn je wie ein verhungertes Kind neben diesen rauen Menschen. Die Wirtin warf den beiden einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann wieder ihren anderen Gästen zu. Etwas befremdet stellte sich das Schachbrett vor den Kamin. Das hell lodernde Feuer in dem offenen Kamin vertrieb die Kälte ein wenig aus den Knochen.

"Gibt es auch etwas zu essen?", fragte Aurix und bewegte vorsichtig die Finger seiner verletzten Hand. Nur noch ein leichtes Stechen erinnerte an die Wunde. Wieder wurde er ignoriert.

"Drei Portionen von deinem köstlichen Fischeintopf, Childa, aber schnell!", klang es von der Tür her. Graupnar war nun auch eingetroffen. In der Hand hielt er eine kleine, irdene Flasche. "Wir haben einen Draugr getroffen", sagte er ernst und stellte die Flasche auf die Theke.

Sofort verstummten die anderen Gäste und alle Gesichter wandten sich dem Händler zu. "Schon wieder der Draugr?", machte sich ein vierschrötiger Mann, dessen Haaransatz knapp über den Augenbrauen begann, zum Sprecher der Gruppe. Plötzlich schien ein eisiger Wind durch den Raum zu streichen. Das Feuer sank in sich zusammen und züngelte nur noch schwach. In den dunklen Ecken schienen sich bedrohliche Schatten zu räkeln. Die Fischer rückten enger zusammen als wollten sie einen Schutzwall gegen das Grauen bilden, das über der Herberge zu hängen schien. Und dann begann das Haus zu ächzen, begleitet von einem infernalischen Heulen. Mit angstvoll nach oben gerichteten Gesichtern duckten sich die Fischer und Childa wurde bleich.

"Bring uns zuerst zu essen!", gebot Graupnar. "Wir haben einen weiten Weg und einen Kampf mit den Zwergtrollen hinter uns."

Sekundenlang stand die kräftige Kar Mani unschlüssig da. Dann lief sie schnell in die Küche und kam bald mit einem Tablett wieder, auf dem drei große Schüssel mit Fischeintopf standen. Dazu gab es einen großen Krug herb-würzigen Glühwein. Hungrig fielen die drei über das Essen her. Bald waren die Schüsseln geleert und Graupnar rief nach der Wirtin.

"Bring uns noch einen Grog, Childa!", rief ihr Graupnar zu und sandte einen besorgten Blick zur Decke. Das Rumoren war heftiger geworden. Ab und zu gab es ein polterndes Geräusch als fielen große Steine aufs Dach. Auch das Heulen des Sturms klang lauter.

Die Wirtin nickte mit zusammengepressten Lippen, verschwand kurz um gleich wieder mit dem Gewünschten zu erscheinen. Als sie die Becher auf den Tisch stellte, sah Shira, dass ihre Hände zitterten. "Der Draugr reitet das Dach", brummte sie. "Den werden wir wohl nie los."

Damit drehte sie sich um und holte aus einem engen Verschlag neben der Küche einen Stapel bunter Wolldecken. Die fröhlichen Muster ließen die Anwesenden die Bedrohung durch den Draugr nur noch deutlicher empfinden. Jeder Fischer nahm sich eine Decke und legte sich am Fußboden zur Ruhe. Sie krochen dabei so eng zusammen, dass sie schon fast aufeinander lagen. Auch Graupnar und seine Leibwächter bekamen Decken. Doch es dauerte noch lange, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fielen.



Eifriges Hämmern und Klopfen holte die Reisenden aus dem Schlaf. Die Fischer hatten die Herberge schon verlassen und aus der Küche kam der Duft von frischem Brot und heißer Milch, begleitet von geschäftigem Töpfeklappern.

Aurix schälte sich als Erster aus den Decken. "Wann gibt's denn Frühstück?", fragte er und leckte sich die Lippen. Auch Shira und Graupnar verließen ihre Lager und setzten sich an einen der groben Tische.

"Childa!", brüllte der Händler. "Bring uns was zum Essen!"

Ein mürrisches "Ja, ja, schrei doch nicht so!" erklang und dann kam die Wirtin mit einem Tablett voll Brot, Käse und kaltem Braten. Auch ein Krug heißer Milch und drei Holzbecher stellte sie auf den Tisch.

"In einer halben Stunde kann

der Handel beginnen", meinte Graupnar so nebenbei zu Childa.

"Da wirst du heute aber länger warten müssen", gab sie zurück. Die Leute sind noch sehr beschäftigt. Die denken jetzt sicher nicht an neues Segeltuch. Reinars Boot hat der Sturm in Stücke geschlagen und fast alle anderen sind so sehr beschädigt, dass sie derzeit nicht verwendbar sind.

"Ich warte", beharrte Graupnar und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund. "Wo ist denn Hrappurs Grab?", wollte er noch wissen. "In Groß-Manon hat man mir gesagt, ihr hättet ihn gefunden und begraben. Ich will ihm heiliges Öl bringen."

Childa, die bereits auf dem Weg in die Küche war, drehte sich heftig um. Das leere Tablett rutschte aus ihrer Hand, aber sie fing es geschickt auf, bevor es zu Boden fiel. "Äh, Hrappur?", fragte sie etwas unsicher. "Jaaa, den haben wir in der Felsspalte zwischen den Eichen beigesetzt. Das ist doch ein würdiges Grab für einen Mann, der .... äh, der so schrecklich sterben musste, oder?" Ohne auf eine Antwort zu warten hastete sie davon.

Shira runzelte die Stirn und wechselte mit Aurix einen bezeichnenden Blick. Schweigend aßen sie ihr Mahl. Dann halfen sie Graupnar seine Stoffballen in den Gastraum zu schaffen.

"Wir gehen ein wenig an die frische Luft", erklärte Aurix danach und schob seine Gefährtin zur Tür hinaus. "Gegen Mittag sind wir wieder da."

