SCHWERPUNKTTHEMA

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JUNGENSTREICHE

Fred H. Schütz


Elf Jahre ist genau das richtige Alter für einen Jungen, Streiche anzustellen. Thomas, Max und Fritzchen sahen das freilich nicht so; sie hielten sich für die Summe der Weisheit und nichts war leichter, als einem Erwachsenen zu zeigen, was Sache ist. Schließlich war Fritzchen Klassensprecher, und das will was heißen wo er doch so klein war. Es war noch genau ein Monat zum Ende der Sommerferien und die Zeit mußte man nutzen, denn wenn die Schule wieder anfing begann der Ernst des Lebens, wie Thomas' Vater zu sagen pflegte; dann würden sie als Primaner ins Gymnasium einrücken ...

Aber wer läßt sich von solchen Gedanken die Ferien vermiesen! Just in diesem Augenblick standen sie unter dem riesigen Hollerbusch und ernteten fleißig die unreifen Beeren - die eigneten sich hervorragend zum Schießen auf nackte Mädchenwaden. Mädchen sind nämlich die erklärten Feinde aller elfjährigen Buben, die man mit allen Mitteln bekämpfen muß, und wenn man eine Zwille hat, mit einen unerschöpflichen Vorrat an grünen Holunderbeeren, ist der Kampf schnell entschieden.

Sie waren aber nicht so in ihre Arbeit vertieft, daß sie nicht Gelegenheit gehabt hätten, das kleine Haus auf der anderen Straßenseite genau im Auge zu behalten. Jeder Ort, sei es Metropole oder nur ein Dreihäuserdorf, hat seine geheimnisvolle Stätte, und hier war es eben jenes Häuschen mit den Rosenstöcken rechts und links von der Eingangstür.

Dabei schien es von außen stinknormal, unterschied sich bestenfalls durch seine geringeren Dimensionen und dem ungepflegten Vorgarten von den anderen Häusern auf dieser Straße - und sein vernachlässigtes Aussehen kam eben daher, daß es noch bis vor drei Wochen leer stand. Das will heißen, daß erst sein neuer Bewohner es zum Geheimnis machte. Geheimnisse zu ergründen ist aber die vorrangige Aufgabe für junge Jediritter, wenn sie elf Jahre alt sind.

"Er geht wieder zum Ententeich!" flüsterte Fritzchen, der ihn als Erster erspähte. Sie drehten sich um und sahen dem Alten nach, wie er die Straße entlang ging. Die Leute auf der Straße drehten die Köpfe weg und betrachteten geflissentlich irgendwelche andere Dinge, als er freundlich grüßend an ihnen vorüberging; den Alten schien das aber nicht zu stören.

Er ging immer zum Ententeich, das hatten die Jungen durch langfristige Beobachtungen herausgefunden, und zwar immer mittags kurz nach halb eins. Sonst verließ er sein Haus nie, ging nicht einmal einkaufen, und das machte die Leute mißtrauisch. Von was und wie lebte er, wenn er sich keine Lebensmittel besorgte? Man hatte ihn auch nicht in das Haus einziehen sehen; er war nur eines Tages einfach da. Seitdem ging er täglich mittags zum Ententeich, wo er die Enten fütterte, wie es andere Leute - vornehmlich ältere Damen - auch gerne taten, und nach genau einer Stunde zurückkehrte. Dann ging er in sein Haus zurück und es stand da, als ob es immer noch unbewohnt sei - bis zum nächsten Tag um die gleiche Zeit.

Wie er so die Straße entlang wanderte in seinem alten abgewetzten Anzug, hätte man ihn glatt mit Albert Einstein verwechseln können - das heißt, falls man je etwas von Einstein gehört hatte, was aber für die drei Freunde eine Klasse zu früh war - sogar das verwuschelte Grauhaar auf seinem Kopf stimmte.

Sie spähten ihm nach, bis er in die Straße einbog, die zu Ententeich führte, und erst, als er um die Ecke verschwunden war, huschten sie rasch über die Straße. Sein Grundstück war von einem niedrigen Jägerzaun begrenzt, der dem Blick auf den verwilderten Vorgarten keinen Einhalt gebot. Neben der Gattertür war ein altes Messingschild angebracht, und die Schriftzeichen darauf waren nur deshalb noch lesbar, weil sie in das Metall eingraviert waren. Fritzchen runzelte die Stirn als er laut vorlas, was da stand:

Prof. em. Sylvester Sixtus
angewandte Taumathurgie

und darunter in ganz kleinen Lettern:

Wunder nur nach Vereinbarung

"Was ist das, Taumathurgie?" fragte Max, der von den dreien nicht der Hellste war. Das tat sich auch in der Mühe kund, mit der er beim Aussprechen über das Wort stolperte.

