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FIEBER

Folge 5

von Susanne Stahr



Es war gegen Abend des dritten Tages als sie ankamen. Der Burghof war menschenleer. Wo waren die anderen Elatha? Nur die königliche Garde war präsent. Sie begrüßten die Ankömmlinge mit unbewegten Gesichtern. Die schwarze Gestalt eines Arrian-Magiers stand wie zufällig am Burgtor, doch seine wachsame Haltung strafte ihn Lügen.

Loretta fühlte jeden Knochen im Leib. Sie wollte nur noch ins Bett. Als Volusian schweißverklebt im Hof der Burg landete, rutschte sie haltlos von seinem Rücken. Die Beine gaben unter ihr nach und nur Statiras helfende Hand bewahrte sie vor dem Fallen. Die Kriegerin, als Erste wieder in Menschengestalt, war noch in bester Verfassung von den Dreien. Nun verwandelte sich auch Volusian und rieb ächzend seinen Rücken.

Die Mädchen wollten in ihr Quartier gehen, doch eine schwache Stimme hielt sie zurück. Amyntha lehnte an einem schmalen Nebeneingang der Burg. Eine Fackel beleuchtete ein bleiches Gesicht mit schwarzen Ringen unter den Augen und sie schwankte ein wenig. Bekleidet war sie nur mit einem langen, weißen Hemd.

"Amyntha!" Volusian sprang auf sie zu und umfing sie mit einem Arm. Mit der anderen Hand öffnete er die Tür und schob sie hinein.

Loretta und Statira folgten in einen Raum, den man als eine Mischung aus Wohnzimmer und Arbeitszimmer bezeichnen konnte. Sie fanden die Beiden an einem Tisch sitzend vor, mit hängenden Köpfen. Die Mädchen sanken neben der Tür zu Boden. Statira hielt Loretta im Arm und streichelte geistesabwesend ihre Hüfte. Ich sollte mich freuen, dieses Biest endlich schwach zu sehen, dachte Loretta. Doch es gelang ihr nicht. Diese Reise hatte sie ihrem Vater näher gebracht. Die Sache der Elatha war unmerklich für sie auch ihre Sache geworden. Dazu kam, dass sie auch die Liebe und das Leid fühlte, die die Beiden verbanden, unübersehbar waren. Die stolze Amyntha war jetzt nur noch eine kranke, müde Frau mit einer großen Sorge am Hals. Loretta brachte es nicht fertig, sie noch immer zu hassen, jetzt, wo der Nimbus ihrer Macht zerbrochen war.

"Ihr Götter!", sagte die Bewahrerin. "Volusian, du stinkst erbärmlich!"

"Ist mir egal", grunzte er. "Was ist mit dir? Bist du krank? Ich muss zum König ..."

"Es war ein Attentat, sowohl auf uns als auch auf Gobares", unterbrach sie ihn. "Es geschah während einer Besprechung mit dem König. Gift im Wein. Plötzlich wurde er blau im Gesicht und fiel vom Stuhl. Wir haben sofort unsere Heilkräfte vereinigt. Dies rettete ihm das Leben, doch der Lord-Bewahrer und Urdia starben. Das Gift war schon in uns und die Anstrengung nahm ihr Leben. Der König ist bewusstlos. Unsere Leute wurden von Imbrus fortgeschickt."

"Wie konnte das geschehen!?", rief er erschrocken aus. "Das kann die Vernichtung der Elatha bedeuten!"

"Ja, unser Volk ist bedroht", nickte sie. "Wir brauchen dringend einen dritten Bewahrer um in Zeiten der Not eine magische Union bilden zu können. Iphrates hat seine Ausbildung nahezu abgeschlossen. Aber auch ihn hat Imbrus weg geschickt."

"Wird der König wieder gesund?"

"Das steht in den Sternen. Er ist nicht mehr jung, aber er könnte es schaffen. Die Prinzen teilen sich vorerst die Regentschaft. Es kommen schwere Zeiten auf die Elatha zu."

"Das ist die Chance für Raduald und seine Brut. Glaubst du, dass er dahinter steckt?" fragte Volusian, der krampfhaft die Augen offen hielt.

"Der Hofmagier stand immer loyal zum König. Bedenke, wie lange er schon dem Königshaus dient", hielt sie dagegen..

"Menschen ändern sich", sagte er mit schiefem Grinsen. "Wer wüsste das besser als du und ich."

Sekundenlang kam die strenge Bewahrerin hinter der kranken Frau hervor, sank aber schnell wieder zurück. "Raduald hat beim König rund um die Uhr Wachen aufgestellt, natürlich seine Magier. Außerdem scharwenzeln die Schwarzröcke ständig um die Mischlinge herum. Cleochares berichtete, dass sie sie teilweise schon von der Arbeit abhalten."

"Denkst du, was ich denke?" Volusian stützte den Kopf in beide Hände. "Vielleicht sieht er jetzt seine Chance, die Elatha ein für allemal aus Arrian zu vertreiben."

"Wir müssen auf alle Fälle wachsam sein. Die Burg wimmelt vor Arrian-Magiern. Nun lass mich sehen, was du erlebt hast."

Sie legte die Hände wie eine flache Schale auf den Tisch und Volusian legte seinen Kopf hinein, das Gesicht hinter einer Maske aus Schweiß und Staub fast unkenntlich. Stumm und ohne Interesse sahen die Mädchen zu. Nach einigen Minuten hob Volusian den Kopf und übergab ihr den Kristall, den er dem Idol abgenommen hatte. Sie nickte, erhob sich und ging zu den Mädchen. Sie legte jeder eine Hand auf die Stirn. Ein paar Ameisen krochen durch Lorettas Kopf, dann war es vorbei und die Bewahrerin kehrte zu Volusian zurück. Der mächtige Paladin war vornüber gesunken. Sein Kopf lag auf der Tischplatte und er schlief tief und fest.

Amyntha hing kraftlos in ihrem Stuhl. "Hilf mir ins Bett, Statira", sagte sie leise.

Ein Stachel bohrte sich in Lorettas Seele. Warum hat sie nicht uns beide angesprochen?, ärgerte sich Loretta. Wie krank musste Amyntha sein um ihre stolze Haltung aufzugeben? Nun ja, sie hatte der Bewahrerin auch keine Liebe entgegen gebracht. Aber Statira schaffte das sicher nicht allein. Wortlos trat sie an die Seite ihrer Schwertschwester. Loretta fand, dass ein wenig Kraft zurück gekehrt war. Gemeinsam brachten sie die Frau ins Schlafzimmer und legten sie in ein breites Bett. Statira schien mit der Örtlichkeit wohl vertraut.