Die Sonne lachte von einem wolkenlosen Himmel, doch ihre Strahlen waren schwach und wärmten die beiden Diebe nur wenig. Von allen Seiten erklang eifriges Klopfen und Hämmern. Mit nicht geringem Erstaunen sahen die beiden, dass fast auf jedem Dach ein oder zwei Männer saßen, die frische Schindeln befestigten. Hatte der Sturm solche Zerstörungen angerichtet oder war es der Draugr?

"Hier stinkt irgendetwas", erklärte Aurix leise. "Die Leute hier verbergen was."

"Bist du auch schon drauf gekommen, Schlaukopf?", grinste Shira. "Sehen wir uns mal um."

Gemütlich schlenderten sie durch das Dorf. Am Strand fanden sie Männer, die mit Ausbesserungsarbeiten an Booten beschäftigt waren. Nach den verbissenen Gesichtern zu urteilen waren die Leute nicht in bester Laune. Deshalb versuchte das Schachbrett gar nicht, mit einem von ihnen ins Gespräch zu kommen. Statt dessen wandten sie sich nach Norden, wo ein Eichenwald eine natürliche Grenze bildete. Ein Junge trieb eine Herde Schweine zwischen die Bäume. Das Quieken und Grunzen der wohlgenährten Tiere war schon von weitem zu hören. Shira fiel auf, dass der Bursche die Herde peinlich von den Felsen fernhielt, die zwischen den dicken Stämmen zu sehen waren.

"Jetzt wissen wir, wo wir suchen müssen", meinte Aurix unternehmungslustig.

"Willst du dich wirklich mit einem Untoten anlegen?", fragte Shira zweifelnd. Trotzdem folgte sie ihrem Gefährten. Das Gelände stieg ein wenig an und wurde steiniger. Als sie sich den ersten Bäumen näherten, sahen sie auch gleich einen felsigen Hügel, der an seiner Vorderseite mehrere Spalten aufwies. Vor der größten lehnte eine runde Felsplatte wie ein riesiger Deckel.

"Das muss Hrappurs Grab sein", überlegte Shira und trat näher. "Wenn er der Draugr ist, dann ....?"

"Wie soll denn der Kerl da rauskommen?" Aurix legte eine Hand gegen den Verschlussstein und stieß einen kleinen Schrei aus. Der Fels war ein Stück zur Seite gerutscht und gab nun den Blick ins Innere der Spalte frei. Unwillkürlich drängten sie sich aneinander als sie die Leiche erblickten. Ja, das war der Mann, den sie bei der Quelle getroffen hatten. Er saß mit angezogenen Beinen da, den Kopf auf den Knien. Etwas Lauerndes war in seiner Haltung als könnte er jeden Augenblick aufspringen und sich auf das Diebesduo stürzen. Mit gemischten Gefühlen schob Aurix den Stein wieder vor die Spalte. Dann gingen sie noch einmal durch das Dorf. Obwohl sie sich sehr aufmerksam umsahen, fanden sie nichts das mit zu nehmen sich gelohnt hätte. Ein wenig enttäuscht kehrten sie in die Herberge zurück.

Dort fanden sie Graupnar umringt von Frauen, mit denen er eifrig um den Preis seiner Stoffballen feilschte. Das Geschäft schien gut zu laufen. Der Händler verzehrte sein Mittagessen nur so nebenbei, weil immer wieder Kundschaft kam. Shira und Aurix sahen mit wachsender Begeisterung wie der Beutel des Kaufmanns dicker und schwerer wurde. Endlich wurde es ruhig. Childa brachte einen Krug voll heißem Grog und setzte sich zu den Dreien an den Tisch. Draußen wurde es bereits dunkel und ein scharfer Wind pfiff ums Haus. An diesem Abend waren sie die einzigen Gäste.

"Morgen werde ich Hrappurs Grab besuchen und dann können wir weiterziehen", erklärte Graupnar zufrieden und schürfte das dampfende Getränk.

"Wir waren heute dort. Die Leiche sieht genauso wie der Draugr von der Quelle aus", platzte Aurix heraus.

Childa sprang auf und lief mit einem "Ich muss dringend in die Küche!" aus dem Schankraum.

Graupnar schüttelte traurig den Kopf. "Dann ist es also wahr. Mein Freund ist ein Untoter geworden. Vielleicht kann ihn ja das heilige Öl erlösen."

Der Wind hatte sich zum Sturm gesteigert und rüttelte heftig an den Fensterläden. Klirrende Kälte kroch in den Raum und ließ das Trio frösteln. Plötzlich ging ein Ächzen durch das Haus. In das Brausen des Sturms mischte sich ein Kreischen und Johlen.

"Es fängt schon wieder an", meinte Shira trocken.

"Childa!", brüllte Graupnar. "Bring uns noch einen Grog!"

Als die Wirtin mit einem neuen Krug erschien, war ihr Gesicht verkniffen. "Der Draugr wird uns alle vernichten", jammerte sie.

"Was kann man denn sonst noch tun um ihn los zu werden?", fragte Aurix.

Childa warf ihm einen abschätzenden Blick zu. "Was willst du schon ausrichten, Idier? Du bist doch kein Kar Mani!"

Mit einem wütenden Zischen richtete sich der Meisterdieb auf. Seine schlanken Finger tasteten reflexartig nach dem Flammendolch. "Antworte mir, Weib!", herrschte er die Frau an. "Wenn du mir sagst, was zu tun ist, kann ich euch von dem Monster befreien. Ich, Aurix von Idias!"

Shira starrte ihren Gefährten an. Klug war dieser Ausbruch nicht, aber verständlich. Aurix hasste nichts so sehr als ignoriert zu werden, noch dazu von einer hausbackenen Wirtin! Was würde ihm diese Voreiligkeit bringen?, überlegte sie.