"Keine Ahnung," sagte Fritzchen und Thomas zuckte mit den Schultern. "Das tut nichts zur Sache," sagte er forsch. "Fritz, du hältst Wache!" Als Anführer der kleinen Truppe konnte er es sich leisten, seine Mannen mit Respekt zu behandeln. Dafür erlaubte er ihnen auch großzügig, ihn mit Tom anzureden.

"Immer ich!" maulte der Angesprochene. "Warum immer ich?"

"Weil du die schärfsten Augen hast," erwiderte Tom, "und weil dir immer eine gute Ausrede einfällt, wenn man dich ertappt!" Das war ein geschickter Schachzug: er appellierte an die Selbstachtung des Jungen, und der Kleine gab auch sofort nach. "Na gut," sagte er zögernd. "Dieses eine Mal noch. Aber das nächste Mal soll's ein Anderer machen!" Er lehnte sich lässig an das Schild und legte den Arm auf die Oberkante des Zauns.

Tom nickte. "Sicher doch." Dabei wußte er genau, daß er "den Kleinen" auch nächstes Mal wieder dazu überreden würde, ihnen den Spaß zu überlassen. "Wenn einer kommt, pfeifst du unser Erkennungszeichen."

"Meinst du denn, daß einer kommt?" fragte Fritzchen nervös und Tom hob die Schultern. "Man kann nie wissen. Der Alte könnte ja früher zurückkommen." Damit stieß er das Gattertor auf und Max drängte hinter ihm drein.

Die Tür öffnete sich mit dem Geschrei ungeölter Angeln und fiel klappernd hinter ihnen uns Schloß. "Mach doch so keinen Krach!" warf Tom ärgerlich über die Schulter zurück und Max senkte schuldbewußt den Blick.

Fritz sah ihnen nach, wie sie sich raschen Schritts dem Haus näherten. "Was habt ihr denn an den Schuhen? Ihr hinterlaßt Spuren wie die Wildsäue!" Nicht, daß er gewußt hätte, wie die Fußspuren von Wildschweinen aussahen, aber es war der beste Vergleich, der ihm einfiel.

Tom blickte zurück und sah die dunklen Fußtapfen auf dem Backsteinpflaster. "Ach, das ist nur von der Pfütze, durch die wir gelaufen sind," brummte er unwirsch. Er klopfte Max auf die Schulter. "Keine Sorge. Es trocknet auf, ehe der Alte zurückkommt!"

Fritz runzelte sorgenvoll die Stirn. Die Fußspuren sahen aus, wie hingemalt und so heiß schien die Sonne auch nicht ...

Die Eingangstür befand sich hinter einem kleinen Podest und ein schmales Dach hing über ihr, das wohl dazu dieneb sollte, Besucher vor Regen zu schützen. Mitten auf dem Podest hockte eine riesige Kröte. Sie hatte einen metallisch schimmernden Körper und Augen wie schwarzes Glas. "Sicher eine Bronzefigur," sagte Tom, der keine Ahnung hatte, wie sich Bronzefiguren von anderen Skulpturen unterscheiden, aber so regungslos, wie das Ding dasaß - und Kröten so groß wie diese gab es in der Natur überhaupt nicht!

Aber warum sich Gedanken machen, warum das groteske Ding genau vor der Haustür hockte und den Eintritt behinderte! Sie stakten mt hochgezogenen Knien einfach darüber hinweg und Tom probierte die Türklinke. Die Tür knarrte. "Sie ist nicht einmal abgeschlossen!" murrte er und stieß sie vollends auf. "So ein Leichtsinn!"

"Um so besser!" kicherte Max und drängte sich hinter Tom ins Haus.

"Quak," sagte die Kröte.

Die Tür schnappte ins Schloß und die beiden standen im Dunkeln. "Verdammt, du hast die Tür zugemacht!" rief Tom erschrocken und Max zuckte zusammen. "Nein, das war ich nicht! Sie ist allein zugefallen ..."

"Das darf doch nicht wahr sein!" sagte Tom erbost. "Keine Tür geht von allein zu!"

