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DER UNSICHTBARE MANN

von Susanne Stahr



Troyan stand neben dem wuchtigen Karren und überwachte das Verladen der Güter. Fein gesponnene Wolle und Käse von den Schafen, Gemüse, einige Flaschen Kräuterwein, irdene Töpfe mit Berghonig, aus Eschenholz geschnitzte Löffel und Gabeln, Speckseiten, Schinken und noch einiges mehr, das der Kristallsänger-Hof produzierte. Sein Sack mit den Steinen lag griffbereit zu seinen Füßen. In den letzten Tagen hatte er einige schöne Kristalle gefunden, die ihn auf einen guten Preis hoffen ließen.

Ein Windstoß ließ die Fransen seiner Lederbekleidung flattern. Troyan hob den Kopf und sah prüfend den ziehenden Wolken am Himmel nach. Brachte der Wind Regen? Tief sog er die frische Bergluft ein. Bergginster und Johanniskraut konnte er riechen, aber kein Unwetter. Sie würden trocken nach Loth-Kelling, dem Marktflecken im Tal, kommen.

Seine Frau Daria trat auf ihn zu. Obwohl sie nur wenig jünger war als er glänzte ihr Haar noch immer tiefschwarz, im Gegensatz zu seinem, in das sich bereits eine Menge weißer Fäden mischte. Ihre Figur war durch die zwei Geburten breiter geworden, doch das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Er liebte sie noch immer wie am ersten Tag. Ein Blick in ihre Augen ließ ihn den Wunsch nach einer Umarmung daraus lesen. Doch wie immer hielt ihn eine unsichtbare Hand zurück. Eine schwere Last drückte auf seinen Nacken und die Schultern und schob sich zwischen ihn und Daria. Gleichzeitig krallte sich eine unerklärliche Angst in seine Seele, die ihm fast den Atem nahm.

"Ich bin morgen Abend wieder da", sagte er statt dessen und fühlte dabei einen Stich in seinem Inneren. Es wäre doch so einfach, sie an sich zu drücken. Warum konnte er das nicht? Selbst wenn sie nachts in seinen Armen lag war immer noch eine unsichtbare Wand zwischen ihm und ihr. Er fühlte ihren Schmerz und litt mit ihr, konnte die Barriere aber nicht überwinden. Nur die Hunde durften ihr Fell an seinen Beinen reiben und eine Nähe genießen, die seiner Familie verwehrt war.

"Ich habe Essad eine Liste gegeben", meinte sie ruhig. "Diesmal sind es ein wenig mehr Sachen, die wir brauchen."

"Ja, ich weiß", nickte er. "Kesha braucht ein neues Kleid für ihre Verlobung. Du wirst alles bekommen." Seine ältere Tochter war Essad, dem zweiten Sohn seines Nachbarn Lain versprochen. An ihrem 13. Geburtstag wurde dieses Versprechen durch eine offizielle Verlobung besiegelt. Die Hochzeit würde in drei Jahren stattfinden. Der Tradition gemäß war Essad vor kurzem auf den Kristallsänger-Hof übersiedelt. Bis zur Hochzeit würde er sich gut einleben. Sanft strich Troyan über Darias Arm und sie lächelte. Dann wandte er sich ab und griff in den Zaum des struppigen Zugpferds. Wenn sie kräftig ausschritten, konnten sie Loth-Kelling in zwei Stunden erreichen.



Die Sonne brannte heiß auf den Marktplatz von Loth-Kelling herab. Es war wie ein letztes Aufbäumen vor dem nahenden Herbst. Troyan verjagte eine Fliege von dem letzten Honigtopf. Er saß allein hinter seinem Verkaufstisch, denn Essad war mit den Einkaufslisten unterwegs. Bis jetzt war das Geschäft gut gegangen. Schon am Morgen hatten Weber die ganze Wolle gekauft. Auch die Kisten mit den Bohnen und Karotten waren schon leer, wodurch endlich Platz für Troyans Kristalle entstand. Die meisten waren einfache Schmucksteine. Nur vier, die er in einem besonderen Kästchen aufbewahrte, waren Seelensteine. Von Magiern und Heilern begehrt, wurden sie für die verschiedensten Zwecke verwendet. Manche eigneten sich zur Heilung, manche zum Schutz, andere wieder verstärkten Zaubersprüche.

In Gedanken wanderte er zurück in seine Kindheit, zu seinem Großvater, einem Steinmagier. Er war der Vater seiner Mutter gewesen. Steinmagier hatten selten Söhne. Der Alte hatte ihn oft auf seinen Streifzügen durch die Berge mitgenommen. Von ihm hatte er die Sprache der Felsen, Pflanzen und der Erde gelernt, die von den Fundorten der Kristalle erzählten. Selbst das Besingen von Steinen hatte ihn sein Großvater gelehrt, auch wenn er es nur selten angewandt hatte.

"Alle Steine haben eine Seele", hörte er noch immer die sonore Stimme in seinen Ohren. "Die meisten haben eine kleine, nur wenige eine mächtige, das sind die Seelensteine."

Wie groß war damals seine Aufregung als er seinen ersten Seelenstein fand, einen kinderfaustgroßen Amethyst! Damals hatte er gehofft, auch eines Tages ein Steinmagier zu werden. Doch dann starb sein Großvater und Troyan musste die Schafe hüten. Das hinderte ihn zwar nicht, die Gesänge weiterhin zu üben. Doch zum Steinsuchen blieb nur noch wenig Zeit. Erst nach seiner Hochzeit mit Daria konnte er sich wieder den Kristallen widmen.

Ein eiskalter Finger schien sich auf Troyans Stirn zu legen. Alarmiert sah er sich um. Wer wendete hier so ungeniert Magie an?

"Was willst du für den Honig, Leoti?", fragte eine große blonde Frau deren bauschiger Rock aus blauem Tuch ihre breiten Hüften noch betonte. "Ich gebe dir zwei Kupferstücke dafür."

Troyan musterte sie kühl. Sie war bestimmt nicht magisch begabt. "Das ist bester Berghonig", wandte er ein. "Du bekommst ihn nicht unter zwei Silberstücken." Was konnte schon eine Warroadi von Berghonig verstehen? Vor mehr als hundert Jahren waren die Warronen übers Meer gekommen und hatten die Leotan mit ihrer großen Zahl und ihrer überlegenen Magie in die Berge getrieben. Seither herrschten sie über Leotanien, wenn auch mehr über die sesshaften Nahooni als deren wandernde Brüder, die Tayahi.

"Pffft!", stieß die Matrone aus. Troyan schätzte, dass sie ihn mindestens um Haupteslänge überragte. Deshalb war er sitzen geblieben. Er gönnte ihr nicht die Genugtuung, auf ihn hinunter zu sehen. "Ein Silberstück", gab sie ein wenig nach.

"Vielleicht findest du einen anderen Händler, der dir billigeren Honig verkauft", schlug er gleichmütig vor. "Die gleiche Qualität bekommst du aber nicht."

Die blauen Augen der Frau blitzten zornig auf. Dann legte sie ein Silberstück und drei Kupferstücke auf den Tisch. "Das ist mein letztes Angebot."

Im Schatten der Bude eines Tuchhändlers stand ein junger Mann im braunen, kragenlosen Kasack und weiten, dunklen Hosen und sah zu Troyan herüber. Wieder tastete ein kalter Finger nach seinem Geist. Das musste der Magier sein! Ein mageres Bürschchen mit langem, braunem Haar, grünbraun gesprenkelten Augen und einer halbmondförmigen Narbe über dem rechten Auge. Mit einer fließenden Bewegung strich Troyan das Geld ein und die Frau stolzierte mit dem Honig davon. Entspannt lehnte er sich zurück und ließ den Blick unter halb geschlossenen Lidern umherschweifen. Was wollte der junge Magier von ihm? Suchte er vielleicht einen Seelenstein? Das konnte ein gutes Geschäft werden. Viel Erfahrung konnte der Jüngling noch nicht haben.

"Was willst du für das da?", fragte eine helle Stimme, die kaum dem Knabenalter entwachsen war. Der Magier stand vor seinem Tisch und drehte nervös einen geschnitzten Löffel zwischen den schlanken Fingern.

"Zusammen mit der Gabel fünf Silberstücke. Sie bilden ein Set", antwortete Troyan wachsam und musterte die schmächtige Gestalt. Enttäuscht stellte er fest, dass der junge Mann seinen Kasack mit einem glatten schwarzen Ledergürtel ohne die übliche Clanzeichen zusammenhielt. Warum verschwieg er seine Herkunft? Normalerweise war jeder Warroad stolz auf seinen Clan. Nur Ausgestoßene trugen glatte Gürtel.

Die fast weibisch schmale Hand stützte sich wie zufällig auf den Tisch, knapp neben das Kästchen mit den Seelensteinen. "Du willst viel Geld für so ein Spielzeug", erwiderte der junge Mann während sein Blick unentwegt hin und her flog.

"Nicht mehr als es wert ist", konterte Troyan. Verstohlen gab er Essad, der gerade mit einer Ladung Pakete zurückkam, ein Zeichen und sein zukünftiger Schwiegersohn stellte sich mit verschränkten Armen neben den Magier. Obwohl er um mehr als einen Kopf kleiner als dieser war, wirkte er doch wesentlich kräftiger, was die Muskelpakete an seinen Armen und unter seiner ärmellosen Schafwollbluse ahnen ließen.

Mit einem Seitenblick auf den jungen Leoti legte der Magier die Schnitzerei wieder auf den Tisch. "Das ist mir wohl zu teuer", murmelte er und schien erst jetzt die Seelensteine zu bemerken. "Sind das Seelensteine?" Als er Troyans Nicken sah, fügte er hinzu: "Ich bin Karam."

Beim Handel um Seelensteine war es üblich, dass Käufer und Verkäufer ihren Namen und ihre Herkunft offenbarten.

"Ich bin Troyan, der Steinsucher, dritter Sohn des Sirpal, vom Stamm der Nahooni-Leotan", tat Troyan der Tradition genüge.

Nun hätte auch Karam seine Familie und seinen Clan preisgeben müssen. Statt dessen griff er nach einem ovalen Rosenquarz, dem stärksten Seelenstein, den Troyan derzeit besaß. "Ein guter Stein", meinte er und legte lauschend den Kopf schief.

"Für ein Goldstück gehört er dir, Karam ohne Clan." Der Steinsucher ärgerte sich über die Geheimnistuerei des Jünglings.

"Ein guter Preis, unsichtbarer Mann", stimmte dieser scheinbar unberührt von der Rüge zu und legte das Geforderte auf den Tisch. Nur ein schmerzliches Zucken seiner Züge zeigte, dass Troyans Worte ihn verletzt hatten. Dann verbeugte er sich und tauchte blitzschnell in der Menge unter. Auch der Steinsucher hatte einen Stich verspürt. Wie oft hatte er darunter gelitten einfach übersehen zu werden! "Du machst dich ja unsichtbar!", wurde ihm dann gesagt, wenn er sich beschwerte.

Troyan hatte wenig Zeit sich über Karam Gedanken zu machen, denn sein Stand wurde geradezu von Interessenten belagert. Essad musste einen Teil der Geschäfte übernehmen und Troyan war mit seinen Erfolgen recht zufrieden. Ihr Tisch leerte sich zusehends. Als das Horn des Marktaufsehers das Ende der Geschäfte anzeigte, waren nur noch die Seelensteine da.

Zufrieden packten die beiden ihre Sachen zusammen. Kimon, Troyans ältester Bruder und Leiter des Kristallsänger-Hofes, würde sich freuen. Behutsam hob er das Kästchen mit den Seelensteinen hoch. Sie würden ihre Käufer finden, wenn es an der Zeit war. Sein Blick glitt über die Kristalle. Ein Amethyst, ein Karneol, ein Bergkristall und .... er stutzte. Den Rosenquarz hatte er doch an den clanlosen Magier verkauft! Leise summend legte er einen Finger auf den rosa Stein in der Schatulle. Im nächsten Moment keuchte er erschrocken und riss seine Hand zurück. Ein Schauer geballter Magie, wie er sie noch nie gefühlt hatte, war über ihn hereingebrochen. Das war nicht sein Stein! Nachdenklich rieb er seinen Finger am Hosenboden, doch das Prickeln wollte nicht aufhören. Was sollte das bedeuten? Karam hatte ihm für den Rosenquarz einen wesentlich mächtigeren Stein dagelassen und bezahlt hatte er auch. Schnell klappte er das Kästchen zu und steckte es in seine Schärpe. Dann holte er den prallen Geldbeutel unter dem Hemd hervor und suchte alle Goldstücke heraus. Es waren nur sechs. Fünf von ihnen zeigten das hässliche Profil Kreons, des Großfürsten der Warronen. Das sechste war dicker, schwerer und seine Prägung bestand aus einem verschlungenen Symbol, das er noch nie gesehen hatte.

"Wer hat dir denn das gegeben?" Essad war mit dem Anspannen fertig und beugte sich jetzt neugierig über Troyans Schulter.

Der Steinsucher wich ein wenig zurück. Wieder war da dieser Druck auf seinen Schultern, der ihn von allen Menschen, auch denen, die er liebte, entfernte. Und auch der Schmerz kam prompt als Essads Mundwinkel gekränkt herabsanken. "Ich weiß es nicht. Vielleicht der junge Mann, der den Seelenstein gekauft hat." Er ließ die Münze zu den anderen fallen und verknotete die Bänder des Beutels sorgfältig.

"Wir hätten eine Frage an dich", ertönte eine leise und dennoch durchdringende Stimme.

Die beiden Männer fuhren erschrocken auf. Sie hatten das Nahen der beiden hochgewachsenen Gestalten im dunkelgrauen Habit der Uroad-Mönche nicht gehört. Instinktiv rief Troyans Geist nach seinem Großvater und der mächtige Schutzgeist errichtete einen starken Schild um seinen Enkel. "Was könnten wir wissen, was so mächtige Magier wie ihr nicht wisst?", antwortete er ruhig. Der Steinsucher fand es immer wieder bemerkenswert, wie sehr sich die Magier und Heiler aus dem Kloster Cob-Leskill glichen. Die asketischen Gesichter, die schmalen Gestalten in den grauen Kutten, selbst ihre Stimmen klangen ähnlich.

Die fast farblosen Augen des Mönchs forschten in Troyans hellbraunem Gesicht und wanderten dann verwirrt zu seinem Ordensbruder. "Einer unserer Schützlinge scheint sich verirrt zu haben und wir machen uns große Sorgen um ihn. Hast du ihn gesehen, unsichtbarer Mann?" Dann beschrieb er Karam in allen Einzelheiten. "Der arme Junge leidet an geistigen Wahnvorstellungen und bedarf dringend seiner Medizin."

Der Mönch war nun schon der zweite an diesem Tag, der Troyan 'unsichtbarer Mann' nannte. Irritiert schob er diesen Gedanken beiseite. Was hatte er gesagt? Wahnvorstellungen? So hatte der Junge aber gar nicht ausgesehen. "Ich habe so einen jungen Mann gesehen", antwortete Troyan zögernd. "Er wollte einen Löffel kaufen. Doch er war ihm zu teuer und er ging wieder. Vielleicht war es euer Patient."

"Ich hoffe, daß du die Wahrheit gesprochen hast." Der Blick der kalten, farblosen Augen bohrte sich in Troyans schwarze. "Er kann gefährlich werden, wenn er seine Medizin nicht bekommt." Sekunden später waren die beiden Magier mit der Dämmerung verschmolzen.

"Warum hast du ihn belogen?", fragte Essad irritiert. "Die Uroad-Mönche sind die besten Heiler der Welt."

"Ich habe nicht gelogen", brummte Troyan unwirsch. "Im Gegensatz zu den Mönchen. Der Junge sah gar nicht krank aus. Er hatte nur Angst. - Komm jetzt endlich!" Der Steinsucher war bereits auf den Wagen gestiegen und nahm jetzt die Zügel auf.

Nun beeilte sich auch Essad auf den Karren zu kommen. "Warum sollte er sich vor den Heilern fürchten?", zweifelte er und griff nach der Seitenplanke als das Pferd mit einem Ruck anzog. Ein Schnalzen mit der Zunge ließ es in Trab fallen. Der Wind hatte sich gelegt und die Sonne berührte bereits die westlichen Ausläufer der Urosch-Berge. Keine Wolke trübte die Farbenpracht des Sonnenuntergangs. Troyan liebte dieses Spiel von Orange- und Rottönen, die sich im Zenit in Violett verwandelten. Die Luft war kühler geworden und brachte den Duft von Weiden und Sumpfgras. Der Kanooga war nicht weit. Er entsprang eine Meile hinter dem Kristallsänger-Hof, fiel über Felsen und Vorsprünge ins Tal, durchquerte Loth-Kelling und floss bei Ren-Selaer in den Froben. Dieser mächtige Strom wand sich in Mäandern durch die Hurlonische Steppe und ergoss sich bei Mil-Etan ins Meer der Winde. Im Geist war Troyan dem Wasser gefolgt, doch jetzt brachte ihn ein heftiger Donnerschlag wieder zurück. Über den Baumwipfel der Urosch-Berge zuckten einige Blitze.

"Soll ich die Plane über die Sachen legen?", fragte Essad. "Wenn ein Wetter kommt ...."