Nun, eines hatte der Meisterdieb erreicht. Childa starrte ihn entgeistert an. "Geh doch hinaus und ringe mit ihm. Wenn du ihm das Rückgrat brechen kannst, ist er erledigt. Es kann aber auch sein, dass er dir das Rückgrat bricht." Ein höhnisches Lachen folgte diesen Worten.

Das stachelte den Stolz des jungen Mannes noch mehr an. Hochmütig warf er den Kopf zurück und ging zur Tür. Mit ein paar Sprüngen war Shira an seiner Seite.

"Bleib hier, Shira!", rief ihr der Händler nach. "Wenn sich dein Freund umbringen will, so ist das seine Sache. Gefährde nicht auch noch dein Leben!"

Die kleine Ugbali warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Der hat doch nur Angst, ohne Leibwächter da zu stehen, dachte sie. Laut aber sagte sie: "Mein Platz ist an Aurix' Seite. Wir kämpfen immer gemeinsam." Damit folgte sie ihrem Gefährten in die sturmtosende Finsternis. Im nächsten Moment bereute sie ihren Entschluss.

Eisiger Graupelregen peitschte ihr ins Gesicht und vom Dach kam ein infernalisches Gelächter. Als sie den Blick hob, sah sie den Fremden von der Quelle rittlings auf dem Dach sitzen. In der Hand hielt er eine Peitsche, mit der er auf die Schindeln schlug als würde er ein Pferd antreiben. "Willst du dich wirklich mit dem Kerl anlegen?" Die kleine Diebin legte zweifelnd den Kopf schief. "Das ist ja ein Obermiesling erster Güte."

Aber Aurix wollte nicht auf sie hören. Sein Stolz war getroffen. Breitbeinig baute er sich vor dem Dachfirst auf und rief: "Komm herunter, du räudiges Kriechtier, und ringe mit mir!"

Der Draugr starrte grimmig auf den schlanken Meisterdieb und sprang direkt vor Aurix auf den Boden. Seine langen Arme streckten sich nach seinem Gegner aus. Doch dieser wich ihm geschmeidig aus. Wieder und wieder versuchte der Untote den Meisterdieb zu fassen, doch Aurix war auf der Hut. Shira beobachtete den Kampf. Seltsamerweise waren Hrappurs Augen dabei fast geschlossen. Mit der Zeit fing sie an zu frieren, da der heftige Regen langsam ihren dicken Umhang durchdrang. Auf der Suche nach Schutz zog sie sich unter den Eingang zum Stall zurück. Von dort aus verfolgte sie jede Bewegung der beiden, bereit sofort einzugreifen, falls ihrem Gefährten etwas zustoßen sollte.

Da! Endlich war es soweit. Die beiden ungleichen Gegner wälzten sich eng umschlungen im Matsch. Aurix begann zu keuchen unter der Anstrengung, doch von seinem Gegner war kein Ton zu hören. Plötzlich öffnete der Draugr seine toten Augen und Aurix erstarrte in seinem Griff. Blitzschnell ließ Shira einen Feuerball entstehen und warf ihn auf den Unhold, dessen Kleidung trotz des Regens sofort Feuer fing. Ein schrilles Kreischen kam von den toten Lippen. Trotzdem schickte er sich an, dem Meisterdieb das Rückgrat zu brechen. Wieder und wieder sandte die schwarze Diebin Feuerbälle, bis Hrappur endlich grässlich heulend von seinem Opfer abließ und in die Dunkelheit raste.

"Aurix! Liebster!" Im Nu war sie bei ihm und tastete seinen Körper ab. Die Knochen waren heil, die Atmung ging flach, aber gleichmäßig. Das beruhigte sie. Doch reagierte er nicht auf ihre Rufe. Schließlich packte sie seine Füße und zog ihn so in die Gaststube. An der Tür bekam sie Hilfe von Graupnar. Der Händler schien den Kampf durch einen Türspalt verfolgt zu haben.

"Hat er ihn umgebracht?", fragte Graupnar und legte den schlaffen Körper des Meisterdiebs auf einen der langen Tische in der Gaststube. Dann fuhr er die Wirtin an: "Was hast du dir dabei gedacht, Childa, diesen mageren Idier gegen Hrappur aufzuhetzen?!"

Die Wirtin schüttelte nur den Kopf. Trotz und Abwehr spiegelte sich in ihrer Miene.

"Er atmet, aber sein Geist wandert durch die Dunkelheit", sagte Shira.

"Der Draugr wird ihn zu sich holen!", unkte Graupnar.

Shiras Nasenflügel blähten sich als sie den Kopf hob und ihren Arbeitgeber wütend anfunkelte. "Er wird ihn nicht kriegen, solange noch Blut in meinen Adern fließt!" knirschte die Ugbali. In diesem Augenblick schlug Aurix die Augen auf und setzte sich auf. Ein tiefer Atemzug hob seine durchtrainierte Brust.

"Aurix! Wie geht es dir?", rief Shira aus und wollte seine Hand ergreifen.

Doch der Meisterdieb zuckte mit einem ängstlichen Aufschrei zurück. "Weg! Weg!", schrie er. "Weg, du schwarzes Ungeheuer!" Dabei war ein irres Flackern in seinen blauen Augen zu sehen. Gedankenschnell erschien der Flammendolch in seiner Hand um sofort zuzustoßen.

Shira konnte gerade noch ausweichen. "Was soll denn das, du spinnenbeiniger Pavian! Hast du ein Leck?"

"Der Draugr hat seinen Verstand verwirrt!", schrie Childa und drückte ängstlich die Hände gegen ihre voluminöse Brust. "Er wird sterben und dann ..."