Loretta blieb fast die Luft weg als sie ihren ersten Teppich an der Wand hängen sah. An den Fransen war die Peitsche befestigt. Auch Statira sog beim Anblick des Gewebes scharf die Luft ein und sah Loretta fragend an.

Später, signalisierte ihr diese telepathisch. Volusian muss auch ins Bett.

Es ist aber verdammt weit zu seinem Quartier. Wir können ihn doch am Tisch sitzen lassen. Statira wiegte zweifelnd den Kopf.

Nein, entschied Loretta. Hilf mir. Er ist ein schwerer Brocken.

Gemeinsam trugen sie den Paladin ins Schlafzimmer. Er murmelte und grunzte, wurde aber nicht wach. Loretta fand einen halb gefüllten Wasserkrug und wusch ihm das Gesicht während Statira ihm die Stiefel und danach auch die Tunika auszog. Dann hievten sie ihn ins Bett.

"Paladin Volusian, ich habe dir nicht gestattet, in mein Bett zu kommen", murmelte Amyntha.

Doch der lag bereits in tiefem Schlaf. Das Gesicht der Bewahrerin entspannte sich als sie ebenfalls einschlief. Die Aura der Unnahbarkeit war von ihr abgefallen. Sie ist auch nur ein Mensch, dachte Loretta. Wenn sie das nur auch im Wachen wäre!

Stolpernd und sich gegenseitig stützend verfügten sich die Mädchen zu ihrem Quartier. Dort fielen sie wie Steine in ihre Betten. Kein Test morgen und auch keine Karos und Kreise, war Lorettas letzter Gedanke bevor sie einschlief.



Eine raue Hand schüttelte ihre Schulter. "Steh auf, Loretta. Der Paladin will dich sehen." Es klang wie durch Watte gesprochen.

"Hau ab, Gideon", fauchte sie. "Ich bin krank." Sie zog die Decke über den Kopf und die Knie an die Brust. Schritte entfernten sich. Ah, gut. Sie versuchte, wieder einzuschlafen.

Da zog jemand die Decke weg und eine kühle Hand legte sich auf ihre Stirn. "Du glühst ja, mein Liebes", sagte eine weiche Stimme.

"Mama, ich gehe heute nicht zur Schule. Ich will Pistazieneiscreme und fernsehen", greinte das Mädchen.

"Loretta, komm zu dir!", rief eine Stimme, die nicht ihrer Mutter gehörte, die sie aber kannte. "Volusian will mit allen Mischlingen reden. Es ist sehr wichtig."

Loretta öffnete ein Auge und sah ein fremdartiges Gesicht, von grünen Haaren umrahmt und erinnerte sich. "Statira, ich bin krank", sagte sie leise.

"Das sehe ich. Aber es muss sein. Ich werde dich stützen."

Mühsam quälte sie sich aus dem Bett. Statira half ihr beim Anziehen und stützte sie als sie über den Burghof gingen. Es war seltsam still. Keine trainierenden Krieger, keine spielenden Elatha-Kinder.

Statira brachte sie in den Raum, in dem sie in der letzten Nacht oder vor hundert Jahren? über ihre Fahrt berichtet hatten. Dort standen bereits Rothas, der Mann mit der weißen Locke, Ganga, die Lederkatze, Hellonion, die Kampfechse und Bosan, der Wolf an der Wand aufgereiht. Die Mädchen ließen sich zu Boden sinken Wo waren Nicaros, die Schlange und Zarias, der Bär? Auch die vier Mischlinge, die keine Krieger waren, vermisste sie. Jetzt erst fiel Loretta auf, dass es ihrer Freundin auch nicht viel besser ging als ihr selbst.

Volusian und Amyntha saßen hinter dem Tisch. Die Bewahrerin wirkte kräftig und erholt. Auch Volusian war wieder der Alte.

Um den Preis von Statiras Kraft?, überlegte Loretta.

Es war notwendig, wurde ihr von Amyntha signalisiert.

Etwas hatte sich zwischen den Beiden verändert. Was war es nur? Ihre Gesichter waren ernst und ganz auf die akuten Probleme konzentriert. Trotzdem ...

Hatte diese Nacht im selben Bett die Beiden einander näher gebracht?, fragte sich Loretta.

Misch dich nicht in meine Ehe, kam eine Gedankenbotschaft von ihm, hart und bestimmt. Dann wandte er sich an die versammelten Mischlinge.

"Die Elatha hat der schwerste Schlag in ihrer Geschichte getroffen. Der Lord-Bewahrer und die Bewahrerin Urdia sind tot. Der Bewahrer Rheomin ist krank. Der König, unser Herr und Beschützer, ist bewusstlos. Die Prinzen vertreten ihn gemeinsam bis er wieder gesund ist oder ... eine Entscheidung über seine Nachfolge getroffen werden muss. Prinz Imbrus hat alle Elatha außer uns dreien aus der Burg entfernt, teils als Schutztruppen für bedrohte Dörfer, teils durch Aufträge, die sie in andere Welten führen. Amyntha allein kann unsere durch die Welten wandernden Brüder und Schwestern nicht erreichen. Deshalb frage ich euch, wollt ihr den Elatha die Treue schwören um die verbliebenen Bewahrer zu beschützen?"

Die vier Krieger legten ihre Waffen vor Volusian auf den Tisch. "Unsere Treue gehört den Elatha", riefen sie wie ein Mann und traten wieder zurück an ihren Platz. Ein fragender Blick traf die Mädchen.

"Auch ich schwöre den Elatha Treue", erklärte Statira leise, aber fest..

Alle Blick richteten sich nun auf Loretta.

"Wo sind die anderen Mischlinge?", fragte sie. "Zarias und Nicaros sind doch auch Krieger und da gab es doch noch andere."

"Erwachsenen Mischlinge ist es gestattet, sich von den Elatha los zu sagen", gab Volusian mit steinerner Miene zur Kenntnis. "Das haben alle außer Rothas, Ganga, Statira, Hellonion und Bosan getan. Sie wurden in die Magierschule der Arrian aufgenommen. Wie entscheidest du, Loretta?"

Das Blut brannte in ihren Adern, angefacht durch das Fieber. Sie fühlte sich schlaff und absolut nicht in der Lage, wichtige Entscheidungen zu treffen. Alles was sie wollte, war ein weiches Bett und ein Topf voll Eiscreme.

"Ich soll den Elatha Treue schwören?", rief sie aus. "Zum Dank für die schlechte Behandlung? Seit ich hier bin, werde ich wie eine Aussätzige behandelt. Habe ich die Krätze oder AIDS? Was kann ich dafür, dass ihr euch gestritten habt? Warum seid ihr nicht in eine Eheberatung gegangen? Oder zu einem Psychologen? Habt ihr euch nie gefragt, wie sich eure Kinder gefühlt haben? In euren Köpfen ist nichts als eure blöden Gesetze. Alles Scheiße!"