"Ich schwör' dir, ich war's nicht," erwiderte Max und seine Stimme klang weinerlich. "Laß uns wieder rausgehen!"

"Nein! Jetzt, wo wir hier sind, will ich mich auch umschauen!" sagte Tom trotzig. Trotz hilft immer, wenn einem die Angst Beine machen will.

Der Raum war doch nicht so dunkel, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, gewahrten sie einen großen Raum, der zunächst leer zu sein schien. Dann sahen sie die Umrisse von langen Bänken - besser gesagt, niedrigen Schränken - auf beiden Seiten, und darüber Regalen an den Wänden, die mit Büchern vollgestopft waren. Etliche Bücher lagen aufgeschlagen auf der Platte des rechten Schranks. Das machte Max neugierig. Er beugte sich über das nächstliegende Buch und versuchte, zu lesen, was da stand. "Regno angelis omnia vincet ..." buchstabierte er mühevoll. "Das ist doch keine richtige Schrift! Schau mal-" Er tippte mit dem Finger auf die Seite und das Buch schnappte zu. Es gab einen lauten Knall und er zuckte erschrocken zurück. Das Buch war über seine Hand geklappt und als er versuchte, sie herauszuziehen, stak sie fest. "Hilfe!" schrie er, "Tom, hilf mir! Das Buch-"

"Stör mich nicht!" zischte Tom erbost. "Und sei nicht so laut!" Er war an der linken Seite entlanggegangen, aber die merkwürdig geformten Flaschen auf der Tischplatte und die Steingutgefäße in den Regalen darüber sagten ihm nichts. In der hinteren Ecke befand sich ein altertümlicher Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte. Wozu auch, schließlich war Sommer und die Luft hier drin war stickig genug. Auf dem Kaminsims stand ein ausgestopfter Uhu, dessen Augen merkwürdigerweise geschlossen waren. Seltsames Viech, dachte er, normalerweise haben solche Dinger Glasaugen ...

Das ganze Haus schien nur aus diesem einen Raum zu bestehen; es gab nicht einmal eine Treppe, als ob es weder Oberstock noch Keller gäbe. Verdammt, wo schlief der Mann denn?

In der Rückwand befand sich eine Tür mit einem großen Fenster darin, und als er hindurch blickte, sah er einen gepflegten Blumengarten. Schau mal an, dachte er, den hat er gut angelegt! Die Blüten waren allesamt violettfarben. Die Tür hatte einen runden Knauf, und als er ihn drehte, klickte es und die Tür sprang auf. Tom prallte mit einem Schreckensruf zurück. Draußen herrschte dunkle Nacht!

Er faßte den Türknauf, aber der ließ sich auf einmal nicht mehr drehen und als er versuchte, die Tür zuzudrücken, preßte etwas dagegen - geradeso, als ob irgendetwas Mächtiges herein wollte. Er warf sich gegen die Tür und drückte mit aller Kraft, und wurde dennoch zurück gedrängt. Ehe er sich's versah, flog die Tür gänzlich auf und krachte gegen die Wand. Nacht drang herein, eine kalte, Grauen verbreitende Dunkelheit ...

"Wir müssen hier raus!" schrie Tom und nahm die Beine in die Hand.

"Ich stecke hier fest," schrie Max zurück. "Hilf mir!"

"Beeil' dich!" schrie Tom und riß die Vordertür auf.

Sie wurde ihm aus der Hand gerissen. Der Sturm heulte wie sämtliche verlorene Seelen in der Hölle und Schnee wirbelte herein. Mit ihm drang arktische Luft ins Zimmer, die das Blut augenblicklich in den Adern gefrieren läßt.

"Hilf mir!" schrie Max verzweifelt. Tom lief zurück und ergriff seinen Arm - aber so sehr sie auch zerrten, die Hand stak im Buch und das Buch lag wie festgenagelt auf der Tischplatte.

Der Sturm fegte durch das Zimmer und riß Folianten auf der einen Seite, Steingutgefäße auf der anderen aus den Regalen. Die Bücher knallten beim Aufschlagen wie Kanonenschüsse und die Gefäße zerschellten auf dem Fußboden. Die Eule flog vom Kaminsims, kreiste mit lodernden Augen durch den Raum und rief krächzend "Es ist zu spät, es ist zu spät!" Irgendwo schlug eine Uhr fortwährend ein Uhr und die Jungen schrien in Todesangst.