"Hör auf mit deiner Zunge zu rascheln, du Pechkröte!" fuhr sie Shira giftig an. Gleichzeitig warf ein gut gezielter Tritt von ihr den Meisterdieb zu Boden. Der Dolch flog durch die Luft und blieb zitternd in der verrußten Holzwand stecken. Das nahm Graupnar zum Anlass, sich auf ihn zu werfen und seine Hände zu packen. Aurix brüllte wie ein Stier, doch es half nichts. Während Graupnar den sich heftig Wehrenden festhielt, fesselte ihm die Diebin mit Childas Schürzenbändern Arme und Beine an je ein Tischbein. Nun erschien weißer Schaum auf Aurix' Lippen. Seine Augen traten aus den Höhlen und rollten ganz fürchterlich hin und her.

"Wir müssen ihm den Kopf abschlagen und zwischen die Beine legen", meinte Childa. "Und dann müssen wir ihn verbrennen. Anders ist ein Draugr nicht zu vernichten."

Shira zog den letzten Knoten fest und erhob sich langsam. Als sie sich zu der Wirtin umdrehte, zuckte diese vor der mordlüsternen Fratze der jungen Ugbali zurück. Jeder Liebreiz war aus dem schwarzen Gesicht gewichen. "Wenn du nicht augenblicklich die Luft anhältst, bist du Matsch!", zischte sie. Dann wandte sie sich an den Händler. "Wie bricht man hier den Zauber eines Draugr?"

"Das hat noch niemand versucht", stotterte Graupnar. "Vielleicht erholt er sich, wenn Hrappur vernichtet wird."

"Und wie geht das?" Shira zog den Flammendolch aus der Wand und ließ ihn spielerisch durch die Luft wirbeln. "Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!"

"Mit diesem Spielzeug wirst du nicht gegen Hrappur ausrichten", meinte Childa mit einem trockenen Lachen. "Ein Draugr ist eisenfest."

"Man muss ihn verbrennen oder köpfen, wenn man nicht den Grund für sein Wiedergehen beseitigen kann."

"Ja, köpfen und verbrennen!", stimmte Childa eifrig zu. Dabei glitt ihr Blick wieder zu Aurix, der sich jetzt auf Knurr- und Fauchlaute verlegt hatte.

"Du hörst dich an wie mein Bandwurm. Der hat auch noch nie etwas Vernünftiges von sich gegeben", knurrte Shira und stellte sich schützend vor ihren Gefährten.

Seufzend ging die Diebin im Geist ihre Zaubersprüche durch. Gedankenvoll spielte sie mit ihrem Amulett. Wie könnte sie Aurix aus seiner geistigen Verwirrung holen? Sie ließ einige Abwehrzauber revue passieren. Waffen ablenken? Nein. Feuer? Vielleicht. Unsichtbarkeit? Nein. Ein Verwandlungszauber? Shira erinnerte sich noch gut an ihr Abenteuer in dem Zauberturm als Aurix in einen Frosch verwandelt wurde. Nein, das war's auch nicht. Wieder ließ sie das Amulett durch die Finger gleiten, das in grellen Grüntönen pulsierte. Ihr Gefährte brauchte einen magischen Heiler.

"Childa!?" Suchend sah sie sich nach der Wirtin um.

"Sie holt Decken für uns." Graupnar hatte ihre Schlafmatten in der Nähe des Kamins ausgebreitet. Für Shiras Geschmack zu nahe an einander. Jetzt kam auch schon die Wirtin aus dem schmalen Verschlag neben der Küche, einen Stapel Decken auf den Armen.

Der Meisterdieb wand sich in seinen Fesseln und spuckte nach der Frau. Childa hob schon einen Fuß um ihm einen Tritt zu verpassen, da grollte die Ugbali: "Wage es! Er ist verhext. Hol lieber einen Heiler!"

"Dem kann kein Heiler helfen", widersprach Childa. "Wer einem Draugr in die Augen geschaut hat ..."

"Ich will nicht hören, was nicht möglich ist", schrie die kleine Diebin jetzt außer sich. "Hol den Heiler, bevor ich dir die Ohren abreiße und in dein vertracktes Maul stopfe!"

"Aber Thord wird um diese Zeit ..." Shiras gefletschte Zähne ließen die Wirtin verstummen. Erschreckt ließ sie die Decken fallen und rannte hinaus in die Nacht. In der Eile ließ sie gleich die Tür offen.

Shira rannte hinter ihr her und sah sie mit gelinder Befriedigung zwischen den Hütten verschwinden. Jetzt erst bemerkte sie die Veränderung des Wetters. Der Sturm hatte sich zu einem sanften Lüftchen gewandelt, das ihr den Geruch von Salz und Meer zutrug. Stille lag über dem schlafenden Dorf und es war auch wieder viel wärmer. Ab und zu stieß ein Seekauz seinen Jagdschrei aus. Sonst war nichts zu hören. Nur die aufgeweichte Erde zwischen den Hütten, in der abgebrochene Schindeln steckten, gab Zeugnis von dem Unwetter. Automatisch sondierte Shira ihre Umgebung auch mit ihren magischen Sinnen. Doch auf diesem Gebiet war Slognir praktisch tot. Nur von Norden, wo ein dichter Eichenwald bis nahe ans Dorf reichte, näherte sich eine schwach magische Aura. Alsbald hörte sie auch die Schritte von zwei Personen und wenig später tauchte schon Childa in Begleitung eines außergewöhnlich kleinen, dafür aber umso breiteren Kar Mani auf, der in einen wallenden Umhang aus dickem, braunem Stoff gehüllt war. Entgegen der landesüblichen Sitte trug er sein dunkles, borstiges Haar offen, was ihm ein wildes Aussehen gab. Scharfe, blaue Augen schienen die kleine Ugbali zu durchbohren.

"Dein Mann hat mit einem Draugr gerungen?", fragte er mit einer Stimme, die wie aneinander schlagende Flusskiesel klang.

Zwischen Shiras Brauen erschien eine kleine Falte als sie nickte. "Ja, er hat gekämpft und der Untote ist geflohen. Jetzt rast er wie ein Verrückter." Wie zur Bestätigung drang ein gutturales Heulen aus der Herberge.