"Es sieht nicht nach Gewitter aus", überlegte Troyan. "Sieh! Keine einzige Wolke am Himmel."

"Aber dort ....!" Der junge Mann streckte den Arm aus.

Sie hatten den Marktflecken längst verlassen und das Pferd war, bedingt durch die zunehmende Steigung, in einen raumgreifenden Schritt gefallen. Einige Sterne waren am dunkler werdenden Himmel bereits erschienen. Als Troyans Blick Essads Hand folgte, sah er wieder einige Blitze und dann erhob sich eine graue Wolke über den Bäumen rechts von der Straße.

"Das ist Rauch", stellte er fest und zog am Zügel. Gehorsam blieb der Gaul stehen. "Du bleibst beim Wagen während ich nachsehe", bestimmte er und drückte seinem zukünftigen Schwiegersohn ein kurzes Schwert mit gebogener Obsidianklinge in die Hand.

Sprachlos vor Staunen klappte der Junge den Mund auf und zu. "Aber die Warronen ...", brachte er endlich hervor.

"Ja, ja! Leotan dürfen keine Waffen tragen, sagen sie. Jetzt mach dir nicht in die Hosen, Essad! Vielleicht sind dort gorganische Räuber. Willst du kampflos sterben?"

Die Gorgotan waren Erbfeinde der Leotan. Früher waren Überfälle der wilden Bergkrieger an der Tagesordnung. Doch seit die Warronen über Leotanien herrschten wurden sie geringer. Kreon versuchte auch Gorgota zu unterwerfen. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, denn die Gorgotan waren ihm in den wilden Klüften der Uroschberge haushoch überlegen. Nachdem sie in einem kühnen Handstreich Kreons jüngsten Sohn Maranka entführten und mit seiner Ermordung drohten, gab der Großfürst auf. Seither herrschte Waffenstillstand. Das Misstrauen der Leotan lebte jedoch weiter.

Troyan wurde langsam ungeduldig. "Du kannst doch damit umgehen?!", fragte er stirnrunzelnd. Als Essad zähneklappernd nickte verschwand er lautlos wie eine Ginsterkatze zwischen den Büschen, die den Weg säumten. Schon nach einem Dutzend Schritten lichtete sich das Gehölz und gab den Blick auf eine kleine Lichtung frei. Feiner Brandgeruch lag in der Luft, vermischt mit etwas, das Troyan nicht identifizieren konnte. Weder Mensch noch Tier war zu sehen, nur an einigen Stellen war das Gras verbrannt und dünne Rauchfäden stiegen von den schwarzen Wundmalen in der Wiese auf.

Troyans schwarze Augen erfassten flink das leicht abfallende Gelände. Mit schräg gelegtem Kopf angestrengt lauschend trat er vorsichtig unter den Bäumen hervor. Der erste Brandfleck war fast kreisrund. Der Steinsucher zog sein buntes Halstuch über Mund und Nase. Hier stank es nach verschmortem Fleisch. Was hatte das zu bedeuten? Als er näher ging, stieß sein Fuß gegen etwas Weiches. Automatisch hob er das Ding auf. Im Licht des aufgehenden Halbmondes erkannte er einen grauen Lederhandschuh, in den eine Hand mit einem Auge eingeprägt war. Das Zeichen der Mönche von Cob-Leskill! Was hatte das zu bedeuten? Troyan drehte den Handschuh um und riss entsetzt die Augen auf. Ein blutiger Finger war herausgefallen. Angeekelt schleuderte er den Handschuh in die Büsche und schüttelte sich. Jetzt griff die Angst mit eisiger Faust nach ihm. Es war diesmal nicht das Unerklärliche, das ihn von seinen Lieben trennte. Diese Furcht hatte eine reale Grundlage. Hier war ein Heiler auf schreckliche Art gestorben. Sein Magen zog sich zu einem harten Knoten zusammen und seine Nackenhaare richteten sich steil auf. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Karam kam ihm in den Sinn. Sollte die Diagnose der Mönche doch richtig sein? Ein verrückter Magier konnte unsägliches Leid verursachen.

Mit zitternden Knien ging er zu dem nächsten Brandfleck. Er war von länglicher Form und an einem Ende lag ein halber Stiefel, am anderen ein Stück rötlich glitzerndes Tuch. Als Troyan den Fetzen hochhob, sah er, dass er breit wie sein Unterarm war und zwei Armlängen lang. Ein Ende war unregelmäßig abgebrannt. Er erkannte sofort, was er hier in Händen hielt. Dieses Stück golddurchwirkter Seide war der Rest eines Turbans wie ihn nur die Bly-Magier aus der Felsenburg Tillamok trugen. Auch sie befassten sich mit Heilung, wozu sie vorzugsweise das Wasser des Tilling verwendeten, der im Hof der Felsenburg entsprang. Im Gegensatz zu den Uroad-Mönchen war aber ihr Leben keineswegs von Askese geprägt. Beide magische Richtungen waren erfolgreich und obwohl jede die andere verächtlich von oben her betrachtete, hatte es nach Troyans Wissensstand nie Kämpfe zwischen Bly und Uroad gegeben. Ihre Differenzen äußersten sich höchstens in verbalen Attacken. In besonders schwierigen Fällen hatten sie sogar schon zusammengearbeitet. Was wollten die Bly hier? Ihre Burg lag zwanzig Tagesreisen östlich von hier, jenseits des mächtigen Froben. Die Anwesenheit der Uroad war schon eher verständlich, lag doch ihr Kloster nur zwei Tagesreisen südlich von hier in den Bergen.

Während er von Brandfleck zu Brandfleck ging, zwang er sich zur Ruhe und überlegte. Was war hier geschehen? Konnte es sein, dass die Uroad die Bly zu Hilfe gerufen hatten? Ein heißer Schreck durchfuhr ihn. Der Verrückte konnte leicht noch hier sein. Im Laufschritt kehrte er zu Essad zurück und sprang auf den Karren. "Mach schnell, Junge!", kommandierte er und trieb das Pferd an.

Aufatmend schwang sich Essad auf den Wagen und fragte neugierig: "Was hast du gesehen?"

"Sieben tote Magier, oder besser gesagt, deren Überreste." Mit geübtem Schwung steckte er das Schwert in ein geheimes Fach zwischen den Brettern der Karre. Das Pferd trabte keuchend den Berg hinauf und Troyan nahm sich vor, ihm zu Hause eine Extraportion Karotten zu geben.

"Keine Gorgotan?", brach Essad in seine Gedanken. "Es war alles still."

"Sicher nicht", gab Troyan trocken zurück. "Ich hätte sonst sieben tote Räuber gefunden." Verbissen starrte er auf den mondbeschienenen Weg. Es war nicht mehr weit. Als die runden Dächer des Kristallsänger-Hofs sich gegen den jetzt dunkelblauen Himmel abhoben, beschleunigte das Pferd noch ein wenig. Troyan sehnte sich nach der Geborgenheit der dicken Holzwände seines Hauses. Noch immer hing der Gestank verbranntes Fleisches in seiner Nase und die Hand, die die Zügel hielt, zitterte leicht. Beide Männer stießen fast gleichzeitig einen erleichterten Seufzer aus als das Pferd neben dem Haupthaus anhielt.



Wie alle Höfe der Leotan scharten sich kleinere Wohnhäuser und Nebengebäude kreisförmig um das Haupthaus. Troyan sprang vom Karren und schob das Kästchen mit den Seelensteinen unter sein Lederhemd. Mit der freien Hand tätschelte er die Hunde, die ihn schwanzwedelnd begrüßten.

"Fey und Bisin sollen dir beim Abladen helfen", wies er Essad an.

Am Brunnen vor dem Haupthaus striegelte Fey einen feurigen Rappen. Es war also ein Fremder auf dem Hof. Als Troyan das Wappen auf der Satteldecke sah, die der Knecht über den Brunnenrand gebreitet hatte, stutzte er. Drei Blitze in einem Kreis, das Zeichen der Bly-Magier! Unwillkürlich schnupperte er. Aber er roch nur Pferdeschweiß und Leder. Bisin kam ihm entgegen und grüßte respektvoll. "Kimon erwartet dich", sagte er. "Und einen Gast haben wir auch."

Troyan nickte. "Ich habe noch etwas zu erledigen. Dann komme ich zu Kimon." Schnell ging er am Haupthaus vorbei auf die Medizinhütte zu. Sie war im Gegensatz zu den achteckigen Wohnhäusern und den viereckigen Stallungen kreisrund angelegt. In der Mitte wuchs eine mächtige Segovia, der heilige Baum. An den Ästen hingen die Medizinbeutel jedes einzelnen Bewohners des Gutes. Achtundzwanzig waren es derzeit.

Der Steinsucher trat ehrfurchtsvoll vor den Baum und sprach ein Dankgebet. Der samtig-warme Duft der Segovia hüllte ihn ein und beruhigte seine gereizten Nerven. Ruhe und Gelassenheit breitete sich in seinem Inneren aus. Bedächtig nahm er den Stein, den Karam zurückgelassen hatte, aus dem Kästchen und riss die Augen auf. Der Stein hatte sich verändert, sowohl in der Form als auch in der Farbe. Aus einem ovalen Rosenquarz war ein kugelrunder Larimar geworden. Troyan bat noch einmal die Segovia um Schutz und legte ihn in seinen Medizinbeutel. Dann tat er noch das fremdartige Goldstück dazu, legte seine Hände gegen den rauhen Stamm und bat die Segovia um Schutz. Beruhigt verließ er die Hütte.

Er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zum Haupthaus zurückgelegt, da liefen seine Töchter auf ihn zu. Die sechsjährige Samira war kaum langsamer als ihre ältere Schwester. Schon pressten sich zwei kleine Köpfe mit seidigem, schwarzem Haar gegen seinen Körper. Kleine, kräftige Finger griffen nach seinem Hemd. Zwei konträre Empfindungen kämpften in seinem Inneren. Die Liebe zu seinen Kindern und panische Angst vor ihrer Nähe. Ein ganzes Haus schien auf seinen Schultern zu lasten.

"Es wird ein wunderschönes Kleid!", platzte Kesha heraus.

"Essad hat den Stoff ausgesucht", lächelte Troyan und schob die beiden sanft von sich. "Geht zu eurer Mutter. Ich komme bald nach." Ein scharfer Stich in seinem Inneren nahm ihm kurz den Atem. Warum hatte er ihre Umarmungen nicht erwidert? Seufzend rieb er seinen Nacken. Jetzt, wo seine Töchter wieder im Haus verschwanden, ließ der Druck langsam nach.

Im Haupthaus empfing ihn Stimmengewirr und der Geruch der Talglichter vermischt mit Kräuterteearoma. Eikan, Kimons Frau, stellte einen Becher heißen Tees vor Troyan sobald er Platz genommen hatte und zog sich wieder zurück. Um den wuchtigen Eichentisch saßen Kimon und Mahan, Troyans Brüder, und die erwachsenen Söhne Kimons, Yori und Nabis. Und am Gästeplatz thronte ein Fremder. Seine massige Gestalt war in schwere dunkelblaue Seide gehüllt. Wenn er beim Sprechen die Hände bewegte, glitzerten seine breiten Goldringe und juwelenbesetzten Armspangen. Sein Clangürtel wies ihn als einen Ro-Alline aus. In dem feisten Gesicht, das er dem Neuankömmling zuwandte, waren die Spuren übermäßigen Wohllebens unschwer zu erkennen. Auch der sorgfältig gestutzte Vollbart und der kunstvoll drapierte Turban konnten daran nichts ändern. Forschend musterten kalte graue Augen unter dünnen Brauen den Steinsucher.

Kimon wandte sich dem Fremden mit einem verbindlichen Lächeln zu. "Meister Lusander, das ist mein jüngster Bruder Troyan, der Steinsucher." Seine Augen blitzten dabei verschmitzt. "Der hohe Magier sucht seinen Sohn, Bruder."

Troyan versteckte sein Lächeln hinter einem höflichen Neigen des Kopfes. Kimon hatte es wieder einmal geschafft, einen Warroad herabzusetzen, indem er ihn einem Leoti zuerst vorstellte statt umgekehrt.

Verärgert runzelte der Bly-Magier die Stirn. "Ich habe gehört, dass du am Markt warst, Steinsucher", begann er. "Hast du einen jungen Mann gesehen? Etwa 18 Jahre alt, mittelgroß, schlank, einfach gekleidet ...?"

"Ich habe viele solche Männer gesehen", antwortete Troyan ruhig. "Allein hier auf dem Hof haben wir fünf von dieser Sorte." Er stellte sich absichtlich dumm, obwohl er genau wusste, dass Lusander einen Warroad meinte. Das Wort 'mittelgroß' hatte ihn geärgert, denn ein mittelgroßer Warroad war immer noch ein wenig größer als ein großer Leoti.

Das Gesicht des Bly-Magiers verfinsterte sich. "Mein Sohn ist sechs Fuß groß, hat langes, braunes Haar, grüne Augen und eine Narbe über der rechten Braue. Erinnerst du dich an ihn? Ich war mit ihm auf dem Markt, habe ihn aber im Gedränge verloren."

"Hm." Troyan tat so als dächte er nach. Lusander hatte Karam sehr genau beschrieben, doch der Steinsucher wollte Zeit zum Nachdenken gewinnen. "Da war ein junger Mann, der sich für einen Löffel interessierte", meinte er nachdenklich und musterte Lusanders Gürtel. Karam sollte der Sohn dieses Mannes sein und zugleich der Patient der Uroad-Mönche? Da stimmte doch etwas nicht. "Wenn ich mich recht erinnere, trug sein Gürtel aber die Zeichen des Ro-Leosa-Clans."

"Dann kann er es nicht gewesen sein. Denk nach! Mein Sohn war da. Du musst ihn gesehen haben", drängte der Magier.

"Warum machst du dir Sorgen um ihn?", fragte Kimon unschuldig. "Ein 18jähriger wird doch wieder nach Hause finden. Und warum suchst du ihn bei uns? Die Felsenburg der Bly liegt doch in entgegengesetzter Richtung."

Nun rutschte der Bly unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. "Der Junge ist in letzter Zeit etwas verwirrt. Andere Händler glaubten ihn auf der Straße zu eurem Hof gesehen zu haben."

"Ach so!", rief Troyan aus. "Das meinst du! Nein, einen Schwachsinnigen habe ich nicht gesehen, ganz sicher nicht."

"Seine Krankheit tritt nur in Etappen auf", beeilte sich Lusander zu erklären. "Zwischen den Anfällen wirkt er normal."

Bedauernd schüttelte der Steinsucher den Kopf. Das Gefühl, dass an Lusanders Geschichte etwas faul war, wurde immer stärker in ihm. Mochten die Götter wissen, was die Warroad mit dem Jungen vorhatten. Er würde ihn nicht ans Messer liefern, ganz gleich ob Karam nun gefährlich war oder nicht. Wenn die Warroad ein Problem hatte, ließen sie die Leotan eher in Frieden. Er wäre dumm, seinen Feinden zu helfen. Lusanders gefletschte Zähne zeigten an, dass der Magier die Lüge erkannt hatte. Im Moment konnte er nichts tun, da er unter Gastrecht stand. Aber Troyan würde in nächster Zeit nur mit größter Vorsicht den Hof verlassen können.

"Es tut uns Leid, dass wir dir nicht weiterhelfen können", meinte nun auch Kimon, wobei seine Miene eher Schadenfreude als Bedauern zeigte. "Die Frauen haben ein Nachtlager für dich bereitet. Gestatte, dass mein Sohn Yori dich führt."

Zögernd folgte der Bly dem jungen Mann. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, wandte sich Kimon an seinen jüngeren Bruder. "Spuck's aus, Troyan!", befahl er schroff. "Was ist passiert?"

Mit leiser Stimme berichtete der Steinsucher zuerst von dem Massaker auf der Bergwiese. Die ihn umgebenden Gesichter wurden immer ernster. Dann erzählte er auch von Karam, und dass der Junge von beiden magischen Zirkeln gesucht wurde. Nur von dem mächtigen Stein sagte er nichts. Ein diffuses Gefühl hielt ihn zurück. "Mir kam der Junge nicht krank vor", schloss er seinen Bericht. "Doch wenn ich an die verbrannten Magier denke, bin ich mir nicht mehr sicher. Nur eins ist sicher: Der Bly hat gelogen, denn Karam ist ganz sicher nicht sein Sohn."

"Vielleicht ist er von der Krötenfrau besessen", vermutete Mahan. "Und die Magier, Bly wie Uroad, wollen ihn töten." Damit deutete er das schrecklichste Schicksal an, das einen Magier ereilen konnte. Die Leotan glaubten, dass Zauberer, die verbotene Rituale zelebrierten, von der Krötenfrau heimgesucht wurden. Wahnsinn und ein furchtbarer Tod unter grässlichen Schmerzen erwarteten den Unglücklichen.

Troyan wusste nicht so recht, was er glauben sollte. Karam hatte ängstlich gewirkt, aber nicht verrückt. Andererseits hatte er noch nie einen Besessenen erlebt. Keiner von ihnen hatte das. Es war eine Legende. Er konnte sich aber auch irren. Schließlich war er kein Magier und schon gar nicht ein Heiler. Zusammen mit seiner Abrechnung übergab er Kimon den Erlös für die Waren und begab sich zu seiner Familie. Es war ein arbeitsreicher Tag gewesen und er war froh, ins Bett zu kommen. Kurz vor dem Morgengrauen schlug einer der Hunde kurz an. Doch als Troyan die verhaltenen Stimmen der Knechte hörte, drehte er sich um und schlief weiter.



