ARTIKEL


TOHUWABOHU

von Fred H. Schütz



Am Anfang war das Wort, so heißt es in der Bibel. Viel wahrscheinlicher ist, daß zuerst der Ton die Musik machte. Wie es vom Grunzen des Urweltmenschen zur Sprache kam ist ebenso ungeklärt, wie daß unsere Spezies Intelligenz entwickelte - oder was man hierzulande für Intelligenz ausgibt; ich für meinen Teil würde mich in diesem Punkt lieber etwas zurückhalten.

Um so erstaunlicher finde ich, daß sich die Schrift überall auf der Welt nahezu gleichzeitig entwickelte. Das heißt nicht, auf den Tag genau - so eng darf man es nicht sehen - eher schon auf's Jahrhundert genau. Und wo immer sie entstand, war sie zuerst eine Bilderschrift, die durchaus erzählerischen Charakter haben konnte, wie die ersten Comix der Welt - die ägyptischen Bildbänder - beweisen.

Während die Bilderschrift der Maya den spanischen Konquistadoren zum Opfer fiel, wurde die ostasiatische liebevoll gepflegt. Allerdings entwickelte sie dort einen immer abstrakteren Charakter, dem man heute die Verwandtschaft mit dem Bild kaum noch ansieht. Das Alphabet entstand - über den Umweg zur Silbenschrift - im vorderen Orient, kam nach Griechenland und erst dann erreichte es Europa. Schreiben war allerdings eine Kunst, die nur wenige beherrschten. Karl der Große, zum Beispiel, "unterschrieb" die von ihm erlassenen Dekrete, indem er einen Kringel in den von seinem Schreiber vorgemalten Namenszug setzte, und gar manches Mönchlein mühte sich im Kopieren der von Geistesriesen seiner Zeit verfassten Werke, ohne zu ahnen, was er da malte. Ja, Schreiben und Lesen waren anfangs voneinander unabhängige Künste!

Bedingt durch die Völkerwanderung des frühen Mittelalters, strömten vor den Hunnen fliehende germanische Völker aus den Weiten der russischen Steppe nach Mitteleuropa. Sie kamen mitsamt ihrer einander mehr oder weniger ähnlichen Sprachen, die im Laufe der Jahrhunderte zum Teil miteinander verschmolzen und schließlich zu einer Reihe von Dialekten abflachten. Daher ist die deutsche Sprache an Dialekten reicher als andere Sprachen. Unter anderem ist dieser Umstand dafür verantwortlich, daß ein jeder schrieb, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

Was uns heute selbstverständlich erscheint, blieb jahrhundertelang einigen wenigen vorbehalten und Analphabetismus herrscht sogar heute noch in weniger entwickelten Landstrichen. Zwar gab es Universitäten bereits im Mittelalter, aber so etwas wie allgemeine Bildung entstand erst im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, als höhere Stände damit begannen, ihre Kinder unterrichten zu lassen, und eine allgemeine Schulpflicht kam gar erst im neunzehnten Jahrhundert auf.

Dem machte der Kaiser zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts per Dekret ein Ende. Hochdeutsch - eigentlich auch nichts anderes als ein norddeutscher Dialekt - war bereits über die Theaterbühnen sozusagen hoffähig geworden und wurde nun zum billigen Werkzeug. Was im Duden aufgenommen war, wurde nun per Gesetz vorschriftsmäßige Rechtschreibung.

Damit war Deutschland das einzige Land in der Welt, wo ein Gesetz diktiert wie man zu buchstabieren hat.

Schrift macht Sprache sichtbar. Die Sprache ist aber ein lebendiges Element, das sich nicht auf immer und ewig per Gesetz festlegen läßt. Heute sprechen die Menschen anders, als vor hundert Jahren; das heißt, daß das Gesetz im Laufe der Zeit aufweichte, als ständig neue Regeln eingeführt und andere gelöscht wurden. Die Sütterlin-Schrift (genannt nach einem Lehrer names Sütterlin, der sie erfand) eine Schrift, die ausschließlich in deutschsprachigen Landen angewendet wurde, wich der international gültigen lateinischen Schreibweise.

Irgendwann kam irgendjemand auf die Idee, die Notwendigkeit von Kultusministern unter Beweis zu stellen, indem man sie etwas Nennenswertes tun ließ. Diese Damen und Herren tuschelten untereinander, bis sie am Schluß auf den Gedanken kamen, das in die Jahre gekommene kaiserliche Rechtschreibegesetz zu ändern, sozusagen neu zu kreieren. Es wurde beschlossen, eine Reform der Rechtschreibung zu beschließen.

Dieser Beschluß - einer von vielen, die im Bundestag nahezu endlos debattiert werden, fiel in der Öffentlichkeit nicht sonderlich auf. Also wurden eine Reihe von Fachleuten bestallt, Redakteure und Hochschuldozenten oder wer immer glaubte, in Bezug auf die deutsche Sprache etwas zu sagen zu haben, und diese Leute setzten sich ins stille Kämmerlein, alle zusammen, und machten sich an die Arbeit. Zwanzig Jahre dauerte das. Nun hatte jeder von diesen Leuten seine Lieblingsspinnerei, die er (oder sie) mit aller Vehemenz verteidigte, und da man es in Deutschland mit der Demokratie sehr genau nimmt - was nichts anderes heißt, als daß ein jeder was zu sagen hat - bekam auch jeder sein Schäflein in dem Werk unter. Dabei ging diesen Leutchen der Überblick über das Ganze verloren, und was am Ende herauskam und abgesegnet wurde, war völliger Unfug, ein Machwerk, das an Schwachsinn nicht mehr zu überbieten war.

Also legte die Kommission ihre Arbeit bei zuständiger Stelle vor, kassierten ihre Tantiemen und wandten sich wieder ihren ursprünglichen Tätigkeiten zu. Die überraschten Damen und Herren Kultusminister - schließlich darf man nicht erwarten, daß nach zwanzig Jahren immer noch die gleichen Leute den Posten besetzen - warfen einen Blick in die Schwarte, urteilten nach Größe und Gewicht, daß hier eine fertige Arbeit vorlag, machten eine Gesetzesvorlage daraus und stellten sie im Bundestag vor, wo sie angesichts ihrer Belanglosigkeit ganz nebenbei durchging. Die Abgeordneten haben schließlich noch mehr zu tun, nicht wahr.

Die völlig überrumpelte Öffentlichkeit bekam ein Gesetz serviert, das die Nation in zwei Lager spaltete. Die eine Faktion - linientreu - hält dessen Fahne hoch und die andere - Leute die selber denken können - läßt sich kein X für ein U auf die Backe malen. Widerspruch wurde laut und wird immer massiver, die eingeräumte Übergangsfrist ist verstrichen und das Gesetz sollte längst endgültig in Kraft getreten sein, wenn - ja, wenn der Mann auf der Straße nicht wäre!

Was der Kaiser noch konnte, gelingt dem modernen Politiker nicht so ohne weiteres; er muß sich auf die Finger sehen lassen. Die bange Frage ist: wer bringt eine sozialliberale Regierung dazu, das einmal beschlossene Gesetz zurückzunehmen? Andererseits haben wir endlich einmal eines, das wir locker mißachten dürfen.

Das erste Buch der Bibel (Genesis) und damit die Bibel schlechthin, beginnt mit den Worten tohu wa bohu, wüst und leer. Mir scheint, am Ende ist es genauso.


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