"Halt's Maul! Blöder Idier!", hörten die drei vor der Tür den Händler schimpfen. Dann klatschte etwas und der Schrei wurde zu einem Winseln.

Shira schoss durch die Tür und sah gerade noch wie sich Graupnar von dem gefesselten Meisterdieb abwandte und neben dem Kamin in eine von Childas bunten Decken wickelte. Auf Aurix' Wangen prangten rote Flecken in der Form und Größe von Graupnars groben Händen. Rühr ihn noch einmal an, dann ist Friedhof angesagt!", wetterte Shira. Die Angst um ihren Gefährten hatte ihre Hemmschwelle drastisch vermindert.

Bevor der Händler noch etwas entgegnen konnte, sagte der Heiler: "Mach Wasser heiß, Childa." Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Patienten zu. Der Meisterdieb starrte ins Leere, doch was er da zu sehen glaubte, schien ihn so zu erschrecken, dass sein Körper unablässig zitterte. Immer wieder riss er an den Stricken. Schon begann Blut die Stoffbänder zu tränken. Thord warf seinen Umhang ab und enthüllte ein langes, dunkelgelbes, hemdartiges Gewand, das seinen massigen Körper locker umfloss. An einem breiten, schwarzen Ledergürtel hingen zahlreiche, kleine Beutel, die, nach dem Duft zu schließen, den sie verströmten, offenbar Kräuter enthielten. Als Erstes vollführte er mit seinen gewaltigen Pranken einen komplizierten Tanz vor Aurix' Gesicht während er unverständliches Zeug vor in seinen struppigen Bart murmelte. Weißer Rauch quoll aus seinen Fingerspitzen und floss über den Meisterdieb. Schon bald entspannte sich dieser und schloss die Augen. Da stellte Thord das Gefuchtel ein.

"Er wird ruhig schlafen und irgendwann aufwachen", erklärte er selbstgefällig. "Das kostet fünf Golddublonen."

"Was?!" Sofort war Shira wieder in Kampfstimmung. "Was heißt da irgendwann? Und wird er dann wieder normal sein?"

"Nun ....." Der Heiler hob die Schultern. Sein Blick glitt abschätzend über die Ugbali und seine herunter gezogenen Mundwinkel zeugten nicht gerade von einer hohen Meinung. "Dein Mann wird wieder gesund, für dich immer noch früh genug."

Wieder fuhr eine Hand durch die Luft. Vor Shiras Gesicht erschien eine scheußliche Fratze und fauchte sie an. Ein Illusionszauber, erkannte die Diebin genervt und neutralisierte ihn mit einem verächtlich hingeworfenen Wort. Dann schrie sie ein anderes magisches Wort und Thord saß plötzlich auf seinem ausladenden Hinterteil. Eine unsichtbare Riesenfaust hatte hin kurzerhand nieder geworfen. Höchstes Erstaunen malte sich in seinen Zügen.

"Wann wird mein Kampfgefährte aufwachen?", zischte sie und beugte sich zu dem Erschrockenen hinunter. "Diesmal will ich die richtige Antwort. Ansonsten überleg dir schon mal, welche deiner Körperteile entbehrlich sind." Ein kleines, spitzes Messer war blitzschnell aus dem Ärmel in ihre Hand geglitten und schwebte nun gefährlich nahe über Thords knolliger Nasenspitze.

"Er ...er wi-wird min-mindestens sechs Stunden schlafen", stotterte er.

"Und dann?", bohrte die Ugbali unerbittlich.

"Es könnte sein, dass er noch ein wenig verwirrt ist. Er hat einen Schock. Der Kampf mit einem Draugr ...."

"Dann braucht er deine Hilfe noch einmal. Halte dich bereit", stellte sie lakonisch fest.

Childa kam in diesem Augenblick mit einem Topf voll dampfendem Wassers aus der Küche. Als sie die bedrohliche Szene sah, stieß sie einen Schrei aus und ließ beinahe das bauchige Gefäß fallen. "Was machst du da, Barbarin?" schrie sie entsetzt. Und zu Graupnar gewandt schimpfte sie: "Du hast mir dieses elende Bande angeschleppt!"

"Ich werde einen Trank brauen", sagte Thord schnell. Mit fahrigen Bewegungen nestelte er einige Beutel von seinem Gürtel und streute etwas von dem Inhalt in das kochende Wasser. "Gib einen Deckel drauf, Childa", ordnete er an. "Ab morgen Früh soll er zu jeder Mahlzeit einen Becher davon trinken." Schnell ergriff er seinen Umhang und rannte zur Tür hinaus.

"Das war billig", grinste Shira und schob ihre Schlafmatte zu dem Tisch, an den ihr Gefährte gebunden war. Fürsorglich deckte sie ihn mit Childas Decken zu. Dann begab sie sich auch zur Ruhe.



Ein Wutschrei weckte die Bewohner der Herberge im Morgengrauen. Aurix riss zornig an seinen Fesseln. "Shira!" Er hob den Kopf so hoch als möglich und sah sich um. "Was soll denn das?"

Die so Gerufene warf die Decken zurück und sprang auf. "Bist du wieder normal?"

"Fragt sich eher, ob du noch normal bist!", wetterte er. "Mach mich los!"

Die Ugbali säbelte schon an seinen Fesseln und bald war der Meisterdieb frei. Mit zusammen gebissenen Zähnen löste er die Reste von Childas Schürzenbändern von seinen Handgelenken. Dort, wo die Haut durchgescheuert war, traten kleine Blutstropfen aus. Shira half ihm auf die Beine. Sofort sank Aurix auf eine der Bänke und drückte beide Handballen gegen seine Schläfen. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen und die Augen lagen tief in den Höhlen.

"Oh, mein Kopf!", stöhnte er. "Vermischen die hier den Wein mit Rattenpisse?"