Hühnergegacker, das Blöken der Schafe und dazwischen die Stimmen der Knechte und Mägde gaben den Auftakt zu einem neuen Tag. Troyan half in der frischen Morgenluft die Mutterschafe mit ihren Lämmern auszusondern. Sie würden nach dem Melken wieder zur Herde stoßen. Die Gänse liefen vor Kimons kleiner Tochter schnatternd zu dem kleinen Tümpel, an dem sie den Tag verbrachten. Keine Wolke stand am Himmel. Jetzt war es noch kühl, doch der Tag würde wieder heiß werden.

Lusander stand im taufeuchten Gras beim Brunnen, einen kleinen Spiegel in der Hand und zupfte an seinem Bart. Als er Troyan erblickte, winkte er herrisch.

Der Steinsucher zog, Erstaunen heuchelnd, die Brauen hoch. "Meinst du mich?"

"Ja, dich meine ich, Steinsucher!" Er steckte den Spiegel in sein seidenes Wams. "Hast du Seelensteine?"

"Ja, Magier", bestätigte er. "Willst du einen kaufen?" Mit einer einladenden Handbewegung lenkte er Lusander zu seiner Werkstatt.

Der Bly-Magier betrat forsch das Haus und sah sich um. "Wo hast du die Steine?"

Troyan deutete auf den Hocker vor seinem Arbeitstisch. "Nimm Platz." Dann holte er sein Kästchen aus einer Truhe. Unbewegten Gesichts schob er es Lusander geöffnet hin und trat einen Schritt zurück. Warronen stießen ihn schon wegen ihrer äußeren Erscheinung ab.

Gierig beugte sich der Bly über die Schatulle. Seine dicken Finger tasteten prüfend über die Kristalle. "Sind das alle Seelensteine, die du hast?"

Troyan nickte ruhig. Diesmal musste er nicht lügen, denn der Stein, den Karam zurückgelassen hatte, war mehr als nur ein Seelenstein. "Der Amethyst eignet sich sicher gut für Heilungen und der Bergkristall unterstützt die Hellsicht."

"Ich suche einen Larimar", brummte der Magier unzufrieden. "Diese Steine sind etwas für Schüler."

"Ich gehe morgen wieder in die Berge", erklärte Troyan. "Wenn ich einen Larimar finde, kann ich ihn für dich aufbewahren, gegen eine Anzahlung."

Ein verächtliches Schnaufen kam aus Lusanders dicklippigem Mund. "Solche Geschäfte mache ich nicht. Du willst mir doch nur mein gutes Geld abluchsen." Umständlich erhob er sich und stapfte zur Tür hinaus.

Troyan dachte an den Larimar in seinem Medizinbeutel und folgte dem Magier gemächlich ins Freie. Von weitem sah er zu, wie dieser sein Pferd bestieg und den Hof verließ. Die Hunde kläfften hinter ihm her. Auch einige menschliche Bewohner des Hofes sahen ihm nach. Kräftige Hände schlossen sich fester um Heugabeln oder Äxte um sich zu entspannen sobald der Warroad außer Sicht war.



Eine kleine Melodie vor sich hin summend arbeitete Troyan in seiner Werkstatt. Er war gerade dabei, einen klumpigen Leopardenjaspis glattzuschleifen. Ein schöner Stein, der sich gut in einem Armreifen oder als Anhänger einer Halskette machen würde. Mit einem weichen Tuch wischte er den Staub von der gesprenkelten Oberfläche des Steins und hielt ihn hoch. Mattgelb, erdbraun und dunkelrot war seine Zeichnung. Lächelnd legte er den Kristall zu zwei ähnlichen Steinen in eine flache Keramikschale.

Dann atmete er tief durch und streckte sich. Seine Gelenke knackten, doch der Druck auf seinen Schultern blieb. Die Sonne war an seinem Fenster vorbeigewandert und sandte noch einige schräge Strahlen in den Arbeitsraum, die die unbearbeiteten Kristalle in der rohen Holzkiste neben ihm glitzern ließen. Troyan arbeitete gern in der Werkstatt, war es doch ein guter Grund allein zu sein. Samira half bei den Gänsen und Kesha arbeitete zusammen mit ihrer Mutter an ihrem Verlobungskleid. Bald würde die Küchenmagd die Familie zum Essen rufen. Bei diesem Gedanken begann Troyans Magen zu knurren. Sollte er noch eine neue Arbeit beginnen? Seine Linke wühlte in der Kiste. Er könnte noch einige Türkisperlen herstellen, überlegte er.

Da begannen plötzlich alle Hunde gleichzeitig wie verrückt zu bellen. Zwei Knechte mit Äxten in den Händen liefen schreiend an Troyans Fenster vorbei auf den Pferdestall zu, aus dem Mahans Stimme laut und durchdringend dröhnte. "Ein Fremder hat sich eingeschlichen!"

Troyan ließ den Türkis fallen und rannte ebenfalls zum Stall. Als Waffe hatte er seinen größten Hammer in der Hand. Knapp hinter Yori kam er an den Ort des Geschehens. Die vier Pferde drängten sich im offenen Teil des Stalls zusammen und zeigten schnaubend und grunzend ihre Nervosität. Fast alle erwachsenen Männer des Kristallsänger-Hofs drängten sich in der Stallgasse.

"Was willst du hier?!", ertönte Kimons barsche Stimme aus der Futterkammer. "Unsere Pferde stehlen oder verhexen? Das Futter vergiften?"

"Hängt ihn auf!", rief der heißblütige Nabis.

"Er ist ein Warroad", kamen von Mahan Bedenken. "Das könnte uns Scherereien machen."

"Ein Clanloser, ein Ausgestoßener!", hakte Nabis nach.

Ein lautes Stimmengewirr folgte. Jeder machte Vorschläge, wie man sich des Eindringlings entledigen konnte. Diese Rufe wurden immer wieder von einem heftigen Niesen begleitet. Troyan drängte sich zwischen den Männern durch. Als Dritter in der Rangordnung des Hofes hatte er nicht sehr viel Autorität, doch man machte ihm Platz. Endlich stand er in der Futterkammer.

Eingeklemmt zwischen Hafersäcken ragten knochige Knie in festen braunen Stoff gehüllt empor. Die dazugehörigen Füße steckten in halbhohen weichen Stiefeln aus schwarzem Rauleder. Wieder erklang ein heftiges Niesen und eine schmale Hand erschien hinter den Knien. Bisin, einer der Pferdeknechte, stand mit der Mistgabel drohend über diesem Häufchen Elend und rollte mordlüstern die Augen.

Troyan schob den Knecht zur Seite und ergriff die schmale, weiche Hand. Ein kräftiger Ruck und ein wirrer, brauner Schopf erschien, gefolgt von einem mageren Körper in einem derben braunen Kasack. Ein glatter Ledergürtel ließ keine Rückschlüsse auf den Clan des jungen Warroad zu. "Karam!", rief Troyan überrascht aus. "Was tust du hier? Bist du mir von Loth-Kelling gefolgt?"

"Du kennst ihn? Ist das der Verrückte?", fragte Kimon schnell.

"Du hast mir fast den Arm ausgerenkt", maulte der junge Magier und rieb seine Schulter. Obwohl er alle Anwesenden um mehr als Haupteslänge überragte, ließen ihn seine hängenden Schultern und der ängstliche Blick seiner grünlichen Augen kleiner erscheinen.

"Er ist der, der von den Bly und den Uroad gesucht wird", stellte Troyan fest.

"Der von der Krötenfrau Besessene!", rief Mahan.

"Was? Ich bin doch nicht .... Au!" Bisins Hand zog sein langes Haar grob zurück und die andere verdrehte ihm gleichzeitig einen Arm am Rücken.

"Er sieht weder schwachsinnig noch besessen aus, aber gefährlich könnte er sein", überlegte Kimon.

"Wenn wir ihn aufhängen, sind wir das Problem los", meldete sich wieder Nabis und winkte mit einem Strick.

"Er ist ein Magier!", erinnerte Troyan die Männer. "Die Segovia soll über ihn richten."

Kimon nickte und die Männer wichen zurück. Methodisch band Mahan Karams Hände auf den Rücken, knebelte ihn und stülpte dann noch einen Melkeimer über den braunhaarigen Kopf. Auf die dumpfen Protestlaute achtete er gar nicht. Wichtig war, dass Karam am Zaubern gehindert wurde. Dann wurde diese wenig beneidenswerte Gestalt an seinen mageren Oberarmen gepackt und zur Medizinhütte geschleift. Nur Kimon, Mahan und Troyan traten hinter ihrem Gefangenen in den runden Bau. Die Macht der Segovia legte sich schützend auf die drei Leotan und hüllte auch den jungen Magier ein.

Dort nahm Kimon den Eimer von Karams Kopf und zog sein Messer aus der Lederscheide. "Ein Wort und du stirbst, Warroad ohne Clan!", knurrte er und entfernte Handfesseln und Knebel. Dann trat er ehrfürchtig auf die Segovia zu. "Mutter Segovia", intonierte er. "Unsere Herzen gehören dir. Sieh diesen Mann aus dem Land hinter dem Meer der Winde und richte über ihn."

Mahan schob den jungen Mann auf den Baum zu und bedeutete ihm, die Hände gegen den Stamm zu legen. Zögernd gehorchte dieser. Ein Keuchen kam von Karams Lippen und seine Finger schienen in die Rinde einzusinken. Die drei Brüder traten zurück bis zum Eingang der Hütte. Die Segovia erzitterte. Ihre Zweige peitschten durch die Luft, dass die Medizinbeutel hin und her geschleudert wurden. Karam ächzte und fiel auf die Knie. Seine Hände blieben aber am Stamm wie angewachsen. Lange kniete er so da, mit hochgestreckten Armen wie in einem grotesken Gebet, während der heilige Baum sich rauschend wand. Dann legte sich ein Zweig auf Karams Kopf, die Blätter wie einen spitzen Hut gefaltet. Die Segovia beruhigte sich und strahlte wieder Ruhe und Frieden aus. Ein sanftes Leuchten umgab den jungen Mann, der nun die Hände vom Stamm nahm und sich erhob. Seine schmale Hand ergriff sekundenlang Troyans Medizinbeutel und ließ ihn ebenfalls aufleuchten. Als er sich umdrehte, schraken die drei vor der Majestät seiner Erscheinung zurück. Kein Laut war zu hören, nur das leise Atmen der Männer. Dann erlosch der Glanz und Karam war wieder nur ein junger, magerer Warroad.

"Die Segovia hat gesprochen", stellte Kimon fest und seine Stimme klang rauh. Wie auf ein Kommando nahmen Mahan und Troyan den Magier in die Mitte und geleiteten ihn hinter Kimon zum Haupthaus. Troyans Magen fing an zu knurren als seine Nase den Duft von Lammfleisch und gemischtem Gemüse auffing. Die Bewohner des Kristallsänger-Hofs standen noch immer im Hof und warteten auf das Urteil der Segovia. Nabis hatte noch immer den Strick in der Hand und hob ihn erwartungsvoll.

"Er ist nicht besessen", zischte Kimon seinen Sohn an. "Die Segovia hat in ihm einen Erleuchteten erkannt." Ernst wandte er sich an seine Brüder. "Wir beraten uns nach dem Essen."



Alle Augen waren auf Troyan gerichtet, besorgt und vorwurfsvoll die seiner Brüder, hoffnungsvoll Karams. Möglichst unauffällig versuchte er von den dreien abzurücken. Diese Blicke, so unterschiedlich sie auch waren, schienen ein Netz um ihn zu knüpfen, in das er sich immer mehr verstrickte.

"Warum seht ihr mich so an?", Troyans Inneres bäumte sich gegen die unsichtbaren Fesseln auf. "Ich habe ihm nur einen Stein verkauft. Essad war dabei."

Der junge Leoti, der sich respektvoll im Hintergrund hielt, nickte und sah den Vater seiner Braut fragend an. Doch er wagte nicht, von dem Stein zu berichten, den Karam zurückgelassen hatte.

"Da ist doch noch etwas", bohrte Kimon und wandte sich an den Warroad. "Du behauptest, nicht Lusanders Sohn zu sein und auch nicht ein Patient der Uroad."

Karam nickte. "Das ist richtig. Ich wurde noch nie von einem Uroad oder einem Bly behandelt."

"Und mit den getöteten Magiern auf der Bergwiese hast du auch nichts zu tun." Beißender Spott klang aus diesen Worten. "Du bist nur ganz zufällig hier hereingeschneit." Seine muskulöse Hand krallte sich in Karams Kasack und zog den Jungen nahe an sich heran. "Ich möchte nur wissen, warum die Segovia gerade dich schützt und was das mit meinem jüngsten Bruder zu tun hat."

"Sprich die Wahrheit! Die Segovia verzeiht keine Lüge!", drang nun auch Mahan in ihn. "Vielleicht hat dich doch die Krötenfrau geschickt."

Karam schien vor Angst zu schrumpfen. Doch dann glomm Widerstand, Aufbegehren in seinen grünen Augen. "Ich habe die Magier nicht getötet. Seit vielen Tagen sind sie hinter mir her. Ich habe mich in den Büschen versteckt als sie auf die Wiese kamen." Die Erinnerung ließ seine Hände zittern. "Sie schossen mit Blitzen hin und her und ich dachte, ich müsste auch sterben." Sein Blick richtete sich voll auf Mahan. "Deine Krötenfrau kenne ich nicht. Aber sie scheint nicht freundlich zu Magiern zu sein."

"Nur zu den Schwarzen Magiern", brummte Mahan.

"Wer bist du, Karam ohne Clan, dass Uroad und Bly wie verrückt nach dir suchen?", fragte Troyan, der endlich zum Kern der Sache kommen wollte.

Karams Mund bewegte sich, aber kein Laut war zu hören. Der magere Körper bäumte sich auf. Fingernägel kratzten über die polierte Tischplatte. Keuchend rang er nach Luft.

"Er steht unter einem Bann, Troyan!", rief Kimon. "Nimm die Frage zurück!"

"Sag uns, was du sagen kannst", formulierte der Steinsucher um.

"Eine Prophezeiung!", stieß Karam atemlos hervor und deutete auf Troyan. "An der Seite des unsichtbaren Mannes wird sich mein Schicksal erfüllen."

Plötzlich sah sich Troyan wieder als Mittelpunkt des Interesses. Am liebsten wäre er aufgesprungen und davongelaufen. Doch dieser unerklärliche Druck auf seinen Schultern ließ es nicht zu. Statt dessen rieb er nur seinen Nacken.

"Unsichtbar?" Mahan wiegte überlegend den Kopf. "Schlaues Kerlchen! Das wussten wir schon lange!"

Troyan konnte förmlich das Zuschnappen der Falle hören. Eine höhere Macht hatte in sein Leben eingegriffen und war dabei, es gänzlich umzukrempeln. War er eine Marionette des Schicksals? Keshas Verlobung stand kurz bevor. Welcher Gott band ihm diesen vermaledeiten Warroad an den Hals? Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.

"Karam kann nicht auf dem Hof bleiben. Er fällt zu sehr auf", meinte Kimon.

Als Antwort zeichnete der junge Magier ein Symbol in die Luft, die braunen Sprenkel in seinen Augen leuchteten golden und schon saß ein Ebenbild Essads am Tisch. Das Original sog hörbar die Luft ein und riss die Augen auf.

"Nein, das geht nicht", entschied der Gutsherr unwirsch. "Essad hat keinen Zwillingsbruder."

"Ich gehe morgen in die Berge", begann Troyan und beobachtete wie sich die Konturen des zweiten Essad aufweichten und Karam wieder zum Vorschein kam. "Er kann mit mir gehen." Er hoffte, dass er den Jungen nur, weiß die Segovia wo, abzuliefern brauchte um wieder frei zu sein. Je schneller er diese Arbeit erledigte, umso besser.

"Das ist gut", nickte Kimon und erhob sich zum Zeichen, dass die Besprechung zu Ende war.

"Du kannst in meiner Werkstatt schlafen", erklärte Troyan während sie durch die Abenddämmerung über den Hof gingen. "Wir werden beim Morgengrauen aufbrechen."

Karam trottete still und schicksalsergeben neben ihm her.



Eine rauhe Hand riss Troyan aus dem Schlaf. Was war los? Überfielen die Gorgotan den Hof? In Sekundenschnelle war er hellwach und griff nach seinen ledernen Hosen. Bisin kniete neben seinem Lager. "Ihr müsst weg!", zischte er aufgeregt. "Zwei Graue sind bei Kimon. Er wird sie nicht mehr lange aufhalten können."

Troyan war schon halb angezogen als der Knecht mit seiner Warnung zu Ende war. Eben krähte der Hahn die ersten Sonnenstrahlen an. Daria stand am Herd und goss süß duftenden Apfelschalentee in große, irdene Becher. Schnell trank er einen aus und machte sich auf den Weg zur Werkstatt. Alles sah wie immer auf als er in der prickelnden Morgenkühle zu seiner Werkstatt ging, einen zweiten Becher mit Tee in der Hand. Nichts deutete auf die Anwesenheit Fremder hin. Die Bly benutzten immer Pferde, doch die Uroad wanderten zu Fuß. Dennoch kamen sie schneller vorwärts als mancher Reiter und sie hinterließen selten Spuren.