Fritzchen hatte die ganze Zeit aufgepaßt wie ein Schießhund, hatte die Straße hinauf und hinab gelugt - es hätte ja sein können, daß der Alte auf einem anderen Weg zurückkehrte, als er gegangen war - aber die Straße blieb menschenleer. Das war ja langweilig! Er lehnte am Zaun und betrachtete den Vorgarten, der genauso vernachlässigt dalag, wie beim letzten Mal - da änderte sich kein Blatt. Er blickte zum Haus hinüber, und es stand da, ruhig und still, wie es Häuser zu tun pflegen, in denen kein Mensch daheim ist, und von seinen Kumpanen war nichts zu sehen oder zu hören. Einmal schien es ihm, als ob einer aus dem Fenster des Oberstocks schaute, und er hob schnell den Arm, um zu winken. Die sollten sich gefälligst sputen, man hat ja nicht den ganzen Tag Zeit! Aber da war die Erscheinung schon wieder weg. Vielleicht war's auch nur ein Reflex auf der Fensterscheibe.

Er überlegte, ob er hineingehen sollte, um sie zur Eile anzutreiben, aber dann war keiner da, aufzupassen, daß der Alte sie nicht überraschte. Er schaute auf seine Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters zum letzten Geburtstag. Zehn vor eins. Er entschloß sich, noch zehn Minuten zu warten. Wenn sie bis dahin nicht herauskamen, würde her hineingehen und sie rufen.

"Na, Junge, gefällt dir mein Garten?" Ein Riesenschreck durchfuhr Fritzchens Glieder. Er gewahrte den dunkeldrohenden Schatten dicht an seiner Seite und Panik machte ihm Beine. Das heißt, er versuchte, wegzulaufen, aber es ging nicht. Das Schild hielt ihn wie festgeklebt, sodaß er sich nicht einmal umdrehen konnte. "I-ich," stotterte er, "ich ..." Seine Kehle war ausgedörrt und seine Zunge klebte am Gaumen; in seinem Hirn drehte sich ein außer Kontrolle geratenes Karussell.

Der Alte schien es nicht zu bemerken. "Ja, er brauchte schon eine kundige Hand," sagte er und seufzte. "Leider liegt das nicht in meinem Vermögen. Aber vielleicht kennst du jemanden, der-"

Er hielt erschreckt inne und griff nach der Schulter des Jungen. "Bub, du schlotterst ja am ganzen Leibe! Bist du krank?" Unter seiner Hand löste sich Fritzchen von dem verhängnisvollen Schild und kam vor den Mann zu stehen, unfähig, sich zu rühren. Der Angstschrei blieb in seiner Kehle stecken. Der Alte beugte sich vor und kurzsichtige Äuglein blinzelten. "Laß mal sehen ..." Er legte ihm die Hand auf die Stirn. "Nein, Fieber hast du nicht. Laß uns zuerst mal ins Haus gehen." Er legte ihm leutselig den Arm über die Schultern und Fritzchen blieb nichts übrig, als sich mit bleiernen Füßen durch die quietschende Gattertür und den Weg hinauf zum Haus führen zu lassen.

"Ach, übrigens, ich bin Professor Sixtus," sagte der Mann wie angelegentlich, und sprach im leichten Plauderton. "Aber das weißt du sicher schon. Du hast ja genau vor meinem Schild gestanden."

Fritzchen spürte, daß dies eine Aufforderung war, sich vorzustellen. "Fritz - eh, Friedrich," sagte er daher und wunderte sich, daß er wieder sprechen konnte. "Friedrich Hölderlin." Seine Stimme klang fremd.

"Ist nicht wahr!" jubelte der Professor. "Bist du vielleicht ein Nachfahre des großen Dichters?

"Ich - ich weiß es nicht," sagte Fritzchen ängstlich.

"Hat denn niemand in deiner Familie darüber gesprochen?"

"N- nein."

"Nun, dann werde ich wohl ein Wörtchen mit deinen Eltern sprechen müssen," sagte der Professor angelegentlich. "Das ist ja interessant!"

Er schwieg und Fritzchen hoffte inbrünstig, daß er seine Absicht rasch vergessen würde. Wenn seine Eltern erfuhren, daß er und seine Freunde dem Professor einen heimlichen Besuch abgestattet hatten, würde es Zores geben - und sein Vater hatte eine rasche Hand.