Ein entrüstetes Schnaufen machte die beiden auf Childa aufmerksam, die mit einem bauchigen Krug samt Becher in den Gastraum kam. Sie hatte sich eine frische Schürze über ihr bodenlanges Nachthemd gebunden. Ihr braunes Haar hing in zwei dicken Zöpfen über ihren Rücken. Jetzt stellte sie ihre Last ab und stützte die Hände in die Hüften. Ein scharfer Geruch stieg aus dem Topf auf und brachte Graupnar zum Niesen.

"Gib ihm Thords Trank, Childa", grummelte er. "Er spricht noch immer wirr." Graupnar hatte sich aus seinen Decken geschält und starrte die Drei gähnend an.

"Was?" Aurix' Gesicht wurde zu einem Fragezeichen. "Was heißt hier wirr? Oh, diese Kopfschmerzen!"

"Du hast mit einem Draugr gekämpft", begann jetzt Shira mit einer Erklärung. "Er hat dich angesehen und dann bist du übergeschnappt." Sie nahm den Krug und goss den Becher voll. "Trink das Zeug. Ein Heiler hat es für dich gemacht."

Aurix nippte an der grünbraunen Flüssigkeit und schüttelte sich. "Schmeckt scheußlich", brummte er.

"Dann wirkt es besonders gut", meinte seine Gefährtin und lächelte ihn auffordernd an. Mit Todesverachtung trank er den Becher leer und legte eine Hand auf den Magen. "Wenn ich jetzt nicht bald etwas zu essen bekomme, wird das Zeug kaum unten bleiben."

Nun zeigte es sich, wie schnell die Wirtin trotz ihrer Fülle laufen konnte. Im Nu hatte sie ein Stück Brot und geräucherten Fisch aus der Küche geholt. "Entweder du isst vor dem Haus oder du putzt die Stube, falls du dich doch übergibst", drohte sie.

Der Meisterdieb beachtete sie gar nicht. Der Duft der Speisen nahm ihn voll gefangen.

"Warum läuft dieser Hrappur eigentlich herum?", wollte Shira wissen während sie auf ihr Frühstück warteten. Aurix hatte den kleinen Imbiss blitzschnell verdrückt und machte schon ein wesentlich fröhlicheres Gesicht. Es kam sogar ein wenig Farbe in seine bleichen Wangen.

"Du hast etwas von Rache für erlittenes Unrecht gesagt. Wie war das mit Hrappur?", bohrte Shira nun weiter.

"Hrappur wurde von Zwergtrollen getötet", erklärte Childa kurz und stellte Brot, Käse, geräucherten Fisch und heißen Tee auf den Tisch. "Vielleicht hätte er sich auch einen Wächter mieten sollen. Jedenfalls ist er seit zwei Monaten tot und seither sucht er unser Dorf heim." Mit trotziger Miene verschwand sie in der Küche.

"Hrappur war ein Händler wie ich", setzte Graupnar fort als er Shiras bohrenden Blick sah. "Wir waren Freunde. Er handelte mit Töpfen und Pfannen. Die Zwergtrolle haben sein Maultier gefressen und seine Ware zerstört. Die Dörfler sagen, sie fanden die Knochen und die Scherben. Ich frage mich nur, warum sie ihn nicht auch gefressen haben."

Shira verschluckte sich an einem Stück Käse. Es war ihr gerade in den Sinn gekommen, dass sie im Fall einer Niederlage auch im Magen eines Bergtrolls hätte landen können.

Da flog die Tür auf und einige Männer stürmten herein. Shira erkannte in einigen die Gäste von vor zwei Tagen.

"Childa!", brüllte der Vierschrötige, der schon gestern die Führung übernommen hatte. "Der Draugr hat unsere Boote zerstört. Er hat das Meer gefroren und die Boote wie Nussschalen zerquetscht!"

"Wir müssen ihn verbrennen!", rief einer der Männer.

"Nein, wir hacken ihm den Kopf ab!", schlug ein anderer vor.

"Wir mauern ihn in seinem Grab ein!", meldete sich ein dritter. "Aber vorher fesseln wir ihn!"

Ein Vorschlag jagte den anderen. Childa schenkte den Männern pausenlos Wein nach. Es war klar, dass sie sich Mut antrinken wollten. Inzwischen hatten die Drei ihr Frühstück beendet. Aurix hatte sich gut erholt und wollte nun an die frische Luft.

"Ich werde Hrappurs Grab besuchen", erklärte Graupnar und holte die irdene Flasche hervor. "Wer hat ihn begraben?"

Die Wirtin warf einen unsicheren Blick auf den Vierschrötigen und zuckte mit den Schultern. "Bjarnstein und seine Freunde haben das getan."

"Halt dich raus, Händler!", rief nun der Führer der Gruppe. Der Wein schien ihn leichtsinnig zu machen. "Hrappur hat bekommen, was er verdiente. Und jetzt geben wir ihm den Rest." Die Worte hingen wie ein drohendes Vermächtnis in der Luft.

"Ja, Bjarnstein macht das schon. Geh zu Mutter Sigva. Sie braucht eine Menge Tuch", bekam er von seinen Leuten Unterstützung.

Unwillig grunzend erhob sich der Kaufmann und verließ mit dem Schachbrett die Herberge. "Ich werde mir Hrappurs Grab genau ansehen", knurrte er. "Irgendetwas ist da faul."

"Mir kommt die Geschichte mit den Zwergtrollen auch schwindlig vor", überlegte Shira.

Aurix hatte die frische Morgenluft tief in die Lungen gesogen. Er schien die Verwüstung, die der Sturm letzte Nacht angerichtet hatte, gar nicht zu bemerken. Unbekümmert stieg er über herab gefallene Dachpfannen und umgerissene Zäune.

"Wo willst du hin, Aurix?", fragte Graupnar. "Ich wollte doch ..."