Bedächtig stellte Troyan den Becher auf seinem Arbeitstisch ab und sah sich um. Wo hatte sich der Junge versteckt? Sein Werkzeug und ein roher Türkisbrocken lagen unberührt auf der Werkbank. Sein Blick wanderte über die Kiste mit den rohen Kristallen, zu den nachlässig gefalteten Decken in der Ecke, wo Karam sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Dort stand ein Hocker, der dem vor dem Arbeitstisch zum Verwechseln ähnlich sah. Über Troyans Züge glitt ein Lächeln. Wieder ein Imitationszauber. "Trink den Tee, Karam", sagte er ruhig. "Wir essen unterwegs. Meine Frau packt uns etwas ein."

Der Hocker verlor seine Festigkeit, streckte sich und dann stand der junge Magier in der Ecke, bleich und zitternd. Zaghaft ergriff er den dampfenden Becher und trank schluckweise.

Minuten später schlichen die beiden Männer geduckt zwischen der Scheune und Mahans Haus hindurch in die dichten Schlehdornbüsche, die den Hof im Westen begrenzten. Troyan wand sich geschickt an den stacheligen Ästen vorbei, obwohl er den schweren Proviantsack zu tragen hatte. Er tat so als kümmere er sich nicht um Karam, doch in Wirklichkeit lauschte er angestrengt nach hinten. Wiederholte Schmerzenslaute zeigten ihm an, dass der junge Warroad ihm dicht auf den Fersen war. Warum soll nur ich leiden?, dachte er mit einem Anflug von Bosheit.



Zwei ungleiche Gestalten stapften durch den lichter werdenden Mischwald den Berg hinauf. Der stämmige Leoti in seiner mit langen Fransen verzierten Lederkleidung schritt kräftig voran. Seinen flinken Augen entging nicht das Geringste. Nicht das rote Eichhörnchen, das eilig von Ast zu Ast sprang und auch nicht das Rehkitz, das bewegungslos im Unterholz lag. Er hörte nicht nur das Klopfen des Buntspechts und den Ruf des Eichelhähers, auch das sanfte Rauschen des Windes in den Baumkronen nahm er wahr. Seine Nase sog den Duft des Waldes ein und erkannte daraus die Wetterlage. Der Tag würde kühl und windig, aber trocken werden.

Hinter ihm ging der junge Warroad, schlank und hochgewachsen. Er setzte seine Füße vorsichtig auf den Pfad, der die Wanderer immer wieder durch kleine Hindernisse wie Feldbrocken und Wurzeln zum Klettern nötigte. Seine weichen schwarzen Lederstiefel waren mehr für das gepflegte Pflaster einer Stadt oder zum Reiten gedacht als für die rauhe Wildnis der Urosch-Berge. Ab und zu setzte der Jüngling zum Sprechen an, doch Troyans Rücken strahlte soviel Ablehnung aus, dass er es sich jedes Mal überlegte. Der Kanten Brot und das Stück Käse, das ihm Troyan in die Hand gedrückt hatte, nachdem sie die Schlehdornbüsche hinter sich hatten, war längst aufgegessen. Ein wenig Hunger nagte noch in Karams Magen, doch da der Steinsucher offenbar mit der gleichen Menge zufrieden war, wagte er nicht, um mehr zu bitten.

Die Bäume machten immer mehr Felsen Platz und zu Mittag führte Troyan den Magier zu einer kleinen Höhle, die deutliche Spuren häufigen Gebrauchs aufwies. Fröstelnd lehnte sich Karam gegen die Wand während Troyan aus dem hinteren Teil der Höhle dürre Zweige holte und ein rauchloses Feuer entfachte.

"Du kannst Holz suchen", befahl er unwirsch. "Wenn du schon an meinen Fersen klebst, kannst du dich auch nützlich machen."

Karams Gesicht verfinsterte sich, doch dann stieß er sich von der Wand ab und verließ die schützende Höhle. Eine frische Brise empfing ihn draußen und ließ sein langes Haar flattern. Troyan atmete auf als er außer Sichtweite war. Sein Nacken schmerzte und als er den Kopf drehte, war ein dumpfes Knirschen zu hören. Wie soll es weitergehen?, dachte er und kramte aus seinem Rucksack einen kleinen Beutel mit getrockneten Kräutern. Einen Fingerhut voll streute er ins Feuer und senkte den Kopf, die Hände vor der Brust gefaltet.

"Mutter Segovia, führe mich", betete er und atmete den herbfrischen Duft der Kräuter tief ein. Die Höhlenwände schienen zurückzuweichen und gaben den Blick auf eine andere Höhle frei. Diese war größer als sein Unterschlupf hier und mit dicken Teppichen ausgelegt. Ein gutes Dutzend von Öllampen an den Wänden erhellten einen großen Arbeitstisch, auf dem einige dicke Bücher aufgeschlagen lagen. Dahinter sah Troyan ein niedriges Bett auf dem ein verhutzelter Greis ruhte. Neugierig beugte er sich vor um das alte Gesicht näher zu betrachten. Diese dunklen Linien auf der Stirn des Alten, waren das nur Schatten oder ...? Da erlosch die Vision und er war wieder in seiner kleinen Höhle. Leicht benommen strich er sich über die Augen und hob den Kopf. Neben dem Feuer lag ein großer Haufen dürrer Äste und der Duft von Apfelschalentee stieg süß in seine Nase.

"Du warst ziemlich lange weg", sagte Karam, der händereibend neben dem Feuer saß. "Haben dir die Götter schöne Steine gezeigt?"

"Nein", antwortete Troyan kurz angebunden. Er konnte sich den Sinn dieser Vision nicht erklären und wollte sie auf keinen Fall mit Karam diskutieren. Nur sein Nacken schmerzte wieder einmal.

Schweigend aßen sie die Pastete, die Daria ihnen eingepackt hatte. Dann erhob sich der Steinsucher und schulterte seinen Rucksack. Ärgerlich schob er die Riemen hin und her um seine Schultern zu entlasten.

"Ich kann das Ding tragen", bot sich Karam an. "Du hast genug zu tun mit dem Sack in deinem Nacken."

"Was?" Troyan hatte die Riemen wieder abgestreift und hielt nun erstaunt inne. "Welcher Sack?"

"Na, dieses Ding auf deinen Schultern!", gab Karam ungeduldig zurück. "Ich dachte zuerst, du hättest einen Buckel. Aber dann erkannte ich, dass es nur eine Last ist, die du trägst."

"Wovon sprichst du?" Kopfschüttelnd starrte Troyan seinen Gefährten an.

Nun war es an Karam überrascht zu sein. "Du weißt es nicht?" Schwungvoll warf er sich den Rucksack über die Schulter und verließ hinter Troyan die Höhle. "Du musst schreckliche Nackenschmerzen haben von dieser dauernden Belastung. Es ist das einzige an dir, das ich genau erkennen kann, unsichtbarer Mann."

"Was ist es? Und warum nennst du mich unsichtbar?", forschte Troyan. Es kostete ihn eine kleine Überwindung, diese Fragen zu stellen, denn ein Gespräch über seine Person war ihm unangenehm.

"Wenn du nicht weißt, was es ist, wie soll ich es wissen? Und unsichtbar? Nun, dein Ich ist von einem dichten Nebel umgeben aus dem nur dieses Ding herausragt." Die braunen Sprenkel in Karams Augen leuchteten kurz auf. "Magier tarnen sich nur in beträchtlicher Gefahr auf diese Art."

"Aber ich bin kein Magier", protestierte Troyan. "Mein Großvater war ein Steinmagier." Er biss sich auf die Lippen. Warum hatte er das gesagt? Das ging den jungen Spund doch gar nichts an. Jetzt war es aber genug! Auch wenn die Neugier leise in ihm nagte, würde er das Gespräch nicht weiterführen.

Karam hob den Blick zum Himmel. Der Herbstwind trieb ein paar kleinere Wolken vor sich her und ein Falke glitt lautlos hinterdrein. Der Wald verwehrte den Blick auf den Kristallsänger-Hof, doch Loth-Kellings Häuser ragten wie ein Haufen weißer Kiesel aus der grünen Ebene, durchschnitten von dem blauen Band des Kanooga. Unweit der Höhle reckte der Tote Baum seine kahlen Äste in die Luft. Seit Urzeiten stand er hier, unverändert durch die Jahre. Kein Blatt verhüllte das weiße Gerippe im Sommer und dennoch fand man immer wieder süße Nüsse zwischen seinen knorrigen Wurzeln am Fuße seines Stammes. Irgendwo zwischen den Schluchten des Urosch-Gebirges verlief die Grenze zum Gebiet der Gorgotan. Genau wusste man es erst, wenn man einen gorganischen Pfeil in der Kehle stecken hatte.

Troyan übernahm wieder die Führung. Der Pfad schlängelte sich um den mächtigen Stamm des Toten Baumes herum und verschwand zwischen gedrungenen Zirbelkiefern, die ihre Wurzeln grotesk um kleine Felsen krallten. Der Steinsucher fand es immer wieder erstaunlich, wie wenig Erde diese zähen Gewächse zum Leben brauchten. Moos und Flechten bedeckten den Boden und erfüllten die Luft mit ihrem typischen Geruch. Troyans Augen glitten über jeden Felsbrocken, erfassten seine Struktur und analysierten. Vor einem Überhang blieb er stehen.

"Gib mir meinen Hammer aus dem Rucksack", befahl er.

Karam schoss ihm einen ärgerlichen Blick zu und gab ihm das Gewünschte. Wenige Minuten später hielt Troyan einen kinderfaustgroßen Brocken in der Hand. "Das ist ein Malachit", grinste er und deutete auf die grünen Streifen, die sich über die Bruchstelle des Steins zogen.

Karams Zeigefinger legte sich auf eins der grünen Bänder. "Er hat heilende Kräfte", meinte er. "Damit könnte man ..."

"Kriech unter den Felsen!", unterbrach ihn Troyan. "Wir bekommen Gesellschaft." Im Nu war der Rucksack unter einem Stein verschwunden und der Steinsucher glitt geschmeidig unter den Überhang. Nach kurzem Zögern folgte ihm der junge Warroad. Doch als dieser zum Sprechen ansetzte, legte sich eine harte Hand grob über seinen Mund. Rauhe Stimmen und das Geräusch von schweren Stiefeln und Hufen bestätigte Troyans Worte. Vier warronische Soldaten schritten hintereinander am Versteck der beiden vorbei, ohne sie zu bemerken. Der Letzte führte ein Maultier am Zügel, dessen Tragkörbe leer hin und her schaukelten.

"Glaubst du, dass Maranka die Sachen bekommt?", fragte ein grauhaariger Krieger.

"Warum nicht?" meinte ein anderer. "Er trug doch die Kleider vom letzten Mal. Es scheint ihm gar nicht so schlecht zu gehen, so wie er da auf diesem Felllager lag und schlief."

"Sie würden es nie wagen, ihn umzubringen", stimmte der Anführer zu. Dann war die Gruppe vorbei.

"Warronen!" Troyan spuckte dieses eine Wort verächtlich aus. "Sie trampeln durch den Wald, dass man sie bis Ren-Selaer hören kann."

"Sie fühlen sich sicher, weil sie Waffen tragen", sagte Karam leise. "Das war Nachschub für den Prinzen. Kreon schickt seinem Herzblatt alle paar Monate frische Kleider und Stiefel." Seufzend sah er auf seine eigene Fußbekleidung, die schon an einigen Stellen stark abgenutzt war.

Inzwischen kroch Troyan bereits aus dem Versteck. Er wollte so schnell als möglich der Nähe dieses jungen Mannes entfliehen. "Das sieht ...", setzte Troyan zu einer Antwort an, doch der junge Warroad brachte ihn mit einem scharfen "Scht!" zum Schweigen. Mit dem Instinkt des Naturmenschen schlüpfte Troyan wieder unter den Stein.

"Uroad", hauchte Karam dem Steinsucher ins Ohr.

"Ich sollte dich ihnen überlassen", raunte Troyan zurück. "Das würde mir viel Ärger ersparen." Es passte ihm gar nicht, dass er Karam noch länger auf Tuchfühlung dulden musste. So versuchte er mit Grobheiten einen inneren Abstand zu schaffen.

"Ich stehe unter dem Schutz der Segovia", gab der Junge beleidigt zurück und kauerte sich zusammen. Troyans Nackenhaare stellten sich auf als er den warmen Körper in seinem Rücken fühlte. Hilf mir, Großvater!, flehte er im Geist. Wie aus dem Nichts erschienen zwei graue Gestalten auf dem Weg.

"Er ist hier, Bruder", sagte der Größere.

"Ja, ich kann ihn auch fühlen", stimmte ihm sein kleinerer Ordensbruder zu.

Schritt für Schritt näherten sie sich dem Versteck der beiden. Panik stieg in Troyan auf. Er fühlte sich in doppelter Bedrängnis. Vor ihm die Uroad-Mönche und hinter ihm Karam, der ihn mit seinem knochigen Körper zu erdrücken schien. Mutter Segovia, jetzt möchte ich wirklich unsichtbar sein!, betete er stumm. Eine nie gekannte Leichtigkeit erfüllte ihn und der Schmerz in seinem Nacken schwand.

Ein schmales asketisches Gesicht erschien unter dem Überhang und helle Augen sahen Troyan mitten ins Gesicht. Der Steinsucher hielt den Atem an und wartete auf die Reaktion des Magiers.

Doch der Mönch richtete sich wieder auf und sagte: "Hier ist er nicht."

"Vielleicht hat er sich verwandelt. Mit seiner Macht könnte er alles Mögliche bewirken. Und bedenke, er hat den Königsstein!"

Eiskalte Finger schienen Troyans Gesicht zu betasten als die Uroad den Felsen magisch sondierten. Sein Herz klopfte bis zum Hals und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

"Er ist unter dem Stein!", rief nun einer der Mönche triumphierend und beugte sich noch einmal unter den Überhang. Eine magere, langfingrige Hand tastete im Geröll und erwischte die Fransen von Troyans Hosen. "Jetzt hab ich dich, Bursche! Zeig dich!", schrie er.

"Lass mich vorbei", raunte Karams Stimme in Troyans Ohr. "Sie wollen nur mich." Dem jungen Magier gelang es irgendwie eins seiner langen Beine vorzustrecken und kräftig auf die Hand des Uroad zu steigen. Mit einem Aufschrei ließ der Mönch die Fransen los und zog seine Hand zurück. Sekunden später stand Karam vor den beiden Grauen. Auch Troyan war aus dem engen Unterschlupf gekrochen und verfolgte aufmerksam die Konfrontation. Die Mönche schienen so auf Karam fixiert, dass sie den Steinsucher gar nicht beachteten.

"Komm mit uns, Junge", säuselte der größere Mönch. "Nur bei uns bekommst du eine Ausbildung, die deiner Macht entspricht."

Der Kleinere rieb seine gequetschte Hand. "Was können die Bly dir schon bieten? Sie werden dich nur zu ihren Lastern verführen", unterstützte er seinen Gefährten.

Fast unmerklich schoben sie sich auf den jungen Mann zu. Doch der war auf der Hut. "Nicht näher!", warnte er. Mit der Linken zeichnete er eine Rune in die Luft und zwischen ihm und den Mönchen entstand eine grünlich wabernde Barriere. "Geht zurück in euer Kloster und verfolgt mich nicht mehr. Wenn meine Zeit gekommen ist, werde ich euch zu mir rufen."

"So lange warten wir aber nicht", zischte der Uroad und wischte die Energiebarriere mit einer knappen Handbewegung weg.

Karam sprang einen Schritt zurück und prallte gegen Troyan. "Mach Platz, Steinsucher", brummte er schnell und ließ einen Feuerball auf die Uroad zufliegen.

Troyan ging hinter einem Felsen in Deckung und sah erstaunt wie der Feuerball harmlos in der Luft verpuffte. Karams schmale Gestalt schien größer und breiter zu werden. Blitze fuhren knisternd vor den Mönchen in den Boden und ließen Erde und Gestein aufspritzen. Asketische Lippen formten geheime Worte und dann wanden sich bläuliche Energieschlangen um Karams Beine. Ein hämisches Grinsen verzog die schmalen Gesichter während Karams Stöhnen den Schmerz ahnen ließ, der ihm von den Schlangen zugefügt wurde. Helles Glühen entströmte seinen Fingerspitzen und ließ die Schlangen verdorren. Dann legte er den Kopf zurück und schrie ein Wort der Macht in den Himmel. Brausend antworteten ihm die Elemente. Troyan klammerte sich an den Felsen als ein mächtiger Windstoß die Grauen erfasste und gegen den Toten Baum schleuderte, wo sie regungslos liegen blieben. Keuchend sank Karam auf die Knie.

Noch hing beißender Ozongeruch in der Luft als Troyan hinter dem Felsen hervorkam. "Du hast sie umgebracht!", keuchte er erschrocken.

"Ich glaube nicht", antwortete Karam und sah sich suchend um. "Wo bist du?"