Aller angestaute Frust war aus ihr hervor gebrochen. Erschöpft klammerte sie sich an Statira. "Ich will zu meiner Mama. Sie hat mir immer Eiscreme gegeben, wenn ich Fieber hatte", jammerte sie.

Dann schlangen sich Volusians Arme um sie. Es tut mir Leid, Loretta, wisperte seine Gedankenstimme.

Amyntha stand neben Volusian. Ihr Gesicht drückte Betroffenheit und eine Spur von Scham aus. "Wie wirst du dich entscheiden?", fragte sie, um Fassung ringend.

Das Mädchen sah nur ihren Vater an. "Für dich tu ich doch alles, Papa", sagte sie müde. "Was hast du denn gedacht? Auch wenn Amyntha ein ekliges Scheusal ist."

Die beiden Elatha schnappten gleichzeitig nach Luft, hin und her gerissen zwischen Entrüstung und Erleichterung. Ihre fassungslosen Gesichter entlockten Loretta ein schwaches Grinsen.

"Ich bringe dich ins Bett", sagte Volusian und hob seine Tochter hoch.

"Ich möchte Amyntha noch was fragen", verlangte diese nun. "Unter vier Augen."

Was willst du wissen? Amynthas Gedankenstimme klang kühl und reserviert.

Können die anderen nicht mithören?, fragte Loretta.

Nicht, wenn ich es nicht will. Frage!

Aha! Geheimer Kanal. - Warum hast du den Teppich bei dir aufgehängt?

Es war ein Geschenk. Eins unserer blöden Gesetze befiehlt uns, Geschenke zu ehren.

Aber er ist schlampig gemacht und ich wollte dir doch nur eins auswischen, weil du zu Volusian so grausam warst. Eigentlich war es gar kein Geschenk.

Amyntha lachte freudlos. Das habe ich wohl verstanden. Dennoch war es auf eine Art ein Geschenk. Ich war ...Eine Mischung aus verletztem Stolz, Eifersucht, Enttäuschung und tiefem Schmerz, aber auch brennende Liebe schwappte über Loretta. Gefangen in einem Teufelskreis aus Hass und Sehnsucht. Und keiner wagte es, mir, der Bewahrerin, Einhalt zu gebieten als ich den Mann, den ich liebte, immer wieder quälte. Du hast mir einen Spiegel vorgehalten und damit den Kreis gebrochen. Volusian und ich haben noch einen langen Weg vor uns. Den ersten Schritt hast du für uns getan. Du bist eine außergewöhnliche Frau, Loretta.

Ich habe ja einen außergewöhnlichen Vater, antwortete sie und kuschelte sich an ihn. Vielleicht bist du ja doch nicht so ein Ekel. Verblüfft erkannte sie, dass Amyntha ihr Herz geöffnet hatte. Die stolze Frau war ihr einen Schritt entgegen gekommen, hatte ihre Hand ausgestreckt. Nun bröckelte auch Lorettas Abneigung. Sie war auch viel zu krank um sich auf einen Ärger zu konzentrieren. Schließen wir eben einen Waffenstillstand, dachte sie bei sich.



Loretta lag in einem der Zimmer, die noch vor kurzem Elatha bewohnt hatten und langweilte sich. Das Fieber war gesunken, aber sie fühlte sich so matt und schwindlig, dass ihr Cleochares noch einen Tag Bettruhe verordnet hatte.

Alle Mischlinge hatten das Haus an der Burgmauer verlassen und schliefen jetzt in der Festung, Volusian wollte das, was von den Elatha noch in der Burg war, auf einen Ort konzentrieren. Die Krieger wechselten sich als Wache bei dem kranken Bewahrer ab oder erledigten andere Aufgaben. Loretta hatte mit Statira seit zwei Tagen nicht mehr gesprochen, da diese morgens aufstand bevor das Mädchen wach war und abends todmüde ins Bett fiel und gleich einschlief. Nur die Kinder waren da, hatten jedoch den strikten Befehl, ihren Schlafraum nicht zu betreten.

Da lag sie nun und hatte nicht einmal einen Fernseher. Sie vermisste ihre Mutter und ihren Bruder. Traurig holte sie ihre alte Kleidung, Jeans und T-Shirt und den Teppich mit Gideons Bild hervor. Wie dilettantisch! Jetzt konnte sie viel besser weben. Trotzdem, es war Gideon. Oh Gideon! Jetzt tat es ihr Leid, dass sie ihn soviel geärgert hatte. Monster hatte er sie immer genannt. Wenn er jetzt hier wäre, könnten sie ....

In dem irrationalen Gedanken, ihm näher zu kommen, zog sie die alten Sachen an. Oje! Das T-Shirt war eng geworden und die Ärmel hatte sie auch länger in Erinnerung. Und erst die Jeans! Nur mit Mühe brachte sie den Reißverschluss zu. War sie fett geworden? Wurde sie doch so dick wie ihre Mutter? Sie schlüpfte wieder in ihr Nachthemd und betastete ihren Körper. Alles fest, keine Fettwülste, kein Schwabbeln. Aufatmend legte sie sich wieder hin. Sie fühlte sich erschöpft. Vielleicht konnte sie ein wenig schlafen.

Plötzlich wirbelte die Luft vor ihrem Bett. Dann standen zwei schwarz gekleidete Gestalten da. In der einen erkannte sie den Hofmagier Raduald. Die andere war kleiner und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Loretta konnte nur erkennen, dass das Gesicht genauso bleich und asketisch wirkte wie Radualds. Die beiden hätten Brüder sein können.

"Wie geht es dir, Loretta?", begann der Hofmagier.

"Danke, gut!", antwortete sie automatisch.

"Das freut mich", fuhr der Magier fort. "Dann kannst du jetzt deine Entscheidung treffen. Sage dich los von den Elatha und komm zu uns. Die Magiergilde wird dich ausbilden und du wirst zu Ehren und Wohlstand kommen. Hier würdest immer nur ein verachteter Bastard sein."

"Aber ich habe mich schon für die Elatha entschieden", erklärte sie.

"Das kann angefochten werden. Du hast im Fieber gesprochen", widersprach der Schwarzgewandete. "Außerdem hast du nicht die korrekte Formel ausgesprochen."

"Kann ich mir das mal ansehen?", fragte Loretta vorsichtig. "Ein Schnupperkurs vielleicht?"

Sekundenlang stutzte Raduald, dann schüttelte er den Kopf. "Wenn du dich für uns entschieden hast, wirst du alles kennen lernen."