Ein Blick aus den blauen Augen des Meisterdiebs ließ ihn verstummen. Wieder schien der Wahnsinn nach dem hochgewachsenen Idier gegriffen zu haben. "Wir wissen, wo das Grab ist", grinste er freudlos. Dann drehte er sich um und stapfte wortlos durch das Dorf, wo schon einige Bewohner damit beschäftigt waren, die Schäden an ihren Häusern auszubessern. Hunde und Katzen waren nirgends zu sehen. Sie kämpften wohl noch mit den Schrecken der vergangenen Nacht. Nur die Vögel nahmen keine Notiz von den Zerstörungen. Wie jeden Morgen schmetterten sie unbekümmert ihre Lieder. Schulterzuckend folgten ihm Shira und Graupnar. Als sie sich dem Rand des Dorfs näherten, dort wo der Eichenwald die Grenze bildete, mussten sie immer wieder über umgestürzte Stämme und abgerissene Äste steigen. Vor einem Felsspalt blieb er stehen und wies mit beiden Händen auf einen großen Stein, der die Öffnung verschloss.

Graupnars Pranke legte sich auf den Stein und zog. Überraschend leicht rutschte der Fels zur Seite und gab den Blick auf die kleine Höhlung frei. Mit fest an die Brust gedrückten Knien kauerte der Untote im Halbdunkel. Shiras Feuerkugeln hatten Hrappurs Hemd und Jacke arg verbrannt. Und durch diese Löcher war noch etwas zu sehen: Zahllose Stichwunden in dem ansonsten bleichen Oberkörper.

Graupnar trat vor und schob die Stofffetzen von der fahlen Haut. "Das waren keine Zwergtrolle!", stellte er grimmig fest.

"Wer war es dann?", forschte Shira höhnisch.

"Ach, Hrappur! Warum hast du nicht auf mich gehört!", jammerte der Händler ohne auf das Schachbrett zu achten. "Ich habe dich immer wieder gewarnt, aber du wolltest nicht auf mich hören! Warum musstest du nur so gierig sein?" Er fiel auf die Knie und zog ein sauberes Stück Leinen aus seinem Wams. Das benetzte er mit der Flüssigkeit aus dem Fläschchen. Er drückte das feuchte Tuch gegen seine Lippen und breitete es dann über Hrappurs zerstochene Brust. "Ruhe in Frieden, mein Freund. Lass es genug sein, du hast den Leuten hier soviel Schaden gemacht, füge nicht noch mehr hinzu. Die Götter mögen dir vergeben."

Langsam hob der Draugr eine Hand und legte sie auf das Leinentuch. "Erzähl mir eine Geschichte", grollte er.

Die beiden Männer sahen Shira erwartungsvoll an."Warum ich?", begehrte sie auf.

"Oh, diese Kopfschmerzen!", jammerte Aurix und drückte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Dass er nicht markierte, erkannte die Ugbali an der Blässe seines Gesichts. Die Wirkung von Thords Trank schien langsam nachzulassen.

Auch Graupnar schüttelte den Kopf. "Die Geschichten von Kar Manon kennt er schon alle. Er will eine neue. Erfülle ihm doch diesen letzten Wunsch!"

Mit einem leisen Seufzer ergab sich die Diebin. Sie ließ sich vor der Spalte mit gekreuzten Beinen nieder und ihre Begleiter folgten ihrem Beispiel. Die Wolken, die noch vor kurzer Zeit grau über dem Dorf hingen, hatten sich in weiße Kuschelkissen verwandelt, die durch das Blau des Himmels segelten. Dazwischen schickte die Sonne ihre wärmenden Strahlen auf die kleine Versammlung.

"Auf Idias geht die Sage, dass Eldasch vor langer Zeit Teil der Insel war", begann Shira. "Damals lebte dort ein mächtiger Kriegsherr. Die Bewohner aller Dörfer und Städte huldigten ihm, weil er das Volk von der Plage der Piraten befreit hatte. Sein Hauptquartier hatte er in der Festung Rehoboth-Ir über der Stadt Geta. Doch bald wurde ihm das zu eng und er baute sich ein prächtiges Schloss genau dort, wo jetzt die Klippen zur Meerenge von Eldasch abfallen. Bald genügte ihm das auch nicht. Er dürstete nach noch mehr Macht. So beschloss er Herrscher über das ganze Weltenmeer und seine Inseln zu werden. Tag und Nacht mussten die Schmiede Waffen herstellen. Das Volk stöhnte unter der Fron, doch er war unerbittlich.

Als er sich genügend gerüstet fühlte, überfiel er Shaniko und unterwarf die Insel in kurzer Zeit. Dieser Erfolg stachelte seinen Ehrgeiz so sehr an, dass er nach und nach auch Galena, Natick und Wellanka eroberte.

Seine Machtgier stieg ins Unermessliche. Schon plante er einen Feldzug nach Sioul und Ugbal. Aber zuerst wollte er seine bisherigen Siege gebührend feiern. Nun, als er so richtig betrunken war, rief er aus: "Wer will mir noch Einhalt gebieten? Ich bin her Herrscher der Welt. Nicht einmal Zelto kommt an meine Macht heran!" Der Gott war damals auch noch jünger und reagierte prompt. Er wies seine Priester an, den Gewaltherrscher zur Buße aufzurufen, was sie auch taten. Doch der Despot lachte nur und stieß dem Hohepriester eigenhändig den Dolch in die Brust. Nun ergrimmte Zelto so richtig. Er schickte einen gewaltigen Blitz, der das Schloss in Brand setzte und die Erde erbeben ließ. Mit einem Mal fühlte sich der Kriegsherr nicht mehr so mächtig. Er floh auf seinem schnellsten Pferd. Sein Plan war, in Rehoboth-Ir Schutz zu suchen, das ja zum Teil in den Fels hineingebaut ist. Doch Zeltos Blitz folgte ihm und verbrannte Ross und Reiter zu Asche. Die Erde aber bebte weiter und brach an dieser Stelle auseinander. Das Meer strömte in den Spalt und verbreiterte ihn. Ja, und so entstand Eldasch. Von dem machtgierigen Kriegsherrn aber ist nicht einmal der Name überliefert."