"Ich stehe direkt vor dir. Haben Sie dich geblendet?" Das Gefühl der Leichtigkeit verflüchtigte sich und Troyan spürte wieder den gewohnten Druck auf seinen Schultern.

Karam kniff die Augen zusammen. "Oh! Jetzt sehe ich dich wieder." Ächzend erhob er sich. "Du meine Güte! Die haben meine Hosen ruiniert!" Wo die Energieschlangen seine Beine umwickelt hatten, war das feste Gewebe dünn und fadenscheinig geworden. Körperlichen Schaden hatte er in dem Kampf nicht genommen. Vorsichtig ging er auf die reglosen Gestalten zu, die wie zerbrochene Puppen über den Wurzeln des Toten Baums lagen.

"Sie haben mich gar nicht beachtet", brummte Troyan als er hinter dem Magier herging. Noch überlegte er, ob er das gut oder schlecht bewerten sollte.

"Wie sollten sie?", gab Karam zurück. "Du warst noch unsichtbarer als sonst. Selbst ich konnte dich nur mit Mühe ausmachen." Er schenkte dem Steinsucher ein müdes Grinsen. "Sonst hätte ich dich doch nicht angerempelt."

"Ich war ... was?"

"Total weg, nicht mehr vorhanden", bestätigte Karams noch einmal. "Diesmal auch dein Körper, nicht nur deine Seele. Wie hast du das gemacht?" Er beugte sich zu dem am nächsten liegenden Mönch hinunter. "Er ist nicht tot, nur ein paar Rippen gebrochen und ein Knie ist verrenkt."

Troyan hatte schon an dem anderen Uroad schwache Atemzüge wahrgenommen. "Sie sind bewusstlos", stellte er fest. "Willst du sie hier liegen lassen?" Obwohl er sich bedroht gefühlt hatte, war er doch froh, dass sie nicht tot waren.

Karam nickte ruhig. "Sie werden in ihr Kloster zurückkehren, wenn sie erwachen und nicht mehr an mich denken." Er lächelte schief. "Du hast nur einen Stein gefunden. Willst du nicht ....?"

Der Steinsucher nickte grimmig und marschierte los.

An diesem Tag führte Troyan seinen Begleiter durch den Zirbelwald hoch hinauf. Die Kiefern wurden immer kleiner und verkrüppelter, der Weg immer felsiger. Es gelang ihm, einige kleine Granate aus dem Stein zu lösen. Dann kündete ein kühler Wind und die Rötung des Westhimmels das Nahen der Dämmerung. Für die Nacht fanden die beiden Schutz in einer kleinen Hütte, die Troyans Großvater vor vielen Jahren gebaut hatte.

Karam kuschelte sich nach dem Abendessen in die Felle, die sie in der Hütte fanden und war im Nu eingeschlafen. Doch der Steinsucher fand nicht so schnell Ruhe. Er sah zu den wenigen Sternen auf, die er durch das Rauchloch der Hütte sehen konnte. Hast du mir heute geholfen, Großvater?, fragte er den hellsten Stern und ein Blinzeln antwortete ihm. Oder war nur eine Eule über das Rauchloch geflogen?



"Nicht, dass ich deine Prophezeiung in Frage stellen will," sagte Troyan beim Frühstück "Nur, du kannst doch nicht ewig an meinen Fersen hängen. Hast du keine Ahnung, wo du eigentlich hingehen sollst?"

"Ich folge dem unsichtbaren Mann", erklärte Karam schlicht.

"Das hatten wir schon." Der Steinsucher biss grimmig in das gebratene Hühnchen. "Hast du es nicht präziser?"

"Du könntest um eine Vision bitten. Schließlich stehe ich unter einem Bann. Oder hast du das vergessen?" Der junge Magier wischte sich die Finger am Hosenboden ab und sah Troyan vorwurfsvoll an.

"Eine Vision?", sinnierte dieser. "Als du gestern Holz holen warst, kam eine Vision." Mit akribischer Genauigkeit beschrieb er die Höhle und den Greis.

"Das ist Shigozus Heim!", rief Karam aufgeregt aus. "Dort müssen wir hin!"

"Wer ist Shigozu?", Ruhig nahm er einen Schluck heißen Tee.

"Mein Lehrer! Er wohnt nur eine halbe Tagesreise von hier." Begeisterung leuchtete aus den grünen Augen. "Endlich ist dieses ziellose Herumgerenne vorbei!" Damit schnappte er sich den Rucksack und begann wahllos Brot, Käse und andere Ausrüstungsgegenstände hineinzuwerfen.

"Du hast recht, Karam. Ich bin es leid, dein Kindermädchen zu spielen." Mißbilligend rümpfte er die Nase und nahm Karam den Rucksack weg. "Das ist doch keine Art, Lebensmittel zu packen", brummte er und erkannte mit einem kleinen Schrecken, dass er den jungen Magier zum ersten Mal beim Namen genannt hatte.



Diesmal ging Karam voraus. Offenbar kannte er diese Gegend sehr gut, denn er schritt rasch und ohne Zögern den Berg hinauf. Auch Troyan hatte dieses Gebiet schon oft nach Amethysten und Bergkristallen durchsucht. Und auch diesmal hielt er einige Male an um einen besonders schönen Stein aus dem Fels zu lösen. Dabei erklärte der Steinsucher dem jungen Magier jeden Handgriff, den er tat und Karam hörte ihm aufmerksam zu. Endlich versuchte es der Junge selbst und freute sich schließlich einen hübschen Bergkristall in der Hand zu halten.

"Jetzt bin ich auch ein Steinsucher!", rief er fröhlich und warf den Stein übermütig in die Luft um ihn wieder geschickt aufzufangen.

Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich Troyans bei diesem Anblick. Wenn ich einen Sohn hätte ..., dachte er. Doch dann rief er sich zur Ordnung. Er hatte zwei prächtige Töchter, die er über alles liebte. In Gedanken umarmte er sie und wünschte sich, dies auch in der Realität einmal zu können. Als Karam den Kristall zu den anderen in den Sack stecken wollte, wehrte Troyan ab. "Der Stein gehört dir", sagte er. "Lausche, was er dir zu sagen hat."

Karam legte den Kopf schief und schien tatsächlich zu lauschen. Dann lächelte er und sandte Troyan einen Blick, der diesem durch Mark und Bein ging. Dankbarkeit, Ehrerbietung und etwas, das Troyan fast als Zuneigung bezeichnen wollte, war darin enthalten. Unsicherheit und Verwirrung stieg in dem Leoti auf. Der Druck auf seinen Schultern verlagerte sich, schien sich kurz zu heben.

"Ist es noch weit bis zu Shigozus Höhle?", fragte er, bestrebt dieser ungemütlichen Situation zu entfliehen. Tatsächlich legte sich seine unsichtbare Last wieder über seinen Nacken, wenn auch der Druck ein wenig geringer schien.

Wortlos drehte sich Karam um und marschierte weiter. Nach einer guten Stunde, die Sonne stand schon fast im Zenit, erreichten sie das kleine Plateau mit der Kreuzung der Vier Weisen. Zwischen den Felsen wuchsen nur kurzes Gras und Farne. Die einzigen Bäume standen mitten auf der Kreuzung. Eine Latschenkiefer, eine Tanne, eine Krüppeleiche und ein Ahorn. Von jedem dieser Bäume ging ein Pfad in eine der vier Himmelsrichtungen. Eine klare Quelle, deren Wasser schon bald in einer Felsspalte verschwand, machte diesen Ort zu einem idealen Rastplatz.

"Wir werden hier ausruhen und essen", beschloss Troyan und rupfte ein paar trockene Farne für ein Feuer ab. Mit Wohlwollen sah er, dass Karam trockene Äste von den Bäumen brach. Der Bergkristall bauschte seinen Kasack, wo er ihn eingesteckt hatte.

Der Junge ist gar nicht so übel, dachte Troyan und holte Brot und die Reste des Hühnchens aus dem Rucksack. Bald war ein kleines Feuer entfacht und im Kessel dampfte der Tee. Die dichten Äste der Bäume schützten die Wanderer vor dem scharfen Wind, der über das Plateau fegte. Sie befanden sich auf dem Gipfel eines Berges, der von höheren Bergen, von denen die meisten eine Schneekappe trugen, umringt war. Wie ein Kind im Kreise seiner Familie, dachte Troyan.

"Kennst du die Geschichte der Vier Weisen?" Karam knetete verlegen einen Zipfel seines Kasacks. "Shigozu nannte es immer ein dummes Ammenmärchen."

Mit einem Anflug von Verachtung lehnte sich Troyan gegen den Stamm der Krüppeleiche. Die Warroad hatten einfach kein Verständnis für die Überlieferungen der Leotan und die Gorgotan besaßen keine Kultur. Ein Blick in diese grün und braun gesprenkelten Augen sagte ihm aber, dass der junge Mann echtes Interesse hatte. Nun, einen Versuch war es wert. Er setzte sich bequemer hin und begann: "Vor langer Zeit trafen sich hier vier weise Männer und begannen über den Sinn des Lebens zu debattieren. Jeder hatte eine andere Meinung und keiner wollte seinen Pfad verlassen. So vereinbarten sie, sich in Bäume zu verwandeln. Welcher Baum zuerst vom Berg verschlungen würde, dessen Lehre sollte recht bekommen. Der erste meinte, der Sinn des Lebens bestünde darin, sein Schicksal anzunehmen und verwandelte sich in eine Krüppeleiche, der zweite sah ihn darin, das Leben zu genießen und wurde ein Ahorn, der dritte bestand darauf, immerzu zu lernen und wurde eine Tanne und der vierte meinte, jeder Mensch müsse seinem Leben selbst einen Sinn geben und wurde eine Latschenkiefer. Nun ist es Sitte bei den Leotan, dass jeder, der zu dieser Kreuzung kommt, einen Stein zu den Wurzeln des Baumes legt, dessen Lehre er vertritt."

Karam sah sich um. Bei jedem Stamm lagen einige Kiesel, doch kein Baum hatte eine eindeutige Mehrheit. "Was denkst du? Welche Lehre wird gewinnen?"

"Keine", lachte der Steinsucher. "Es kommen nicht viele Wanderer des Weges. Und von denen legt nicht jeder einen Stein zu einem Stamm. Dazu kommt, dass der Regen die Steinhäufchen auch wieder wegschwemmt."

"Dann ist die Geschichte sinnlos."

"Das ist sie", bestätigte Troyan trocken. "Für Leute, die ihren Kopf nicht benutzen wollen."

Karams Gesicht verfinsterte sich. Schon setzte er zu einer Protestrede an. Doch dann überlegte er es sich und erhob sich. Vor Troyan beugte er ehrerbietig das Haupt und holte den Bergkristall aus seinem Kasack. "Ich glaube, ich verstehe die Geschichte", sagte er leise. "Diesen Stein widme ich der Krüppeleiche, zum Zeichen, dass ich mein Schicksal annehmen will."

Überrascht rutschte der Steinsucher zur Seite. Karam klemmte den Kristall zwischen zwei dicke Wurzeln. "Dieser Stein wird nicht vom Regen weggewaschen." Neugierig und auffordernd sah er den Leoti an.

Aber der nickte nur. "Ich habe mich schon vor vielen Jahren entschieden und mein Stein liegt noch immer an seinem Platz." Dir werde ich ganz sicher nicht verraten welchen Baum ich gewählt habe, dachte er und schielte zu der Latschenkiefer. "Wir sollten weitergehen. Wie weit ist es denn noch?"

"Nicht mehr weit, vielleicht eine Stunde oder zwei", antwortete Karam und lächelte. Hatte er Troyans Blick bemerkt?

Ein kalter Schauer ließ Troyan erzittern. Eine machtvolle Anwendung von Magie, konstatierte er und sah sich alarmiert um. Wo konnte er sich verstecken? Doch es war schon zu spät. So blieb er wie angewurzelt stehen. Plötzlich fühlten sich seine Schultern und sein Nacken leicht und frei an. Wenige Schritte von der Baumgruppe entfernt öffnete sich ein magisches Tor und ein Reiter hetzte hindurch. Hinter ihm schloss sich die Pforte mit einem lauten Knall. Karam war mit einem Sprung neben dem Steinsucher und schrieb eine Rune in die Luft. Zischend baute sich eine magische Wand auf. Der Reiter zog grob am Zügel und der Rappe riss das Maul auf und stieg mit der Vorhand. Erstaunt erkannte Troyan Lusander. Allerdings hatte sich das gepflegte Äußere des Bly-Magiers verändert. Sein kostbarer Mantel war zerrissen und zur Hälfte verbrannt. Das blaue Seidenwams wies ebenfalls Löcher auf, von denen das größte an der fettgepolsterten Seite des Bly auch noch blutgetränkt war. Auch sein Bart war angesengt und der Turban hing in unordentlichen Schlingen um den massigen Kopf. Trotz seiner Verletzungen reagierte Lusander schnell.

"Mein Sohn!", rief er aus. "Endlich habe ich dich gefunden! Nun können wir nach Tillamok zurückkehren!" Er stieg ab und blieb vor der Barriere stehen. Lächelnd streckte er Karam die Hand hin. "Mein lieber Junge!"

"Ich bin nicht dein Sohn, Bly-Ratte!", knurrte Karam zähnefletschend. "Geh zu deinem Futtertrog und zu deinen Huren. Wenn ich jemand brauche, der meinen Müll wegbringt, werde ich dich rufen."

Troyan war überrascht, blanken Hass aus Karams Worten zu hören. Was war zwischen den beiden vorgefallen?

"Verschwinde, bevor ich dir eine schärfere Lektion als damals in Loth-Kelling erteile." Eisige Verachtung spiegelte sich in Karams Miene. "Du hast mich einmal überraschen können. Ein zweites Mal gelingt es dir nicht."

"Wie kannst du nur so nachtragend sein!", rügte Lusander beleidigt. "Es war nur zu deinem besten. Wenn du endlich Vernunft annimmst, wirst du mir zustimmen. Du bist mein Fleisch und Blut und musst mir gehorchen."

"Du bist eine Schande für alle Magier und besonders für die Bly. Der Großmeister ..."

"... hat mich beauftragt, dich nach Tillamok zu bringen", unterbrach ihn der Bly.

"Nicht in Fesseln!", schrie nun Karam wutentbrannt. "Du hattest das Recht zu bitten, so wie die Uroad. Das verlangt die Tradition. Doch ich gehe meinen eigenen Weg. Beuge dich meinem Wort, Wurm!" Donnernd prasselten die Worte auf den Bly hernieder. Karam schien im Laufe seiner Rede zu wachsen. Seine grünen Augen sprühten goldene Blitze, was sein wütendes Gesicht noch furchterregender machte.

Der Bly duckte sich wie unter einem Hagelschauer. Troyan schien er gar nicht wahrzunehmen. Er war nur auf Karam fixiert. Mit einer beiläufigen Handbewegung wischte Lusander die Barriere weg. Ein schwarzes Seil schlängelte sich auf Karam zu.

"Das sieht dir ähnlich!", knirschte der junge Magier. "Batons schwarze Schlange!" Er hob beide Hände, schrie machtvolle Worte. Flammenzungen schossen aus seinen Fingern und bohrten sich wie brennende Pfeile in Lusanders Gesicht und Körper.

Der beleibte Magier schrie qualvoll auf und das schwarze Gebilde löste sich in Rauch auf. Verzweifelt murmelte er Abwehrzauber. Doch die kleinen Brandpfeile schwanden nur zögernd. Auf dem schmerzverzerrten Gesicht bildeten sich bereits große Brandblasen.

"Hast du jetzt endlich genug?", donnerte Karam. Als er die schwarzen Löcher in Lusanders Seidengewand musterte, konnte er ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken. Wieder sprach der junge Mann einen Zauber, doch diesmal fasste er den Rappen des Bly ins Auge. "Geh, du fettes Schwein!", zischte er. "Und versuch nicht, dein Pferd zu besteigen. Es wird dich sonst töten. Ein Fußmarsch wird dir gut tun." Wie zur Bestätigung wieherte der Rappe und trabte gemächlich den Weg zurück.

Aus Lusanders versengtem Gesicht sprach Angst, Wut und Hass. Doch er wagte keinen neuen Zauber mehr. Drohungen murmelnd wandte er sich ab und stakste auf seinen silberbeschlagenen Stiefeln hinter seinem Pferd her. Nach einem Dutzend Schritten drehte er sich doch noch einmal um. "Und du bist doch mein Sohn!", schrie er mit einem hässlichen Lachen.

Als er zwischen den Felsen und Bäumen verschwunden war, atmete Karam auf. "Jetzt könntest du wieder erscheinen, Troyan!", rief er und drehte sich einmal um seine Achse. "Du bist doch hoffentlich nicht fortgelaufen!"

"Karam! Ich stehe doch neben dir!", meldete er sich.

"Ach da! Du warst schon wieder unsichtbar", bestätigte der Junge Troyans Verdacht.

"Siehst du mich jetzt?", erkundigte er sich noch einmal.

"Ja! Klar und deutlich." Scheinbar unbeeindruckt von dem Kampf warf er sich den Rucksack über die Schulter, doch seine Hände zitterten dabei. "Es rutscht hinein", sagte er.

"Was?"

"Das Ding auf deinen Schultern. Es ist jetzt kleiner, weil du einen Teil davon in dein Inneres aufgenommen hast."