"Nicht mal einen Tag der offenen Tür kannst du mir anbieten? So eine Art Probepackung?"

"Ich kenne diese Worte nicht, Mädchen. Du hast mich gehört. Zögere nicht zu lange mit deiner Entscheidung." Seine Stimme klang jetzt reichlich ungeduldig.

Ein silberner Wurm schlängelte sich eiskalt in Lorettas Gehirn. Ohne zu überlegen visualisierte sie einen Hammer und schlug mit aller Kraft zu. Der stille Begleiter des Hofmagiers zuckte zusammen und stöhnte. Loretta warf ihm einen bösen Blick zu.

"Keine Sorge", sagte Raduald. "Das war nur ein kleiner Test."

"Ich hasse Tests!", schrie Loretta einem verschwindenden Luftwirbel nach. Dann sagte sie leiser: "Das muss ich Volusian erzählen."



Am nächsten Morgen fühlte sie sich kräftig genug um aufzustehen. Sie war gerade mit dem Frühstück fertig als Volusian mit Statira in ihr Quartier kam. Impulsiv sprang Loretta auf und umarmte ihre Schwertschwester. Eine Weile gab es nur noch sie und Statira. "Ich hab dich vermisst", flüsterte sie unter Küssen.

Ein Räuspern erinnerte sie, dass ihr Vater auch noch da war. Errötend trat sie von Statira zurück. Stört es dich, dass ich eine Frau liebe?, telepathierte sie ängstlich.

Warum sollte es?, gab er zurück. Alle Mischlinge sind wie du. Männer lieben Männer und Frauen lieben Frauen.

Mama würde mich zum Seelenklempner schleppen, vierteilen, enterben ...

Volusian stieß ein kurzes Lachen aus. "Die Prinzen warten", sagte er laut.

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. "Warte!", sagte sie. Sie wollte ihm gleich von dem Besuch der Magier erzählen. Da fuhr ein schneidender Schmerz durch ihren Körper. Sie brachte kein Wort heraus.

Ihr Vater sah sie ernst und besorgt an. "Möchtest du noch einen Tag im Bett bleiben?", fragte er. "Es hat doch keinen Sinn aufzustehen, wenn du dich noch nicht wirklich fit fühlst."

"Nein, nein, es ist ..." wieder krümmte sie sich unter einer Schmerzattacke.

Statira musste sie stützen, damit sie nicht fiel. "Sie steht unter einem Bann", sagte sie.

"Ja, das sehe ich auch." Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die Augen. "Ich sehe, dass du mir etwas erzählen willst. Lass es vorerst gut sein. Diesen Bann kannst du nur brechen, wenn du die richtigen Worte sprichst. Sie werden dir schon einfallen."



Loretta hatte sich den Thronsaal größer und prächtiger vorgestellt. Er hatte in etwa die Ausmaße des Turnsaals in ihrer Schule. Der Thron selbst, ein glatter, wuchtiger Sitz aus einem einzigen Karneol geschnitten, stand an der Wand gegenüber der Doppeltür. An den Seiten standen Wachen. Hohe Fenster waren von schweren Vorhängen gesäumt. Die Wände waren mit Webteppichen behängt und Loretta fragte sich, ob auch einer von Volusian dabei war.

Vor dem Thron saßen auf einer samtgepolsterten Bank drei Männer. Die Ähnlichkeit ihrer Gesichter ließ keinen Zweifel, dass sie Brüder waren. Auch sah sie in jedem etwas von dem Buchhalter. Der Älteste, ein Mann Ende Dreißig, war verkrüppelt. Sein rechter Arm war deutlich kürzer und verdreht. Das rechte Bein endete, ebenfalls zu kurz, in einer lederumhüllten Spitze. Das musste Asander sein. Der Mann neben ihm, Mitte Dreißig war Loretta unbekannt. Da sie in dem Dritten Fulrad erkannte, musste das wohl Imbrus sein.

Hinter den Prinzen standen sechs Magier. Zwei von ihnen trugen Kapuzen. In einem von ihnen erkannte sie Raduald. Ob sein Begleiter von damals auch dabei war? Verwirrt stellte Loretta fest, dass sich ihre Gesichter in erschreckendem Ausmaß glichen. Nur in der Größe und Statur gab es Unterschiede, die aber teilweise durch die schwarzen Roben verschleiert wurden.

Volusian beugte das Knie vor den Prinzen und die Mädchen folgten seinem Beispiel.

"Was kannst du uns Neues berichten, Paladin?", fragte Imbrus in herrischem Ton. "Unserem Vater geht es immer schlechter. Wenn du nicht bald den Attentäter findest, muss ich annehmen ..."

Die gesunde Hand Asanders legte sich begütigend auf Imbrus' Arm. "Gemach, Bruder. Lass Volusian sprechen."

Volusians Blick flog zwischen den Prinzen hin und her. Dann begann er: "Die Bewahrerin Amyntha hat festgestellt, dass dem König auch gestern wieder eine geringe Dosis Gift verabreicht wurde. Wenn wir Wachen ...."

"Unsere Magier bewachen den König rund um die Uhr", unterbrach ihn der Prinz. "Gibt es sonst noch etwas Neues?"

"Meine Krieger wären bessere Wachen", sagte Volusian bitter.

"Hüte deine Zunge, Paladin!", rief Raduald und trat vor. "Bevor du uns verdächtigst, such in deinen eigenen Reihen. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer deiner Brut den König zu töten versucht."

"Der Paladin hat den Mörder zerrissen bevor er dem König nahe kommen konnte", konterte Volusian.

"Das war auch ein anderer Paladin. Einer, der nicht treulos war. Gobares hätte dich nie begnadigen dürfen!"

"Schweig, Magier!", bellte Asander. "Du rührst in altem Schmutz."

"Volusian hat der Krone immer treu gedient", meldete sich nun auch Fulrad.

"Wer weiß, was er im Schilde führt. Er hat die Bastarde in die Burg gebracht, gegen den ausdrücklichen Befehl des Königs!", rief Raduald trotzdem.

"Das werde ich vor dem König verantworten sobald er wieder erwacht ist", knurrte Volusian. Seine Wangenmuskeln arbeiteten. Man konnte sehen, dass er noch mehr auf der Zunge hatte.

"Lass es gut sein, Raduald", sagte nun auch Imbrus.

Der Magier trat wieder zurück in die Reihe. Über sein Gesicht huschte aber ein hämisches Grinsen.

Imbrus wechselte einen Blick mit seinen Brüdern. Als sie ihm zunickten, sagte er: "Wir reden morgen weiter. Wenn du nichts Neues zu bieten hast und es unserem Vater wieder schlechter geht, wird der Bewahrerin Amyntha der Zutritt verweigert." Er hob die Hand. "Du kannst jetzt gehen."