Auf dem Podest vor der Haustür saß eine riesige Kröte, dick und fett und unbeweglich. Ihre Haut schimmerte grünlich, und Fritzchen dachte, das ist eine Bronzefigur. So groß wie diese gab es in der Natur keine Kröte. "Mach' bitte Platz, Ambrosius," sagte der Professor höflich.

Ambrosius tat ihm nicht den Gefallen. Die Kröte schnellte eine lange Zunge hervor und die traf zielsicher einen großen grünen Grashüpfer, der just in diesem Augenblick völlig instinktlos dem Professor vor die Füße gehüpft war. Der Grashüpfer verschwand im breiten Maul der Kröte. Gleich darauf überlief ein Zittern ihren Körper und sie wurde über und über aschfahl; darauf kippte sie zur Seite und lag regungslos und mit schlaffen Gliedern. "Er verträgt keine Grashüpfer," sagte der Professor.

"Warum frißt er sie dann?"

"Gute Frage." Der Professor hob die Schulter. "Es ist seine Natur."

Die Haustür öffnete sich, lautlos und wie von Geisterhand bewegt, als sie über den Podest schritten - Fritzchen brachte sogar seine bleiernen Füße hoch, ohne zu stolpern - und kaum war er über die Schwelle getreten, fand er sich in einem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer. An der linken Wand stand ein überdimensionaler, mit Büchern vollgestopfter Bücherschrank, an der Rückwand ein gekachelter Kamin und links daneben eine Tür. Auf dem Kaminsims hockte eine große ausgestopfte Eule. Rechts in der Ecke befand sich eine gepolsterte Eckbank und davor ein runder Tisch mit seidener Tischdecke, deren Fransen schier bis zum Fußboden reichten, und eine gemütlich wirkender ledergepolsterter Ohrensessel.

Mitten im Zimmer standen Max und Thomas wie angeleimt. Sie sahen aus wie lebensgroße Gipsfiguren - einer nach links, der andere nach rechts gewandt - und regten sich nicht.

"Ei, wen haben wir denn da!" rief der Professor mit Freude in der Stimme. Keine Spur von Empörung über das unbefugte Eindringen, stellte Fritzchen sachlich fest - und wunderte sich, daß er so kühl denken konnte. "Gäste!" rief der Alte und hob die Stimme. "Undine, komm' rasch! Wir haben Gäste!"

Er berührte die "Gipsfiguren" und die gewannen augenblicklich Leben. Wie von der Natter gestochen fuhren sie herum und starrten den Professor entsetzt an, aber der ließ sich nicht beirren. "Kommt, setzt euch," sagte er leutselig und drängte die Jungen mit sanfter Gewalt zum Tisch hinüber. "Du auch, mein junger Freund," sagte er zu Fritzchen gewandt, dem der Ausdruck "mein junger Freund" überhaupt nicht schmecken wollte.

Als er sah, wie die Jungen gehorsam auf der Eckbank Platz nahmen, nickte er befriedigt und wandte sich der Eule zu. "Wir haben Gäste, Asmodeus," sagte er inbrünstig, "was sagst du dazu ..." Das war aber keine Frage, dachte Fritzchen, sondern ein Zeichen der Verwunderung

Die Eule regte sich, streckte zuerst Flügel und krallenbewehrten Fuß der rechten Seite von sich, wiederholte die Prozedur mit der linken Seite, schüttelte ihr Gefieder, daß es raschelte, und öffnete dann große runde gelbe Augen. "Höchste Zeit," krächzte sie und versank wieder in ihren todesähnlichen Stupor.

"Alte Schlafmütze," brummte der Professor, aber seine Miene erhellte sich gleich wieder, denn es öffnete sich die Tür im Hintergrund und eine junge Frau trat herein. "Ah, hier kommt Undine!"

Die Frau schien nicht zu gehen, sondern zu schweben. Rasch glitt sie näher, aber nicht so schnell, daß Fritzchen nicht ihren Anblick hätte würdigen können. Sie war von geradezu durchscheinender Blässe, und ihr langwallendes blaßblaues Kleid, das eher einem Nachtgewand glich als vernünftiger Tagbekleidung, unterstrich noch diesen Eindruck. Sie hielt ihre Augen auf das Tablett gesenkt, das sie auf ihren Händen balancierte, und erst, als sie es auf dem Tisch abstellte, streifte sie die Jungen mit einem kühlen Blick aus seegrünen Augen. Fritzchen durchfuhr es wie ein elektrischer Schock. Kalt, dachte er entsetzt, hinter diesen Augen wohnt keine Seele! Und wußte nicht, daß er mit diesem Gedanken den Grundstein für seine spätere Karriere legte.