Erstaunt stellte Troyan fest, dass der Druck auf seinen Schultern deutlich nachgelassen hatte. Aber was bedeutete diese Unsichtbarkeit? Ja, es war jedes Mal passiert, wenn er Angst hatte. Doch warum zeigte sich diese Fähigkeit erst jetzt? Früher hatten sich nur seine Nackenschmerzen verstärkt, wenn er sich in Gefahr wähnte. "Vielleicht machst du mich unsichtbar. So, wie du gekämpft hast, müsste es für dich ein Leichtes sein. Ich kann das nicht", versuchte er das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Innerlich war er aufgewühlt, weil er eine Veränderung spürte, die er nicht einordnen konnte. Und obwohl in ihm Sympathie für den jungen Warroad keimte, wollte er diese verwirrenden Gefühle vor ihm verbergen.

"Du bist kein Magier", erklärte Karam schlicht. "Wenigstens kein ausgebildeter."

Was sollte das nun wieder heißen? Gab es da eine latente Begabung, die sich jetzt einen Weg an die Oberfläche bahnte? Ärgerlich zog er die Brauen zusammen. Jetzt war Schluss! Er wollte nicht Gegenstand ihres Gesprächs sein. "Welchen Weg müssen wir nehmen?" Das war ein unverfängliches Thema.

"Nach Westen", gab Karam bereitwillig Auskunft und wandte sich in die angegebene Richtung.

"Nach Gorga?!", rief Troyan aus. "Willst du mich loswerden? Die Gorgotan werden meinen Kopf auf einen Pfahl spießen!"

"Das werden sie nicht", widersprach Karam. "Du bist der unsichtbare Mann."

"Und du meinst, dass die Gorgotan das auch so sehen?" Troyans Zweifel wollten nicht so schnell weichen. Die Gorgotan waren seit Urzeiten die Feinde der Leotan. Kein Leoti, der seinen Verstand beisammen hatte, betrat Gorga allein und noch dazu unbewaffnet. "An der Seite des unsichtbaren Mannes wird sich dein Schicksal erfüllen", zitierte er. "Erinnerst du dich? Die Gorgotan werden Schuhsohlen aus meiner Haut machen! Was wird aus deinem Schicksal, wenn ich tot bin?" Unter Karams ruhigem Blick verstummte er. "Dann gehen wir eben nach Gorga", stieß er unter einer Aufwallung von Selbstmitleid hervor. "Ich werde meine Frau und meine Kinder nie wiedersehen. Mahan wird meine Stelle bei der Verlobungsfeier Keshas übernehmen müssen. Vielleicht werden sie nie erfahren, was aus mir geworden ist." Mit verbissener Miene ging er hinter dem jungen Magier her.

Karam ging immer tiefer in das Gebiet der Gorgotan hinein. Die Landschaft wurde felsiger. Der Pfad schlängelte sich an schwindelerregenden Abgründen vorbei, unter überhängenden Felsen durch, auf denen nur noch Moos und Flechten wuchs. Nur selten fristete eine zerzauste Kiefer ihr karges Dasein. Unruhig ließ Troyan seine Blicke über die zerklüfteten Hänge schweifen. Hinter jedem Felsbrocken konnten ein paar mordgierige Gorgotan lauern. Eben umrundeten sie einen kleinen Hügel, da sah er aus einer Felswand Rauch aufsteigen.

"Das ist Shigozus Heim!", rief Karam glücklich und deutete auf die Rauchfahne. Beschleunigten Schrittes strebte er darauf zu. Als sie näher kamen, sah Troyan, dass sich hinter einigen großen Felsen der Eingang zu einer Höhle verbarg. Unbekümmert trat Karam ein. "Wo bist du, Meister Shigozu?", rief er. "Ich bin wieder zurück." Doch es kam keine Antwort.

Die Höhle bot sich dem Steinsucher genauso wie er sie in seiner Vision gesehen hatte. Nur das niedrige Lager war leer. Der alte Mann, der darauf geruht hatte, war nirgends zu sehen. In der Mitte der Höhle brannte ein züngelndes Feuer in der Kochgrube und verbreitete angenehme Wärme und den kühlen Duft von Kiefernharz.

Karam schien die Abwesenheit des Alten nicht zu bekümmern. Schulterzuckend setzte er sich auf einen niedrigen Hocker. "Dann warten wir eben. Er wird wohl auf Kräutersuche sein."

Zögernd nahm Troyan ebenfalls Platz. Der Junge schien sich hier heimisch zu fühlen, doch er nicht. Hier war Feindesland und er war ganz allein. Die Angst saß wie ein kalter Klumpen in seiner Magengegend. "Warum beharrt Lusander darauf, dein Vater zu sein?", fragte er um sich abzulenken.

Karams fein gezeichnetes Gesicht verfinsterte sich. "Er hat mich gezwungen aus seinem Becher zu trinken," knurrte er giftig. Damit bezog er sich auf ein warronisches Gesetz, das eine Adoption als vollzogen erklärte, wenn der angenommene Sohn aus dem Becher des Vaters trank. "Der alte Bock hat mich überlistet."

"Dann ist die Adoption doch ungültig", meinte Troyan.

"Ich muss sie vor dem Großfürsten anfechten. Doch dazu habe ich jetzt keine Zeit. Die Prophezeiung muss erfüllt werden."

"Hm." Troyan versank in Gedanken. Das erklärte Karams Wut. Es sprach für den Jüngling, dass er Lusander nicht getötet hatte. Die Macht dazu hätte er gehabt. Troyan konnte nicht sagen, wie lange sie in Schweigen dagesessen hatten als sich die Schritte mehrerer Personen der Höhle näherten. Karam hob nur den Kopf, aber Troyan sprang auf und griff nach seinem Dolch. Gleichzeitig regte sich ein neues Gefühl in seiner Seele. Der Druck wich von seinen Schultern und tiefe Ruhe erfüllte ihn.

Drei Männer betraten die Höhle und alle trugen die typische Tätowierung der Gorgotan auf den Stirnen. Eine barbarische Sitte in den Augen der Leotan. Einer der drei war der Greis aus seiner Vision, die beiden anderen aber waren junge kräftige Männer. Sie schleppten große Säcke und an ihren Seiten baumelten lange Messer. Ihre Kleidung bestand ausschließlich aus Leder, doch ohne Fransen. Statt dessen hatten ihre Frauen komplizierte Muster aus kleinen, bunten Holzperlen aufgenäht. Troyan wartete jeden Augenblick auf einen Angriff. Doch nichts geschah. War er schon wieder unsichtbar?

"Karam!", rief der Alte aus und sein Gesicht strahlte vor Freude.

Nun lief der junge Magier auf ihn zu und umarmte den Greis. "Es tut so gut, dich zu sehen!", sprudelte er los. "Ich habe meine Mission beendet und du kannst mich endlich von dem lästigen Bann befreien. Ich habe meine Wahl getroffen und der unsichtbare Mann ...." Suchend sah er sich um. "Troyan, wo bist du? Komm schon! Das ist Meister Shigozu."

Die beiden Begleiter des Alten hatten ihre Last abgelegt und waren unauffällig verschwunden. Als sie weg waren, entspannte sich Troyan ein wenig. "Ich bin hier", sagte er.

"Ein Leoti", stellte Shigozu ruhig fest. Aus seinem neutralen Tonfall konnte man keine Bewertung dieser Tatsache heraushören. "Setz dich doch und steck den Dolch weg. Wir werden Tee trinken während Karam von seiner Mission berichtet."

Verwirrung malte sich auf Troyans Zügen. Wie kam es, dass ein Gorgo so ruhig und vernünftig sprach? Wollte er ihn nur in Sicherheit wiegen? Vielleicht lauerten die beiden Krieger nur auf einen Moment der Unachtsamkeit um ihn zu töten. Langsam ließ er sich auf den Hocker nieder, doch den Dolch behielt er in der Hand.

Zuerst wurde der junge Warroad von dem Bann befreit, dann kam Shigozus Neugier durch. Während Karam berichtete kochte der Alte Tee. Bald durchzog der Duft von Zimt und Apfelschalen die Höhle. Troyan entspannte sich und als ihm Shigozu einen dampfenden Becher reichte, steckte er den Dolch weg.

"Ich habe in Loth-Kelling mit den Uroad und den Bly gesprochen", begann der junge Magier. "Beide boten mir eine exzellente Ausbildung an und alle Vergünstigungen, die ich mir nur vorstellen konnte. Doch ich habe beide Angebote abgelehnt. Sie wollen beide doch nur ihre Macht vergrößern. Und ich wäre nur ein Mittel zum Zweck."

Shigozu nickte stumm und der Steinsucher begann langsam zu begreifen. In Abständen von mehr als hundert Jahren wurde ein Magierfürst geboren, mächtiger als jeder Meistermagier. Karam war der erste Magierfürst, der in Leotanien zur Welt gekommen war. Die Magier-Schule, die ihn für sich gewinnen konnte, dominierte für lange Zeit über die andere. Die meisten Magierfürsten waren schwach und ließen sich von den Lockungen der Bly verführen. Nur wenige schlossen sich den Uroad an. Dass ein Magierfürst beide Richtungen zurückgewiesen hatte, war seit mehr als tausend Jahren nicht mehr geschehen. Es bedeutete, dass er über beide Schulen herrschen würde. Zweifelnd ließ Troyan seinen Blick über die magere Gestalt gleiten, das junge Gesicht, die sensiblen Hände.

"Du hast den schwersten Weg gewählt, Karam", meinte Shigozu und wiegte bedächtig den Kopf. "Wenn die Tayahi von deiner Entscheidung hören, werden sie dich für ihre Stämme haben wollen."

"Ich stehe unter dem Schutz der Segovia durch den unsichtbaren Mann." Offen, bittend, vertrauensvoll sah er Troyan an. "Er wird mich begleiten."

"Was?" Troyan sprang auf und verschüttete einen Rest Tee. Der Dolch sprang wie von selbst in seine Hand. "Such dir ein anderes Kindermädchen! Ich habe keine Zeit. Meine Tochter...." Die eindringlichen Blicke Karams und Shigozus ließen ihn verstummen. "Wie soll ich dich schützen? Ich bin kein Magier. Dass ich manchmal unsichtbar werde ...." Zwei alte, schwarze und zwei junge, grüne Augen ließen ihn nicht los. "Das ist etwas für einen Krieger, nicht für einen einfachen Steinsucher. Außerdem bin ich zu alt für solche ...." Unerbittlich bohrten sich die Blicke der beiden in seine Seele. "Ich will doch nur nach Hause", sagte er schließlich leise.

"Dorthin müssen wir sogar. Der Larimar ist ja in der Obhut der Segovia", meinte Karam trocken.

"Und wie ist er dorthin gekommen?", wollte Shigozu wissen.

"Ich habe ihn zu Troyans Seelensteinen gelegt, nachdem ich ihm einen Rosenquarz abgekauft hatte. Das schien mir notwendig, denn ein Bly-Magier brachte mich durch List dazu, aus seinem Becher zu trinken. Dann fesselte er mich und wollte mich nach Tillamock bringen. Die Uroad befreiten mich und dachten, ich würde mich jetzt aus Dankbarkeit ihnen anschließen. Sie gaben mir einen Trank, der meinen Geist verwirren sollte. Durch den Larimar wirkte er aber nur teilweise und ich konnte entkommen. Nachdem ich den Königsstein bei Troyan versteckt hatte, floh ich aus der Stadt, Uroad und Bly dicht auf den Fersen. Auf der Bergwiese hätten sie mich fast erwischt. Ich versteckte mich im Gebüsch. Sie begannen um mich zu streiten und schließlich bekämpften sie sich gegenseitig. Nur Lusander konnte fliehen. Er verwendete viel Magie um seine ramponierte Kleidung zu tarnen." Karam grinste verschmitzt in Troyans Richtung. "Ich hockte immer noch im Gebüsch als du mit deinem Wagen kamst."

"Dann bist du uns gefolgt und hast dich im Stall versteckt", setzte Troyan die Erzählung fort.

"Ich bin dem Larimar gefolgt", korrigierte Karam.

"Und dem unsichtbaren Mann", ergänzte Shigozu und kniff die Augen zusammen.

Troyan fühlte die kalten Finger der Magie nach ihm tasten. Abwehrend hob er den Dolch, doch das entlockte dem alten Gorgo nur ein schwaches Lächeln. Angst und Wut bemächtigten sich des Steinsuchers. Sein Nacken brannte als er die magischen Fühler abzuwehren versuchte. Mit einer Kraft, die auf höchst ungewohnte Art sein Inneres erfüllte, schlug er nach dem alten Mann.

Dieser wich so heftig zurück, dass er samt seinem Hocker umfiel. "Au! Das hat wehgetan!", beschwerte er sich und rappelte sich mit Karams Hilfe wieder auf. "Ist das alles, was man den Leotan-Magiern beibringt?" In Shigozus ärgerlichem Ton schwang ein wenig Unsicherheit mit.

"Ich bin kein Magier", wiederholte Troyan. "Geht das nicht in eure Köpfe! Warroad und Gorgotan! In Sachen Verstand seid ihr gleich töricht."

Die beiden wechselten einen bezeichnenden Blick. Dann legte Shigozu los: "Die Leotan haben sich wohl zuviel mit ihren Schafen beschäftigt. Mehr als ein Blöken ist von ihnen nicht zu erwarten. Du solltest auf allen Vieren gehen!" Er war auf dem besten Weg sich in Rage zu reden.

Karam quittierte den Zornesausbruch seines Meisters mit Überraschung. Blitzschnell jagte sein Blick zwischen den beiden hin und her. Seine Miene erinnerte Troyan dabei an Kesha. Derselbe gequälte Ausdruck war in ihrem Gesicht gewesen als er damals diesen bösen Streit mit Daria hatte. Er hörte nicht mehr auf Shigozus Gezeter. Der Junge litt und das wollte er abstellen.

"Wenn du fertig bist, könntest du mir vielleicht sagen, was du gesehen hast", sagte er so ruhig als möglich und steckte den Dolch weg. Er würde dem wilden Gorgo schon zeigen, dass ein Leoti ihm in Beherrschung und zivilisiertem Benehmen weit überlegen war.

Shigozu hielt mitten im Wort inne. "Was sagst du, Leoti? Bist du endlich zur Vernunft gekommen? Dann können wir endlich weitermachen."

Du wirst mich nicht provozieren, dachte Troyan. Laut sagte er: "Nun?"

"Er trägt etwas auf seinen Schultern", mischte sich Karam ein. "Allerdings ist es jetzt kleiner, weil es hineinrutscht."

"Mehr hast du nicht gesehen, Grünschnabel?", schnappte der Alte und Karam senkte beschämt den Blick. "Gab es in deiner Familie Magier?", wandte er sich an Troyan.

"Mein Großvater war ein Steinmagier", bestätigte dieser.

"Warum hat er dich nicht ausgebildet? Du schleppst einen Sack voll Magie mit dir herum und kannst nichts damit anfangen, bis auf dieses unkontrollierte Umdichschlagen."

Was sagte der Alte da? Troyan ein Magier? Seit vielen Jahren hatte er diesen Wunsch in seinem tiefsten Inneren verschlossen. Selbst als er unsichtbar wurde, redete er sich ein, dass die Magie von Karam kommen musste. Er wagte nicht, es zu glauben. Die Enttäuschung wäre zu groß, wenn alles sich nur als Irrtum erweisen sollte. "Mein Großvater starb als ich noch ein Knabe war." Seine Stimme klang rauh bei diesen Worten.

"Hat er dir denn gar nichts beigebracht?", forschte der Gorgo weiter.

"Er lehrte mich, wie man Steine besingt", gab Troyan zu. "Aber ich habe es seit vielen Jahren nicht mehr getan."

"Dann tu es jetzt." Shigozu reichte ihm einen dunkel geäderten Karneol von der Größe einer Hundepfote.

Troyan überlegte während sein Geist die Struktur des Kristalls sondierte. Dieser Stein war rein und klar und in seinem Innern schlummerte eine zarte Seele. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Dann erfüllte sein volltönender Bariton die Höhle. Er fühlte wie sich die Magie entfaltete und in den Stein strömte, der sie wie ein trockener Schwamm das Wasser aufsaugte. Gleichzeitig wuchs etwas in seiner Seele, breitete sich aus, füllte einen bisher leeren Raum und löste einen dunklen Schatten auf. Ein nie gekanntes Gefühl von Vollständigkeit und Einheit mit dem Universum erfüllte ihn. Troyan kam sich leicht wie ein Vogel vor. Bedauern regte sich in ihm als das Lied zu Ende ging. Eine samtene Decke legte sich über seine Schultern und verdrängte das Gefühl der Leichtigkeit. Pulsierend lag der Karneol in seiner Hand. Etwas hatte sich in ihm verändert. Der vertraute Druck im Genick war verschwunden. Dafür war woanders etwas Neues entstanden, doch er konnte nicht sagen, was.

"Womit hast du ihn besungen?" Karam beugte sich neugierig vor. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten nach dem Stein gegriffen hätte. Doch die Vorsicht hielt ihn zurück.

"Schutz gegen Kampfzauber", erklärte Troyan ruhig. "Ich dachte, dass dir das nützlich sein könnte."