"Wie soll ich Spuren entdecken, wenn mir dieser verdammte Zauberer immer Prügel zwischen die Beine wirft?", schimpfte Volusian und ging mit großen Schritten in Amynthas Arbeitszimmer auf und ab. "Immer hängt einer seiner Bleichlinge an meinen Fersen. Dass die Elatha über alle Welten verstreut sind, ist auch sein Werk. Sie hätten das Attentat verhindert."

"Sie waren noch da als es geschah. Imbrus schickte sie erst nachher weg.", korrigierte ihn Amyntha. "Setz dich, du machst mich nervös."

Sie und die Mädchen saßen am Tisch. Amyntha war dabei, Kräuter zu zermahlen. Auf dem Tisch stand eine flache Keramikschale und darin lag ein Regenbogenkristall.

"Ich habe Lyncester erreicht", berichtete die Bewahrerin. "Es gibt keine Nynx mehr in Arrian. Sie haben jeden Stein umgedreht. In wenigen Tagen kehren die Elatha, die sich in Arrian befinden, zurück. Dann wird es leichter. Ich mag diese schwarze Brut, die unsere Mischlinge abspenstig macht, auch nicht."

Das war es! Loretta wusste endlich, wie sie den Bann brechen konnte. Sie stand auf und legte ihr Schwert Volusian zu Füßen. "Meine Treue gehört den Elatha", sagte sie und atmete tief auf. Im gleichen Moment, in dem sie diese Worte sprach, schien sich eine schwere Decke von ihr zu heben. Jetzt endlich konnte sie ihre Geschichte erzählen. Sie hatte sehr aufmerksame Zuhörer.

"Ich habe mir schon gedacht, dass der Attentäter aus dieser Ecke kommt. Zuerst kommt der Anschlag, dann werden unsere Leute nach und nach weg geschickt und nun sondieren sie meine Tochter und belegen sie mit einem Bann, damit sie nichts erzählen kann. Das wird ein Nachspiel haben." Er lächelte grimmig. "Ich glaube, dass ich den Prinzen morgen mehr berichten kann."

"Ich kann es mir immer noch nicht vorstellen", sinnierte seine Frau. "Aber so, wie die Dinge stehen ..." Sie schüttele den Kopf..

"Er wird es wohl nicht selbst gewesen sein. Ich bin sogar sicher, dass er sich nicht selbst die Hände schmutzig macht." Wütend stampfte er auf und ab.

"Bleib am Teppich, Mann!", sagte sie jetzt energischer. "Was wir brauchen, sind handfeste Beweise für seine Schuld. Wenn du dich nicht bald setzt, stelle ich dir ein Bein."

Volusian knurrte ärgerlich und ließ sich neben ihr auf einen Stuhl fallen. "Du würdest es tun", brummelte er vorwurfsvoll.

Loretta hing ihren eigenen Gedanken nach. "Wie lange brauchen Loqui-Bäume um so groß zu werden wie die in dem Hain?", fragte sie.

"Mindestens zehn Jahre", antwortete Volusian automatisch. Dann sah er sie scharf an. "Willst du da einen Zusammenhang andeuten?"

"Hm, Ich weiß nicht so genau."

Da fiel ihr noch etwas ein. "Der Magier sagte etwas von einem früheren Attentat", fuhr sie eifrig fort. "Vielleicht war es derselbe ...."

"Nein, nein." Volusian musste lachen. "Der ist toter noch als tot."

"Wie war das? Was geschah?", bat sie.

"Es war ein Mischling", kam ihr Vater ihrem Wunsch nach. "Damals lebten die Mischlinge noch in der Burg. Einer konnte den Tod seiner Mutter, einer Elatha, nicht verwinden und wollte sich an Gobares rächen. Er bedrohte den König. Doch der alte Paladin hat ihn zerfetzt bevor er auch nur in die Nähe Gobares' kam. Der König ließ daraufhin das Haus an der Burgmauer bauen, wo die Mischlinge fortan wohnen mussten. Außerdem verfügte er, dass kein Mischling ohne ausdrücklichen Befehl die Burg betreten durfte. Er traute ihnen nicht mehr. Doch sein Vertrauen in die Elatha war ungebrochen. Sonst hätte er mich nicht begnadigt." Volusian starrte ins Leere, verloren in der Vergangenheit.

"Es war ein Unglücksjahr", fuhr Amyntha für ihn fort. "Zuerst verschwand ein Bewahrer spurlos. Dann starb unser Sohn." Volusian legte eine Hand auf die ihre. "Und kurz danach das Attentat." Sie seufzte. "Und Volusian ging auch weg und ließ mich allein."

Volusian nahm die Hand weg und stützte das Kinn auf die Faust. Er warf ihr einen düsteren Blick zu, sagte aber nichts.

"Soso." Loretta listete in Gedanken die Fakten auf. Ihr Blick fiel auf den Kristall. "Ein Bewahrer verschwand? Einfach so? Er könnte doch irgendwohin gewandert sein."

"Nein", widersprach Amyntha. "Wir hätten ihn erreichen können, in jeder der tausend Welten. Wir Bewahrer sind durch den Kristall genauso eng verbunden wie Familienmitglieder. Er muss tot sein, ermordet, obwohl sein Leichnam nie gefunden wurde. Es bedarf starker Magie, einen Regenbogenkristall zu verstecken. Und jetzt ist sein Kristall aufgetaucht." Sie wies auf die kirschgroße, glitzernde Kugel in der Schale. "Rheomin ist ein Sucher. Wenn er wieder gesund ist, .... nein, Loretta!"

Das Mädchen hatte den Kristall in die Hand genommen. Er war erstaunlich schwer. Ihr Blick saugte sich daran fest und ihre Umgebung versank. Der Regenbogen hüllte sie in sein kaltes Feuer. Aber etwas stimmte nicht. Ein dunkler Schleier versperrte ihr die Sicht. Dahinter war etwas Wichtiges verborgen. Weg, weg mit dem schwarzen Ding. Schwarz wie die Roben der Magier. Sie hasste sie. Zerreißen, zerfetzen, wegwischen. Das Dunkel wich und vor ihr lag ein Gewölbe voller Gerümpel. Ihr Blick fiel auf ... einen Haufen Müll?, einen alten Lappen? Sie musste hingehen und es genauer ansehen.