Das Mädchen sagte keinen Ton, machte kehrt und entfernte sich so still und leise wie es gekommen war. Über seinen Rücken wallte langes lockiges Haar, so fein wie gesponnenes Silber.

Der Professor blickte ihr nach, bis die Tür hinter ihr ins Schloß fiel. Dann seufzte er und einen Moment lang sah er aus, als wollte er sich schütteln wie Asmodeus auf dem Kaminsims. Dann lächelte er wieder, setzte sich in den breiten Ledersessel und zog eine uralte Tabakspfeife aus der Tasche. "Sie hat Erfrischungen gebracht; greift zu!" sagte er heiter. "Erlaubt ihr, daß ich rauche?" Ohne eine Erwiderung abzuwarten, steckte der die Pfeife in den Mund und sog. Augenblicklich verbreitete sich eine blaue, aromatisch riechende Rauchwolke.

Er hat sie nicht angezündet, dachte Fritzchen und betrachtete fasziniert die Rauchkringel, die der Professor aus seinem Mund entweichen ließ.

Jungen haben immer Hunger, sogar wenn sie Angst haben, und der von den Erfrischungen aufsteigende Duft ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen; sie griffen zu und der Berg luftigen Gebäcks schmolz rasch dahin. Fritzchen, feinsinniger als seine Freunde, erkannte den Geschmack. Das ist Mandelgebäck, dachte er, ähnlich dem, das Mutter in der Weihnachtszeit backt. Wieso der Professor die Jahreszeiten umkehrte und ihnen das Gebäck im Sommer anbot, würde wohl sein Geheimnis bleiben.

Der Professor sah ihnen aus seinen verschmitzten Äuglein zu und blies Rauchringe, die zur Zimmerdecke empor schwebten. Als er bemerkte, daß sie die Limonade nach den ersten nippenden Schlückchen stehen ließen, griff er ein Glas, füllte es aus dem Limonadenkrug und trank in großen Zügen. "Ah," sagte er und stellte das leere Glas zurück. "Das ist gut. Reiner Zuckerrohrsaft, versetzt mit Limone und Ingwer. Na ja," fügte er hinzu, "etwas Rum darin könnte nicht schaden."

Das konnten die Jungen nicht begreifen. Von Rum wußte man, daß er betrunken macht und deshalb schädlich ist. Die anderen Inhaltsstoffe, die der Professor genannt hatte, kannten sie nicht. Aber das war auch nicht von Belang, denn unter dem Mandelgebäck wurden Schokoladeplätzchen sichtbar; die Jungen stürzten sich freudig darauf, aber schon der erste Bissen schmeckte merkwürdig fremd. Plötzlich waren sie alle ganz satt, so satt, wie es Jungen nur sein können - und das will viel heißen. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, den strategischen Rückzug anzutreten, aber wie tat man das einem Fremden gegenüber, der einen gerade bewirtet hatte? Sie scharrten mit den Füßen, wagten aber nicht, aufzustehen; unruhig blieben sie sitzen.

Irgendwo im Haus schlug es zwei Uhr. Der Professor steckte die Pfeife in die Tasche - ohne sie auszuklopfen, stellte Fritzchen beunruhigt fest - und stand auf. "Ich schätze, es ist and der Zeit," sagte er. "Danke für euren Besuch."

Da war kein Halten. Die Jungen drängten hinter dem Tisch hervor und preschten zur Tür. Nur Fritzchen blieb einen Augenblick stehen. "Danke für die Bewirtung, Herr Professor," sagte er höflich. Dann wandte er sich um und rannte hinter seinen Freunden hinaus. Auf der Straße gaben sie echtes Fersengeld.

Der Professor trat aus der Haustür und rief ihnen nach: "Gut, dann sehe ich euch zu Schulbeginn!" Aber das hörten sie wohl nicht mehr. Er sah ihnen einen Moment lang nach, obwohl sie nicht mehr zu sehen waren. Dann seufzte er und sagte, "Nette Burschen, nicht wahr, Ambrosius?"

"Quark!" sagte die Kröte.



ENDE



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