Mit einem Hechtsprung, den Troyan dem Alten nie zugetraut hätte, war Shigozu bei seinem Arbeitstisch und raffte seine Bücher zusammen. Flink hastete er in die Tiefe der Höhle. Nach kurzer Zeit erschien er wieder und starrte Troyan böse an. "Das hättest du mir auch vorher sagen können!", schimpfte er. "Ich habe mehr als ein Dutzend Sprüche verloren!"

"Das sind mehr als ein Dutzend Sprüche, die du nicht mehr gegen mein Volk richten kannst", konterte Troyan und grinste schief.

"Irgendwie müssen wir uns doch gegen die Angriffe der räuberischen Leotan wehren!"

"Die Leotan verteidigen nur ihre Herden gegen die barbarischen Gorgotan. Unsere Kultur überragt eure primitive Lebensweise himmelhoch!"

"Was wisst ihr denn schon von Kultur! Ihr tragt ja nicht einmal die göttlichen Zeichen auf der Stirn!"

Die beiden Streithähne standen sich gegenüber. Troyan hatte die Hand mit dem Karneol instinktiv vorgestreckt. Das hielt den Gorgo-Magier in Schach. Karam umkreiste die beiden verzweifelt in der Absicht, sie auseinander zu drängen. Doch auch er wagte dem Karneol nicht zu nahe zu kommen. "Warum müsst ihr denn immer streiten!", rief er endlich aus.

"Er ist ein Gorgo!", antwortete Troyan.

"Er ist ein Leoti!", kam Shigozus Erklärung fast gleichzeitig.

"Ja, ich bin ein Leoti!" Der Steinsucher richtete sich stolz auf, trat einen Schritt zurück und senkte die Hand mit dem Karneol. "Ich gehe nach Hause. Dort wartet eine Menge Arbeit auf mich. Hier habe ich nichts zu suchen." Seine Schultern waren frei und die Magie in seinem Innern pulsierte warm und beruhigend.

"So einfach ist das nicht." Shigozu hatte sich wieder ein wenig beruhigt. "Der Kleine muss nach Ren-Selaer und am Platz der göttlichen Weisheit seinen Anspruch geltend machen. Dazu braucht er den Larimar."

"Und Uroad wie Bly werden dies zu verhindern suchen", fügte Karam hinzu. "Ohne deine Hilfe ..."

Troyan hörte nicht mehr zu. Der Kristallsänger-Hof und sein ruhiges Leben mit Daria und seinen Töchtern entglitt ihm immer mehr. Schmerzhaft zog sich sein Herz zusammen. Was hätte er darum gegeben, seine Lieben jetzt in die Arme schließen zu können!

"... werden sie mich umbringen", beendete Karam seine Rede. "Hast du mir zugehört, Troyan?"

"Nein", gestand der Steinsucher ruhig. "Ich war in Gedanken bei meiner Familie. Unsere Vorräte gehen dem Ende zu. Kannst du uns aushelfen, Magier? Bis zu meinem Hof sind es zwei Tagesmärsche, wenn nichts dazwischen kommt." Ein harter Zug legte sich um seinen Mund. Doch es war auch ein Anflug von Bitterkeit dabei.

Shigozu nickte und lächelte freudlos. Geschäftig verschwand er im Hintergrund der Höhle um mit einem dicken Bündel wieder zu erscheinen. "Trockenfleisch, Powandack und meine letzten Dörrpflaumen", sagte er. "Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen."

"Ich weiß, wie sehr du Dörrobst liebst", meinte Karam warm und steckte das Bündel in den Rucksack.

"Und damit der erste unabhängige Magierfürst seit tausend Jahren nicht wie ein Landstreicher aussieht, hab ich da noch etwas für dich." Lächelnd holte Shigozu eine neue Tunika mit bestickten Borten und ein Paar nagelneue Stiefel aus den Tiefen der Höhle. "Der schlafende Prinz hat seine Schuldigkeit getan. Es war nicht schwer die Krieger zu täuschen", grinste er. Doch dann wurde er schnell wieder ernst. "Ein freier Magierfürst kann ein unschätzbarer Gewinn für alle Völker sein. Egal ob sie Warronen, Leotan oder Gorgotan sind. Es spielt auch keine Rolle, dass du ein Warrone bist. Im Herzen bist du frei und gehörst nur dir selbst. Ich habe versucht, das dem Rat der Alten klar zu machen. Naja, du kennst den Großen Gorgo ja. Seine Spione weilen schon lange in Leotanien. Sie werden jeden deiner Schritte bewachen und dir beistehen, wenn du in Gefahr kommst. Die Alten hoffen, dass du dich vielleicht doch für Gorgo entscheidest."

Was war das? Der Steinsucher spitzte die Ohren. Gorgotan in der Ebene? Mehr denn je wünschte er sich nach Hause. Es mochte ja sein, dass sie Karam halfen. Aber war es nicht auch eine gute Gelegenheit, die Leotan auszuspionieren?

"Morgen früh geht's los", ordnete Troyan an. Die Nacht war längst hereingebrochen. Karam neigte zustimmend den Kopf und bereitete aus Decken und Fellen zwei zusätzliche Lager beim Feuer. Wie viele Nächte werde ich noch fern von Daria verbringen müssen?, fragte sich Troyan beim Einschlafen. Er lauschte auf den gleichmäßigen Atem des jungen Warroad. Eine neue Empfindung keimte in ihm, Sorge um seinen ungewollten Schützling.



Gegen Abend des zweiten Tages erreichten sie den Kristallsänger-Hof. Nebeneinander lagen sie hinter den Schlehdornbüschen und beobachteten das Treiben zwischen den Hütten. Troyan hatte den jungen Mann unerbittlich vorwärts gehetzt. Nachdem sie die Grenze nach Leotanien überschritten hatten, war der Steinsucher querfeldein marschiert. Er kannte die Berge so gut, dass er sich auch des Nachts zurechtfinden würde. Als sie sich dem Hof näherten, beschlich beide eine Ahnung von Gefahr. So beschlossen sie, erst einmal die Lage zu sondieren.

Die Schafe drängten blökend in den Pferch. Seine kleine Tochter Samira trieb die Gänse in den Stall und die Hunde liefen witternd um das Anwesen. Troyan konnte den Rauch der Herdfeuer riechen und bei dem Gedanken an Darias Lammragout lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Vorsichtig streckte er einen magischen Fühler aus und tastete eine Hütte nach der anderen ab. Im Haupthaus, in seinem Haus und in den Ställen fand er fremde Gedanken neben denen seiner Familienangehörigen und dem Gesinde. Es war kein einziger Magier darunter. Die Gedanken der Männer waren roh und gewalttätig. Söldner, stellte Troyan bei sich fest. Wer immer sie beauftragt hatte, sie waren hinter Karam und dem Larimar her.

"Du machst dir hier ein Lager", befahl der Karam. "Schütze es magisch, sodass dich die Hunde nicht wittern, wenn sich der Wind dreht. Ich gehe hinunter und hole den Stein. Es kann eine Weile dauern, also fasse dich in Geduld." Damit erhob er sich vorsichtig. Karam hatte ihn in den kurzen Pausen, die er ihnen gewährte, gelehrt, wie man die Runen anwandte um einen Zauber auszulösen. Noch ein wenig ungelenk malte er eine Rune in die Luft und wurde unsichtbar. Nur ab und zu zeugte ein leises Rascheln von seiner Gegenwart. Unbehelligt erreichte er den Hof und ging zielstrebig auf die Medizinhütte zu. Ein schneller Rundblick belehrte ihn, dass niemand in seine Richtung sah. So öffnete er die Tür schnell einen Spalt breit und schlüpfte hindurch.

Mahan stand im Gebet vor der Segovia. Troyan fühlte sich unbehaglich. Es galt als sehr unhöflich, einen anderen beim Gebet zu belauschen. So schloss er die Augen und steckte die Finger in die Ohren. Mahans leise Worte verwandelten sich in ein undeutliches Brummen. Nach einer Weile öffnete er ein Auge und konnte gerade noch ausweichen. Sein Bruder war mit seiner Andacht zu Ende und wollte die Hütte verlassen. Aufatmend huschte er zu dem heiligen Baum und sprach ebenfalls ein kurzes Gebet. Dann fischte er den Larimar aus seinem Medizinbeutel. Das wäre geschafft. Jetzt musste er nur noch das Anwesen verlassen. Durch einen schmalen Spalt spähte er hinaus in die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit. Er konnte keine Söldner entdecken. Auf Zehenspitzen schlich er über die freie Fläche auf sein Haus zu. Er wollte wenigstens einen Blick auf seine Familie werfen. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihm als er Daria sah, wie sie gerade Samira zu Bett brachte. Kesha schlüpfte eben in ihr Nachthemd. Jetzt löschte Daria die Öllampe, die an der Wand der kleinen Schlafkammer hing und ging in die Küche zurück. Troyan huschte zum nächsten Fenster. Das liebevolle Lächeln, das sie für ihre Kinder gehabt hatte, verschwand beim Anblick des vierschrötigen Mannes, der dort saß und Eintopf löffelte. Demonstrativ nahm sie das größte Küchenmesser aus der Lade und ging in die andere Schlafkammer. Wieder wanderte der Steinsucher ein Fenster weiter. Eben kroch sie unter die Decken und streichelte bedauernd das leere Kopfkissen neben dem ihren. Tiefe Sehnsucht übermannte Troyan und ließ ihn die Gefahr in der Küche missachten.

Daria hatte ihn schon vor Wochen gebeten, das Schlafzimmerfenster zu reparieren. Aber immer war etwas dazwischen gekommen. Unter ihren vorwurfsvollen Blicken hatte er schon ein schlechtes Gewissen bekommen. Jetzt kam ihm seine Nachlässigkeit zustatten. Sachte drückte er gegen das Fenster und der Flügel schwang enervierend langsam auf. Daria lag ganz still im Bett, aber Troyan wusste, dass sie nicht schlief.

"Scht!", hauchte er ins Zimmer. "Sei ganz still, mein Liebes. Ich bin's!"

"Troyan?", flüsterte sie und setzte sich auf. Das Küchenmesser hielt sie fest in der Hand.

Troyan schwang sich in den Raum. Dass ich einmal in mein eigenes Haus einbrechen muss!, dachte er und unterdrückte ein Grinsen. Nahezu lautlos schlich er zum Bett und schlüpfte zu seiner Frau unter die Decke.

Erschrocken zuckte sie vor seiner Berührung zurück und hob das Messer zum Stoß. "Was ist das? Verfluchter Geist, weiche vor mir! Im Namen der Segovia!"

Schnell löste Troyan den Zauber und hielt Daria den Mund zu. "Das erkläre ich dir später, Frau. Jetzt leg das Messer weg." Er küsste sie und schnupperte an ihrer Haut. Wie hatte er diesen blumigen Duft vermisst! Glücklich versank er in ihrem weichen Körper und vergaß für kurze Zeit den jungen Mann, der frierend hinter den Büschen lag und auf ihn wartete. Etwas später erzählte er ihr seine Erlebnisse.

"Bist du jetzt ein Magier?", fragte sie verwundert.

"Genau genommen weiß ich nicht, was ich bin. Jedenfalls sind meine Nackenschmerzen weg. Was wollen diese Krieger auf dem Hof?"

Daria drückte sich enger an ihn und er ließ es geschehen. "Kreons Söldner. Seit zwei Tagen warten sie auf dich und den jungen Warroad und plündern unsere Vorräte. Die Bly haben sich mit den Uroad verbündet und Kreon überzeugt, dass Leotanien ohne einen Magierfürsten besser dran wäre. Sie wollen den Jungen um jeden Preis fangen."

"Gegen so eine Übermacht können wir nichts tun. Was sagt Kimon zu der Besetzung des Hofs?"

"Er hat Essad zu seinem Vater geschickt. Lain wird die anderen Höfe alarmieren. Und Bisin geht zu den Tayahi. - Heute morgen wäre es beinahe zu einem Kampf gekommen, weil einer der Söldner eine der Mägde betatscht hat. Fey hätte ihn mit der Mistgabel aufgespießt, wenn Mahan nicht dazwischen gegangen wäre."

Troyan seufzte. Angst und Sorge um seine Frau und seine Kinder hoben ihre hässlichen Gesichter. Er fragte sich, ob er daran schuld wäre. Oder war es sein Schicksal? "Versprich mir, dass du beim ersten Anzeichen von Gefahr in die Dolchgrotte gehst." Die genannte Höhle wurde von Troyans Familie seit Generationen als Versteck vor Feinden benutzt. Eine kleine Quelle stellte die Wasserversorgung sicher und ein Vorrat an Trockenfleisch lag immer bereit.

"Ich verspreche es", flüsterte sie in sein Ohr. "Du bist irgendwie anders, aber ich mag es."

Ja, sie hatte recht. Etwas war anders zwischen ihnen. Das kam ihm jetzt auch zum Bewusstsein. Diese unsichtbare Wand, die ihn immer von seiner Familie getrennt hatte, war verschwunden.

"Jetzt hab ich Hunger", sagte Daria grinsend und verließ die Schlafkammer. Troyan hörte sie mit dem Söldner reden. War das wirklich seine Daria? Solch giftige Töne hatte er noch nie von ihr gehört. Wenig später erschien sie wieder mit einem Teller voll Himbeerkuchen und einem dicken Stück Hammelbraten. Sie schlug einige Stücke Kuchen und den Braten in saubere Tücher. Dann holte sie seinen breitkrempigen Hut aus der Truhe. "Als Tarnung und gegen das kalte Wetter", meinte sie.



Mitternacht war lange vorüber als Troyan zu seinem Gefährten zurückkehrte. Der junge Mann hatte einen magischen Kreis um sich gezogen und schlief darin, fest in seinen Mantel gewickelt. Als Troyan den Kreis durchbrach, schreckte er auf und hob die Hand zu einem Abwehrzauber.

"Lass das! Ich bin's!", beruhigte Troyan ihn. "Ich hab den Larimar."

Karam hob fröstelnd die Schultern. "Mit diesem Hut hätte ich dich fast nicht erkannt. Was hat denn so lange gedauert?"

"Es war noch einiges zu erledigen", wich der Steinsucher aus und hoffte, dass die Dunkelheit sein Grinsen vor dem jungen Warroad verbarg. Dann rief er sich zur Ordnung und berichtete Karam, was er von Daria erfahren hatte.

Die Sterne beleuchteten ein düsteres, junges Gesicht. "Wenn sie mich nicht haben können, wollen sie mich also unschädlich machen. Sogar Kreon!" Das konnte lebenslange Haft bedeuten oder den Tod. Seine Wangenmuskeln arbeiteten und Troyan fühlte, wie sich Karam gegen diese Bedrohung aufbäumte. "Ich muss nach Ren-Selaer." Trotz und die Unbeugsamkeit der Jugend schwangen in diesen Worten. "Ab sofort bist du ein fahrender Sänger. Du hast eine schöne Stimme und jetzt erzähl mir nicht, du kennst keine Lieder."

"Warronen-Lieder kenne ich nicht", wehrte Troyan ab. "Und unsere Lieder sind zu schade für euch. Ihr versteht sie ja doch nicht."

"Gib nicht so an, Troyan!", grinste Karam. "Ihr habt doch sicher Lieder, die nur zur Unterhaltung dienen."

Troyan schnappte zuerst einmal nach Luft. Was erlaubte sich der Junge? Seine Miene verfinsterte sich, doch es gelang ihm nicht, ernstlich böse zu sein. "Du hast ja keine Ahnung", brachte er lahm hervor. "Aber ich wüsste Lieder, die die Ohren der Warronen zum Klingen brächten", meinte er grimmig.

"Diese Lieder solltest du besser nicht singen", schnappte Karam pikiert. Wer kannte nicht die Spottlieder, die die Leotan über Kreon verfasst hatten? Umständlich kramte er im Rucksack und förderte ein fast armlanges Ding in einer gelben Leinenhülle zutage. Es war eine Zedernflöte mit feinen Schnitzereien. "Kannst du die spielen? Shigozu hat sie mir gegeben." Halb und halb überzeugt nickte Troyan. "Gut. Du spielst und ich tanze dazu." Er zeichnete eine Rune in die Luft und im nächsten Moment stand statt des jungen Warroad ein feingliedriges Hündchen mit glattem, hellbraunem Fell und spannenlangem, spitzem Schwanz da. "Spiel etwas", forderte das kleine Tier mit Karams Stimme und erhob sich auf die Hinterpfoten. Troyan entlockte der Flöte eine perlende Tonfolge. Die spitze Schnauze hoch erhoben machte der Hund einige zierliche Tanzschritte.

Troyan lächelte. Es sah zu putzig aus. "Kannst du auch bellen?"

Als Antwort ertönte ein helles Kläffen. Dann stand wieder Karam vor ihm. "Nun? Was sagst du?"

"Es könnte funktionieren. - Wir müssen Loth-Kelling umgehen. Dort kennen mich zu viele Leute. Wenn wir über die Bergwiese gehen, kommen wir zum Kanooga. Eine halbe Meile stromabwärts ist eine Fähre. Wir brauchen nur ein Stück in die Tayonische Steppe gehen. In dieser Gegend rollt sie in großen Wellen zum Froben ...."

"Du willst in die Steppe gehen? Zu Fuß?", regte sich Karam auf. "Die Tayahi werden mich bei lebendigem Leib rösten!"