Ohne zu wissen, was sie tat, erhob sie sich und ging zur Tür hinaus. Ihr Blick war fest auf den Kristall in ihrer Hand gerichtet. Statira war an ihrer Seite und die beiden anderen folgten hinter ihr. Sie hörte nicht das erregte Flüstern der Bewahrerin, sah nicht das sorgenvolle Stirnrunzeln ihres Vaters. Geradewegs durch den Hof ging sie, zu einem versteckten Nebeneingang und stieß gegen die Tür. Protestierend quietschten die Angeln, gaben nur zögernd ihrem Druck nach. Loretta ging eine gewundene Treppe hinunter und blieb vor einer verwitterten Tür stehen. Weder fühlte sie die Kühle, die aus dem Gemäuer kroch, noch roch sie die dumpfe, schimmelige Luft. Sie drückte die Klinke hinunter, verschlossen. Alle Metallteile der Tür waren von dickem Rost überzogen. Seit langer Zeit hatte niemand diese Tür geöffnet.

Loretta rüttelte an der Tür. Als das auch nicht half, stieß sie drei Finger gegen das alte Holz. Krachend fiel die Tür nach innen. Loretta ging darüber als wäre das das Normalste der Welt. Es war ein Lagerraum für ausgediente Dinge. Kaputte Sättel, rostige Brustpanzer, zerbrochene Waffen lagen kreuz und quer in unordentlichen Haufen. Das Mädchen umging zielstrebig alle Hindernisse und blieb vor einem unordentlichen Haufen stehen. Jetzt konnte sie besser sehen. Ein Stoffbündel, schmutzig, zerrissen, halb verrottet. Trotzdem konnte man noch die Farbe erkennen, blau. Und durch die Löcher waren Stöcke zu erkennen. Stöcke? Nein, das waren Knochen! Loretta wurde übel und das Bild verschwand.

"Zangrulf!", hörte sie Amyntha schreien.

Starke Arme hielten sie fest und stützten sie, als sie sich übergab. Warum war es so kalt und düster? Alles war so schmutzig. Und es roch ganz scheußlich hier.

"Der Bewahrer Zangrulf. Er war die ganze Zeit hier und wir dachten, er sei auf seiner Wanderschaft gestorben", ergänzte Volusian.

Loretta folgte mit den Augen ihrer Hand und sah ein verkrümmtes Skelett in schmutzigblauen Lumpen. Schnell drehte sie sich weg, denn ihr Magen rebellierte schon wieder. "Wo sind wir hier?"

"Eine Rumpelkammer", erklärte Amyntha kurz. "Du hast uns hierher geführt."

Volusian beugte sich über die Reste. Er ergriff das blaue Tuch und das morsche Gewebe zerriss mit einem nervenaufreibenden Geräusch. Dann wandte er sich an seine Tochter. "Du bist eine Sucherin. Das muss eine deiner verborgenen Gaben sein."

"Häh?"

"Du kannst Menschen über ihre Besitztümer finden", erklärte er geduldig.

"Hellsehen?", fragte sie.

"Nun ja, so eine Art Hellsehen, aber anders", bestätigte er.

"Für wie viele Überraschungen bist noch gut, Mädchen?", sinnierte die Bewahrerin mit zusammen gekniffenen Augen. Widerwillige Anerkennung schwang in ihrem Ton.

"Ich weiß es nicht", sagte Loretta leise. "Es ist so kalt hier. Können wir nicht endlich gehen?"



Amyntha versiegelte den Raum magisch und sie kehrten wieder in ihre Wohnung zurück.

Dort warf Volusian den übelriechenden, blauen Fetzen auf den Tisch. Als seine Frau missbilligend die Nase rümpfte, nahm er ihn wieder weg und hielt ihn unschlüssig in der Hand.

Loretta ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Der Bewahrer, das Kind, das Attentat, die Loqui-Bäume, alles in einem Jahr", sagte sie.

Volusian und Amyntha wechselten einen Blick.

"Ja, das könnte passen", sagte Volusian sehr ernst. "Das würde aber bedeuten, ..."

"Eine von langer Hand geplante Intrige!", jubelte das Mädchen. "War doch gut, dass ich immer 'Dallas' gesehen habe." Als sie die schockierten Gesichter Amynthas und Volusians sah, wurde sie schnell ernst. "'tschuldigung", murmelte sie.

"Ich muss dem König seine Medizin bringen", sagte Amyntha und schüttete die gemahlenen Kräuter in einen Becher Wein. "Statira geht mit mir. Du kannst ja inzwischen Zangrulfs Kleid lesen."

"Das hatte ich vor", stimmte Volusian zu.

"Leg es nicht auf den Tisch", keifte seine Frau. "Hier esse ich!" Gemeinsam mit der grünhaarigen Kriegerin verließ sie das Zimmer.

Loretta sah ihnen nach. Die benehmen sich wie ein altes Ehepaar, dachte sie. Seltsamerweise machte ihr das Amyntha sympathischer.

"Wir sind ein altes Ehepaar", brummte Volusian und kramte in einem Schrank. Er fand einen Putzlappen und breitete ihn über den Tisch. Darauf legte er den blauen Fetzen.

"Die Zauberer sehen alle gleich aus", sagte Loretta gedankenvoll. "Hat Raduald sie deswegen ausgesucht? Das sah doch cool aus, sechs bleiche Men-in-Black."

Ein Grinsen flog über Volusians Gesicht. "Nein, es ist die Magie, die sie verändert. Alle, die sich länger als ein Jahr mit Arrianischer Magie beschäftigen, sehen so aus. Auch die Mischlinge, die sich für die Arrian entscheiden. Diese verlieren auch die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Und nach fünf Jahren erkennt man sie nicht wieder. Dafür altern sie nur sehr langsam. Raduald muss jetzt schon an die fünfhundert Jahre alt sein."

"Werden Zarias und Nicaros auch so?"

"Ja!" Volusians Gesicht war traurig. Er zupfte an dem blauen Fetzen. "Alles ändert sich für sie. Zuerst der Name, dann auch der Körper."

"Zarias konnte sich in einen Bären verwandeln und Nicaros in eine Schlange. Es hat immer so ausgesehen als mache es ihnen Spaß, ein Tier zu werden."

Loretta starrte auf die Tischplatte. Sie hatte die Beiden nicht besonders gemocht. Aber als Trainingspartner würde sie sie vermissen.

"Sie haben sich entschieden", meinte Volusian schulterzuckend.

"Was ist, wenn es ihnen nicht gefällt und sie wollen wieder zurück zu den Elatha?"

"Das ist noch nie geschehen." Kopfschüttelnd sah er seine Tochter an. "Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Raduald einen gehen lässt, der sich einmal für ihn entschieden hat."

"Vielleicht ist es schon geschehen und er hat die Abtrünnigen umgebracht", spann sie den Faden weiter. "In kochendem Öl gesotten oder von Haien zerfleischen lassen."