Graupnar goss schnell den Rest des Öls über den Kopf des Untoten und wollte den Stein wieder vor die Spalte schieben. Da war ein lautes Grölen zu hören. Die Drei drehten sich um und sahen eine Horde Männer sich dem Waldrand nähern. Alle trugen Fackeln in den Händen.

"Jetzt geht's dir an den Kragen!", schrie Bjarnstein, der die Männer anführte. "Heute erledigen wir dich ein für allemal!"

Graupnar baute sich vor dem provisorischen Grab auf und schwenkte die Arme. "Nein, Leute!", rief er. "Geht nach Hause! Das heilige Öl wird ihn bannen."

"Geh zur Seite, Händler!", schnauzte ihn Bjarnstein an. "Du hast hier nichts zu sagen."

Nun erhoben sich auch Aurix und Shira und nahmen neben ihrem Geldgeber Aufstellung. "Hast du Zugluft zwischen den Ohren?", unterstützte Aurix den Händler. "Nimm deine Hammelherde und sieh zu, dass du Land gewinnst!"

"Misch dich nicht ein, gelbhaarige Salatschnecke!", antwortete der Fischer grob.

"Verschwinde mit deiner schwarzen Krampfhenne." Das war zuviel für das Schachbrett. Ein Blick genügte und sie stürmten auf die Männer los. Shiras Hände zischten durch die Luft und im nächsten Moment rauschte eine Schar Krähen heran und fiel über die Männer her.

"Aus dir mach ich Grießbrei!", schrie Aurix und rammte Bjarnstein den Ellenbogen in den Magen, was diesem ein überraschtes "Umpf!" entlockte. Doch dann besann sich der Kar Mani und ging nun seinerseits auf den Meisterdieb los. Die Fackel in seiner Hand schwang er dabei wie eine Waffe. Obwohl ihm die Krähen büschelweise die Haare ausrissen, ließ er sich nicht beirren.

"Komm, Fleischklops!", schrie Shira und begann Feuerkugeln auf die Männer zu schießen.

Doch Graupnar zögerte. "Das ist meine Kundschaft!", rief er. Er ging sogar noch einen Schritt zurück und lehnte sich neben der Spalte gegen den Fels.

Nun drangen die Fischer von allen Seiten auf das Schachbrett ein. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sie überwältigen würden. Aurix blutete bereits aus einer Schnittwunde, die einer der Männer ihm mit einem langen Messer an der Hüfte zugefügt hatte. Auch Shira kam nicht ungeschoren davon. Eine Fackel stieß nach ihr und traf ihren ungeschützten Arm. Gellend schrie sie auf. Das schwarze Gesicht vor Schmerz und rasender Wut verzogen donnerte sie ein magisches Wort in den Himmel. Augenblicklich verdüsterte sich der Himmel. In Sekundenschnelle zogen grauschwarze Wolken auf. Ein Sturm fegte über die Kämpfenden hinweg und überschüttete sie mit eisigem Regen. Die Fackeln erloschen und die Männer rannten schreiend davon. Zwei Minuten später schien wieder die Sonne.

Graupnar schob den Stein vor die Spalte und wandte sich an seine Leibwächter. "Lasst uns in die Herberge gehen. Wir sollten zusammenpacken", sagte er ernst.

"An deiner Stelle würde ich dieses Dorf in nächster Zeit meiden", empfahl ihm der Meisterdieb und drückte eine Hand auf seine Wunde.



Eine Stunde später saßen alle wieder in Childas Herberge. Thord hatte die Wunden des Schachbretts versorgt und Graupnar hatte ihm zähneknirschend einen kleinen Beutel mit Silbermünzen gegeben. Die Stoffballen waren bereits auf eines der Maultiere verladen. Die Stimmung war ziemlich eisig, denn der Händler konnte es den Dorfleuten nicht verzeihen, dass sie seinen Freund getötet hatten. Sie würden ihr Tuch in Zukunft bei einem anderen Händler beziehen müssen. Dieses letzte Mal hatte Graupnar jedoch soviel Tuch verkauft, dass er Shira ein Muli zum Reiten anbieten konnte. Lächelnd bestieg sie das Tier.

Die Drei wanderten jetzt an der Küste entlang und erreichten nach zwei Tagen Rokundur, eine kleine Hafenstadt, in der Graupnar ein Lagerhaus besaß.

"Unser nächstes Ziel ist Flistingir", erklärte er wie selbstverständlich.

Doch die beiden Diebe winkten ab. "Gib uns unseren Lohn", meinte Shira. "Auf einer Insel, auf der die Toten auf Dächern reiten, wollen wir nicht bleiben." Aurix nickte bestätigend dazu. Eine Weile versuchte Graupnar die beiden umzustimmen. Doch es war nichts zu machen. Bedauernd zählte er ihnen den vereinbarten Lohn auf die Hand und verabschiedete sich.

"Wo wollt ihr denn hin?", fragte er. "Das einzige Schiff im Hafen fährt nach Galena."

"Das ist genau richtig für uns", erklärte Aurix, schulterte seinen Rucksack und schob seine Gefährtin auf die Decksplanken. "Glaubst du, er hat etwas gemerkt?", raunte er ihr zu und legte vorsorglich einen Arm über seinen Bauch, wo sich sein Hemd verdächtig bauschte. Die Seeleute setzten bereits die Segel und das Schiff legte sich knarrend in den Wind.

"Ich glaube nicht", flüsterte sie. "Sonst würde er nicht so freundlich winken."



ENDE



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