"Zügle deine Phantasie, Tochter!", wies er sie zurecht. "Die Arrian-Magier sind keine sadistischen Schlächter."

"Aber sie sehen so grausig aus...." Loretta schüttelte sich. "Wäre ich auch so eine Bleichgurke geworden?!"

Volusian nickte. "Jetzt kannst du dir sicher vorstellen, dass die Arrian nicht erfreut sind, wenn sich eins ihrer Kinder als magisch begabt erweist."

Er zog den Lappen glatt. "Schweig jetzt. Ich habe zu tun." Seine Hand legte sich auf den blauen Fetzen.

"Ich habe die Leiche gefunden", maulte sie. "Jetzt will ich auch wissen, wie es weiter geht."

"Du kannst meinem Geist folgen", stimmte er nach kurzem Zögern zu.

Eine weiche Decke umhüllte sie und zog sie in einen dunklen Raum mit einem runden Fenster. Sie konnte den Tisch mit dem Lumpen sehen und eigenartigerweise am Rand des Fensters ihre eigene Schulter. Bevor sie sich aber noch wundern konnte, glitt das blaue Tuch näher, bis es das ganze Fenster ausfüllte. Der Schmutz verschwand, das Tuch glättete sich und da lag, nein hing ein Regenbogenkristall. Ihre Oberarme wurden von starken Händen schmerzhaft zusammen gepresst. Loretta fühlte sich sehr, sehr schwach. Nur hinlegen und schlafen. Warum zerrten sie sie durch die Gegend? Es war so dunkel und jetzt ging es auch noch hinaus auf den Hof. Schwere Tropfen fielen auf die Robe. Loretta fröstelte. Eine Tür quietschte in den Angeln. Dann ging es eine Treppe hinunter, immer rundherum. Ihr wurde schwindlig. Warum ließ man sie nicht schlafen? Sie musste doch morgen für den König wandern. Wieder knarrte eine Tür. Was sollte sie hier? Ihr Rücken schmerzte als sie gegen den Steinboden prallte. Sie schnappte nach Luft. Da wich der Druck von ihren Armen und zwei nahezu identische Gesichter erschienen vor ihr.

Aus vier weit auseinander stehenden, dunklen Augen loderte der blanke Hass. Die schmalen Lippen unter der flachen Nase waren zu einem grausamen Lächeln verzogen. Kurzes, braunes Haar umrahmte dreieckige Gesichter aus deren Stirnen seltsame Buckel ragten. Diese schrecklichen Augen! Sie stahlen ihr ....

Loretta holte röchelnd Luft und starrte ihren Vater entsetzt an. "Was war das? Wer war das? Was haben die gemacht?" Die Fragen kamen stoßweise und abgehackt.

Ein schweres Gewicht drückte gegen ihre Schulter. Das war Statira! Wie blass sie war! Da war auch Amyntha, die ihrer Schwertschwester einen Becher mit einer dampfenden, aromatisch duftenden Flüssigkeit reichte. Sie hatte sie nicht zurück kehren gehört.

"Der König ist kurz aus dem Koma erwacht", sagte die Bewahrerin. "Im Moment schläft er. Aber in einer Stunde kannst du nach ihm sehen. Ich habe einen magischen Zaun um sein Bett gezogen, der nur von einem Kowar oder einem Bewahrer gebrochen werden kann."

"Was ist ein Kowar?", fragte Loretta.

"Das ist der Name unseres Hauses", antwortete Amyntha.

"Aha, der Familienname", stellte das Mädchen fest. "In Amerika hieß ich Kowalski."

Volusian machte "Scht!" und nahm Amynthas Hand. Sekundenlang saßen beide still da. Dann nickte die Bewahrerin.

"Agis und Bhirgu? Dann waren sie mächtiger als wie dachten."

"Ich muss mich hinlegen", stöhnte Statira und schleppte sich in Richtung ihres Schlafraums.

"Heh!", rief Loretta. "Erklärt mir mal einer, was da gespielt wird? Erde an Volusian und Amyntha, bitte kommen!"

Volusian lächelte. "Agis und Bhirgu waren Zwillinge. Sie konnten sich von der Lebenskraft anderer Menschen, nähren. Einer allein richtete nicht viel Schaden an, nur eine vorübergehende Schwäche. Gemeinsam aber konnten sie töten. Niemand hätte ihnen soviel Macht zugetraut, dass sie einen Bewahrer überwältigen könnten. Obwohl man bei Mischlingen ja nie weiß, was in ihnen steckt." Er warf Loretta einen bezeichnenden Blick zu. "Sie wollten den König töten, weil sie ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter, einer Elatha, gaben. Sie verbanden ihre Seelen. Agis versteckte sich hinter einem Vorhang und Bhirgu konzentrierte ihre vereinigten Kräfte auf den König. Aber der Paladin erkannte die Absicht und zerfleischte Bhirgu."

"Was geschah dann mit Agis?", wollte Loretta wissen.

"Der König wollte ihn hinrichten lassen, obwohl er beteuerte, Bhirgu hätte ihn gezwungen mit zu machen. Wir hatten schon oft bemerkt, dass Bhirgu seinen Bruder dominierte. Ein Bewahrer prüfte ihn und fand, dass er die Wahrheit sprach. Schließlich begnadigte ihn Gobares. Zur Strafe wurde er aber tagsüber an das Brunnenrad gekettet um Wasser zu schöpfen. Nachts wurde er in einer kleinen Kammer eingesperrt. Er hat seine Strafe geduldig und ohne Murren ertragen. Raduald wollte ihn haben. Er behauptete die Arrianische Magie würde ihn so verändern, dass er dem Reich ein großer Nutzen werden könnte. Doch der König lehnte ab. Kurze Zeit nachdem die Mischlinge in dem Haus an der Mauer eingezogen waren, brach dort eines Nachts ein Feuer aus und Agis verbrannte in seiner Kammer. Wir fanden nur verkohlte Knochen."

Nachdenklich schürzte Loretta die Lippen. "Das war also eine Sackgasse." Der Gedanke gefiel ihr gar nicht. Irgendwie musste das doch in die Intrige passen. "Ich hab's!", rief Loretta und sprang auf. "Agis hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Das Feuer hat er natürlich selbst gelegt. Dann versteckte er sich und holte bei passender Gelegenheit den Kristall. So machen die Verbrecher das immer. Man findet eine verstümmelte Leiche mit dem Führerschein des Gauners und dabei sitzt der Kerl bereits in Südamerika und trinkt mit einer Horde Bikinimädchen Cocktails."

"Deine Theorie hört sich bestechend an", gab Volusian zu. "Sie hat nur einen Haken. Wie hat er die Bewahrer getäuscht? Das ist noch keinem gelungen."

"Oha!" Loretta ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. "Wenn sie zusammen einen Bewahrer töten konnten, könnte dann nicht einer allein einen Bewahrer täuschen?", verteidigte sie ihre Theorie.

Amyntha nickte bedächtig. "Ich kann mich erinnern, dass die Bewahrer die Zwillinge sehr aufmerksam beobachteten. Es gab ein Gerede um latente Fähigkeiten. Zangrulf hat mehrere Unterrichtsstunden diesem Thema gewidmet. Als Beispiele hat er auch Agis und Bhirgu genannt. Irgendwie muss Agis den Brand überlebt haben. Dann holte er sich den Kristall, forstete den Loqui-Hain auf und öffnete einen Durchgang für die Nynx."

"Die Nynx waren nur eine Ablenkung um die Elatha zu zerstreuen", setzte Volusian den Gedanken fort. "Der nächste Schritt war das Giftattentat. Er hat sich viel Zeit genommen für seine Rache. Wo kann er sich versteckt haben?"

"Rache ist süß, besonders, wenn sie kalt genossen wird. Natürlich hat er die Schwarzröcke verhext. Sie haben ihm bei der Sache geholfen", behauptete das Mädchen.

"Nein, nein, so einfach ist das nicht", bremste Volusian. "Die Magier sind nicht auf den Kopf gefallen. Sicher, sie wünschen mehr Einfluss auf die Krone, aber Raduald würde nie einen Mörder decken."

"Aber der Hinweis auf das Loch kam von Magiern", warf Amyntha ein.

"Das war Absicht!", rief Loretta.

"Er könnte sich eingeschlichen haben", überlegte Volusian. "Mit der Behauptung, er habe sich von den Elatha losgesagt. Mag sein, dass Raduald nun eine Chance sah, seine Theorie zu beweisen."

"Und wie passt der Tod eures Sohnes in das Ganze?", fragte Loretta.

"Das war ein Unfall", sagten Volusian und Amyntha gleichzeitig und sahen einander an. "War es ein Unfall?", setzten sie ihren Chor fort. "Ich glaube fast nicht." Der dritte Satz, den sie gemeinsam sagten.

Volusian schrie auf und griff sich an den Kopf. "Es war ....", keuchte er und sank vom Stuhl. Von Schmerzen gepeinigt wand er sich am Boden.

Amyntha kniete sich neben ihn und versuchte seinen sich hin und her drehenden Kopf zu fassen. "Hilf mir, Loretta!", rief sie. "Halte ihn fest!"

Loretta blickte auf die mächtigen Muskeln. Wie sollte sie das schaffen? Sie wartete ab, bis er sich auf den Rücken gedreht hatte, dann ließ sie sich rittlings auf seinen Brustkorb fallen. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen. Amyntha war sofort bei ihm und drückte ihm den Regenbogenkristall auf die Stirn. Das Juwel strahlte gleißend hell. Volusian bäumte sich noch einmal auf und lag dann still. Sein Gesicht war sehr blass und aus einem Mundwinkel lief ein dünner Blutfaden.

Zitternd erhob sich das Mädchen. "Hab ich ihn umgebracht?"

"Oh, nein! Dazu ist er zu zäh." Die Bewahrerin hatte ihre Handballen gegen seine Schläfen gedrückt und murmelte jetzt etwas.

Volusians Lider zuckten. Blut spritzte von seinem Mund als er hustete. Dann setzte er sich auf und wischte mit dem Handrücken über die Lippen. "Götter! Hast du spitze Sitzknochen, Loretta!", schimpfte er.

"Es tut mir Leid, Papa", piepste sie. "Hab ich dir die Rippen gebrochen?"

"Nein!", gab er grimmig zurück. "Ich hab mich in die Zunge gebissen." Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf und setzte sich wieder auf den Stuhl.

"Es war ein Bann", sagte Amyntha ungläubig den Kopf schüttelnd und reichte ihm ein Taschentuch. "Wie konnten sie nur die Bewahrer täuschen?!"

"Ja, um ihn zu brechen mussten wir drei Sätze hintereinander gemeinsam sagen. Diese Bastarde dachten, das würde nie geschehen. Sie wussten, wie eigensinnig du bist."

"Du meinst wohl, dass sie deine Sturheit kannten", gab Amyntha kämpferisch zurück

"Ach, streitet doch ein andermal weiter", fuhr Loretta dazwischen. "Was sollte denn da gebannt werden?"

Das Paar sah sie mit einer Mischung aus Entrüstung und Erstaunen an. Dann grinsten sie. Volusian atmete tief durch.

"Meine Erinnerung wurde manipuliert. An diesem Tag, als ich mit den Kindern allein zu Hause war ..... Die Jungs spielten in ihrem Zimmer und ich habe gewebt. Es war so still. Deshalb wollte ich nachsehen, ob alles in Ordnung war. Da waren Agis und Bhrigu. Sie saugten Onesion das Leben aus." Zu Loretta gewandt sagte er: "Wechsler haben schon in jungen Jahren eine besondere Art von Energie. - Lyncester und Drioton lagen reglos am Boden. Ich wollte mich auf die Zwillinge stürzen. Da saugten sie auch von meiner Kraft. Einmal geschwächt, war es für sie ein Leichtes, mir eine falsche Erinnerung einzupflanzen und mit einem Bann zu besiegeln. Sie ließen Onesions Tod wie einen Unfall aussehen, um nicht in Verdacht zugeraten." Volusian ließ den Kopf auf seine gekreuzten Arme sinken. "Unser ganzer Streit war nichtig", klang es dumpf hervor.

Eine liebevolle Hand legte sich auf seinen Kopf und zupfte an seinem Ohr. "Es ist gut, dass die Wahrheit jetzt ans Licht gekommen ist."

Volusian richtete sich zu voller Größe auf und Amyntha mit ihm. Er straffte seinen Körper, strich seine Tunika glatt. "Ich werden jetzt nach dem König sehen." Mit langen Schritten verließ er den Raum.

"Ohne euren Streit gäbe es mich gar nicht", sagte Loretta als er gegangen war.

"Ja, das ist richtig", stimmte sie zu. "Nun können wir aber die Vergangenheit nicht ändern." Ihr Blick ging tief in die Vergangenheit. "Bei unserer Hochzeit wurden uns vier Kinder prophezeit, drei Söhne und eine Tochter. Durch unseren Streit gab es ... äh, keine Gelegenheit, eine Tochter zu haben. Statt dessen haben wir einen Sohn verloren. Vielleicht hat Volusian die Prophezeiung doch erfüllt, denn er hat neben dir noch einen Sohn."



Fortsetzung folgt...


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