Troyan kannte die Angst der Warronen. Kreons Großvater hatte sie besiegt, indem er die Steppe in Brand setzte. Tausende Tayahi hatten damals ihr Leben in den Flammen verloren. Seither kämpften die Tayahi nicht mehr gegen die Warronen. Doch noch Jahre nach dem Massaker fand man die verbrannten Überreste von Warronen, die sich in der Steppe verirrt hatten. Das war lange her. Jetzt entzogen sich die Nomaden Kreons Steuereintreibern, indem sie in den Weiten der Graswüste verschwanden. Warronen wussten nie, wo sie nach ihnen suchen sollten. Nur selten fand man die spärlichen Spuren ihrer Lager. "Leotan bekämpfen ihre Feinde nicht mit Feuer", wies Troyan den jungen Magier mit sanfter Bitterkeit zurecht. "Wir werden dem Kanooga auf der linken Seite bis nach Ren-Selaer folgen. Die Ufer sind zumeist dicht mit Bäumen und Büschen bewachsen. Wir können fischen und uns, wenn nötig, verstecken."

Die beiden waren im Laufe des Gesprächs den Berg hinunter gegangen und hatten die Bergwiese erreicht. Im Osten färbte sich der Himmel bereits grau und die Sonne schickte die ersten rosigen Fühler über den Horizont. Troyan fröstelte. Schlafmangel und die herbstliche Morgenkälte setzten ihm zu. Als sie durch das taufeuchte Gras der Bergwiese marschierten, registrierte er mit Befriedigung, dass seine Stiefel innen trocken blieben. Nasse Füße wären das Letzte gewesen, das er sich gewünscht hätte. Die schwarzen Brandflecken schienen sie nachdrücklich an ihre Mission zu gemahnen. Karam hielt den Kopf gesenkt, einen verbissenen Ausdruck im Gesicht, als ginge von der schwarzen Erde eine Bedrohung aus. Auch Troyan mied die Stellen wo ein Magier im mörderischen Duell mit einem Rivalen verbrannt war. Er war froh als sie den Waldrand erreichten.

Eine halbe Stunde später hörten sie das Plätschern des Kanooga. Die Sonne war über den Horizont gekrochen und ein Chor von Vogelstimmen begrüßte sie. Langsam wurde es wärmer. Unter einem dichten Hartriegelbusch entfachte Troyan ein winziges Feuer und kochte Tee. Dazu aßen sie den Himbeerkuchen, den seine Frau ihm mitgegeben hatte. Die gute Daria! Wie gern wäre er jetzt bei ihr!

Eine kalte, harte Spitze drückte sich in Troyans Nacken. Vor Schreck kam ihm ein Stück Kuchen in den falschen Hals und er begann zu husten. Als er den Kopf hob, erblickte er ein grinsendes Gesicht hinter Karam. An der hohen Fellmütze erkannte er einen Tayahi. Eine kräftige Hand drückte einen schwarz glänzenden Dolch gegen Karams Halsschlagader.

"Was haben wir denn da? Einen Nahooni und einen Warroad!" Ein dritter Krieger trat hinter dem Strauch hervor.

Troyan überlegte fieberhaft, was er tun könnte. Die Tayahi empfanden für die Nahooni milde Verachtung, weil sie sich den Eroberern unterworfen hatten. Doch die Warronen hassten sie. Wenn er sich jetzt unsichtbar machte, war Karam verloren. Kein Zauber konnte einen Obsidian-Dolch abwehren.

"Was meinst du, Wissel? Sind sie das?", sprach der dritte Krieger ruhig weiter.

Ein uralter Mann trat, auf einen langen, polierten Stock gestützt, ans Feuer. Sein reich bestickter Kasack aus festem Stoff umschlotterte den ausgemergelten Körper. Die dünnen Beine waren von dicken, grauen Wollstrümpfen umhüllt wie sie die Tayahi statt Hosen trugen. Weiche Hirschlederstiefel komplettierten seine Kleidung. Das also war Wissel, der legendäre Schamane der Tayahi. Niemand wusste, wie alt er wirklich war. "Lasst sie los!", krächzte eine Stimme wie ein halb erwürgter Steppenkauz. "Hast du einen Becher Tee für mich, Nahooni?"

"Mein Name ist Troyan", erklärte der Steinsucher und kam dem Wunsch des Alten nach. "Der Warroad steht unter dem Schutz der Segovia."

Eine Hand wie eine dürre Wurzel winkte beiläufig ab während Wissel geräuschvoll den Tee schlürfte. Die Krieger hatten ihre Dolche weggesteckt und hockten jetzt ruhig in einer Reihe hinter dem Schamanen. Jeder hatte einen kurzen Speer mit scharfer Steinspitze in der Hand, mit dem er jederzeit Troyan oder Karam erreichen konnte.

"Das wissen wir. Ein wenig Honig würde den Tee besser machen", brummte der Alte. "Du bist begehrt, Bürschchen. Deine Leute wollen dir ans Leder. Weißt du, dass dein hübscher Kopf hundert Goldstücke wert ist? Nur dein Kopf, der Rest muss gar nicht mehr dran sein."

Karam erbleichte. "Das glaube ich nicht", protestierte er. "Kreon würde das nie gestatten. Er ist kein Mörder."

Ein hässliches Lachen kam aus Wissels Kehle. "Es wurde von Kreons General höchst persönlich verlautbart. Glaubst du, dass er das ohne das Wissen des Großfürsten tat?"

Wut und Frustration spiegelte sich in Karams Zügen. "Warum kann ich nicht einfach meinen Weg gehen?", rief er aus. "Alle wollen mich haben. Zuerst die Uroad und Bly, jetzt der Großfürst und auch noch die Tayahi!" Die Sprenkel in seinen Augen begannen golden zu funkeln.

Dieses Zeichen kannte Troyan nun schon zur genüge. Wachsam richtete er sich ein wenig auf. Karams überlegenes Magiepotential gegen Wissels jahrzehntelange Erfahrung? Das konnte nicht gut gehen.

Eine milde Herbstsonne schickte, halb verdeckt von einer kleinen weißen Wolke, ihre sanften Strahlen wärmend auf die Schultern der Männer. Eine leichte Brise spielte mit ihrem Haar. Vögel schickten ihre Rufe über den Fluss und ab und zu sprang ein Fisch nach einer Libelle. In dieser friedlichen Umgebung wirkten die grimmigen Mienen der Männer wie ein Sakrileg. Eine kleine Ewigkeit hing die Androhung einer magischen Attacke zwischen den Zauberern, dann brach Wissel den Bann mit einem gackernden Lachen.

"So, wie du aussiehst, willst du dich nicht den Tayahi anschließen", brummte er. "Nun, falls du es dir doch noch überlegen willst. Bei uns bist du vor deinen Warroad-Häschern sicher." Tiefe Verachtung ließ seine Mundwinkel nach unten sinken. "Warronen! Sie fressen ihre eigenen Kinder!" Ächzend kam er auf die Beine. "Wir werden immer in deiner Nähe sein, kleiner Magier, keine Sorge. Nicht ein Haar soll dir ausgerissen werden solange Tayahi über dich wachen."

Die drei Tayahi-Krieger hatten keinen Finger gerührt um dem Alten zu helfen. Jetzt stützte er sich schwer auf seinen Stock. "Du solltest wirklich Honig in den Tee tun, Troyan Steinmagier", sagte er und verschwand mit seiner Begleitung zwischen den Büschen.

Die beiden blieben zuerst einmal eine Zeitlang stumm sitzen und ließen die Begegnung wirken. Langsam kam Troyan zum Bewusstsein, dass die Tayahi keine Sekunde lang eine echte Bedrohung gewesen waren. Wie hatte ihn Wissel genannt? Steinmagier? Im besten Fall war er am Anfang des Weges ein Magier zu werden. Bedächtig schüttelte er die Kuchenkrümel von seiner Kleidung in den Fluss. Sofort schnappten Fische danach. Sie würden nicht hungern müssen. Er drückte sich den breitkrempigen Hut auf den Kopf und sah sich nach Karam um. Der hatte bereits alles eingepackt und stand reisefertig da. "Es ist nicht mehr weit bis zur Fähre", sagte er und wandte sich zum Gehen.

Eine Woche ereignisloser Tage folgte. Die Tayahi behelligten sie nicht als sie ein Stück in die Steppe auswichen um Loth-Kelling zu umgehen. Aber Troyan fühlte sich ständig aus dem Verborgenen beobachtet. Fast unmerklich legte sich ein sanfter Druck auf seine Schultern. Es bereitete ihm keine Schmerzen, nur die vage Erinnerung an frühere Zeiten wurde wachgerufen.

Als die Dächer und Zinnen von Ren-Selaer am Horizont auftauchten, folgten sie der Straße, die zum Tor der Dreizehn Krieger führte. Karam blieb jetzt den ganzen Tag über in seiner Verwandlung als Hündchen. Sie mischten sich unter die Bauern und Händler, die der Hauptstadt zustrebten. Für Troyan war es das erste Mal, dass er die Stadt besuchte.

Die Wachen am Tor winkten die meisten Reisenden weiter, nur ab und zu pickten sie sich einen heraus. Dieses Schicksal widerfuhr auch Troyan. Zwei grobschlächtige Krieger führten ihn in die Wachstube.

"Was willst du in Ren-Selaer?", fuhr ihn ein blonder, scharfäugiger Krieger mit den Abzeichen eines Leutnants grob an. "Dein Gesicht haben wir hier noch nie gesehen. Bist du ein Spion? Den Leotan in den Bergen soll der Hafer stechen. Sie sehnen sich nach einer Abreibung."

"Ich bin Künstler", antwortete Troyan ruhig obwohl alles in ihm nach Flucht strebte. "Ich bin der 'Barde-aus-den-Bergen'." Als Künstler durfte er sich jeden Namen geben, den er wollte.

"So, so, Ein Sänger? Und wozu brauchst du diese Töle?"

Karam drückte sich zitternd gegen Troyans Bein. Seine Angst war sicher nicht gespielt. Der Druck auf Troyans Schultern wurde stärker und ebenso der Wunsch, vor der Berührung des kleinen, warmen Körpers zurückzuweichen. Doch er beherrschte sich und nach kurzer Zeit schwand der Druck wieder. "Er tanzt zu meiner Musik. Willst du eine Kostprobe, Herr?" Schnell hatte Troyan die Flöte aus ihrer Umhüllung geholt und begann zu spielen. Karam hob sich auf die Hinterbeine und hüpfte dazu zierlich im Takt. Troyan spielte ein altes Liebeslied der Leotan, die Werbung eines jungen Mannes um seine Angebetete. Je länger er spielte, umso leichter fühlte er sich. Der Druck schwand nun gänzlich und sein Inneres füllte sich mit Magie. Es war wie ein herrlicher Kristall, der ihn rief, den er nur ergreifen musste. Doch Troyan widerstand der Versuchung. Zu gut wusste er, was ein ungeübter Magier anrichten konnte. Und wenn es nur Aufsehen war. Er beendete das Lied mit einem sehnsüchtigen Triller und setzte die Flöte ab.

Die drei Soldaten starrten ihn an. Auf den Gesichtern der einfachen Krieger glänzte ein dümmliches Grinsen. Alle waren mindestens einen Kopf größer als Troyan, doch jetzt wirkten sie klein und schwach. Der Leutnant hatte sich etwas besser unter Kontrolle. Er räusperte sich energisch. "Das war nicht übel", meinte er und sein Tonfall war deutlich weicher. "Hast du eine Lizenz?"

"Eine was?" Troyan riss die Augen auf. "Ich wusste nicht, dass man zum Musizieren eine Erlaubnis braucht."

"Hier brauchst du eine. Ihr Leotan habt es noch immer nicht begriffen, weil es in euren Köpfen genauso schwarz ist wie das Zeug, das darauf wächst." Offenbar hatte der Leutnant seine sanfte Phase überwunden. "Das kostet zehn Goldstücke."

Traurig schüttelte Troyan den Kopf. "Soviel Geld habe ich nicht."

"Hast du einen Bürgen? Jemanden, der in Ren-Selaer wohnt?", sprach der Leutnant hämisch grinsend weiter. "Wir müssten dich sonst in Verwahrung nehmen."

Eine eisige Schlinge schien sich um Troyans Hals zu legen. Alle Leotan hassten es, eingesperrt zu werden. In Gefangenschaft verloren sie in kürzester Zeit den Lebenswillen und starben. Was würde mit Karam geschehen, wenn die Warronen ihn einsperrten? Sicher töteten sie ihn. Und er selbst würde nie wieder ....... Der Wunsch, sich unsichtbar zu machen, wurde immer stärker.

Laute streitende Stimmen drangen von draußen in den Raum. Dann sprang die Tür auf und ein Knäuel von Männern purzelte geräuschvoll herein. Troyan nahm Karam auf den Arm und wich an die Wand zurück. Er fühlte die Wärme und den rasenden Herzschlag des Hündchens und streichelte es beruhigend. Unter Schimpfen und Fluchen entwirrte sich der Knoten zu vier Leotan, die sich bunte Tücher nach Art der Seeleute um den Kopf gebunden hatten, und zwei weiteren Wachen. Jetzt war die Wachstube so voll, dass man sich kaum bewegen konnte, ohne jemanden anzurempeln. Ein Anflug von Panik bemächtigte sich Troyans. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

"Oh edler Barde!", rief einer der Seemänner enthusiastisch. Seine Wange wies eine zackige Narbe auf, die sein Gesicht für immer schief grinsen ließ und sein geblümtes Kopftuch bedeckte sogar seine Augenbrauen. "Wir haben dein Spiel gehört und wollten dir Ehre erweisen." In seiner Hand glänzte eine daumennagelgroße Türkisperle, die traditionelle Bezahlung für einen Barden.

"Ihr kennt den Mann?", peitschte die Stimme des Leutnants durch die überfüllte Wachstube. Es war klar, dass er sich nicht die Initiative aus der Hand nehmen ließ.

"Oh ja, Herr! Dieser Barde hat uns schon unzählbar oft mit seiner Kunst erfreut und sein Hund tanz wie eine Ballerina. Alle kennen ihn. Wir sind ja so glücklich, dass er sich endlich entschlossen hat, auch in Ren-Selaer seine Kunst zu zeigen." Seine Kameraden nickten eifrig zu diesen Worten und stimmten lautstark zu. "Es wird uns eine Ehre sein, seine Lizenz zu bezahlen."

"Zehn Goldstücke", forderte der Leutnant trocken.

"Mit Vergnügen!", fuhr der Leoti fort und legte einen kleinen Leinenbeutel auf den Tisch.

Der Leutnant öffnete die Verschnürung des Beutels und ein Goldstück nach dem anderen rollte auf das zerkratzte Holz. Troyan zählte zwölf Münzen. Dann wischte eine geübte Hand das Geld vom Tisch.

"Es scheint, dass heute dein Glückstag ist, 'Barde-aus-den-Bergen'", brummte er und kritzelte etwas auf ein Stück Papier. Als Krönung drückte er noch ein Siegel darauf. Dann reichte er es Troyan. "Du darfst auf allen Plätzen und in allen Tavernen spielen, außer auf dem Platz der göttlichen Weisheit. Und jetzt verschwinde, bevor ich es mir noch überlege." Seine langen Finger wedelten heftig. "Raus hier! Alle! Man kann ja kaum noch Luft holen in diesem ekligen Leoti-Gestank."

In Sekunden war der Raum leer. Troyan war naturgemäß einer der letzten, die das Freie erreichten. Als erstes ließ er Karam zu Boden springen, dann sah er sich nach den Seeleuten um. Doch die waren bereits im Gewirr der Gassen von Ren-Selaer verschwunden. Ziellos ging er in die Stadt hinein. Einen jungen Leoti in der Livree eines warronischen Adeligen fragte er nach einer Herberge und wurde zu 'Mutter Julas Suppentopf' gewiesen. Es war kurz nach Mittag. Troyans Magen knurrte auffordernd, denn sie hatten alle Vorräte aufgegessen. Karam wedelte an jeder Bäckerei oder Fleischerei hungrig mit dem Schwanz. Um diese Zeit waren die Straßen wenig belebt. Die wenigen Passanten, die sie trafen, waren warronische Soldaten. Selbst der Markt wirkte verlassen. Gelangweilt hockten die Händler bei ihren Waren. Die meisten hatten nichts anderes zu tun als Fliegen zu verjagen.

Endlich fand er die Herberge, ein einstöckiges Haus mit festen Gittern vor den unteren Fenstern. Neben der Tür hing ein verbeulter Topf an einem eisernen Haken. Er sah so aus als hätte er schon oft als Zielscheibe für Straßenjungen oder Betrunkene gedient. Das achteckige Haus war alt, vielleicht sogar aus der Zeit vor den Warronen als Ren-Selaer noch ein kleines Fischerdorf war. Auf Troyan wirkte es wie ein warmer Mantel, der immer wieder liebevoll geflickt worden war. Hier würde er sich wohlfühlen.



In den nächsten Tagen strich Troyan mit dem als Hund getarnten Karam durch die Stadt. Der junge Warroad wollte schon am ersten Tag zum Platz der göttlichen Weisheit. Doch der Steinsucher überzeugte ihn davon, dass es klüger wäre, zuerst die Lage zu sondieren. Die Atmosphäre in der Stadt erwies sich als angespannt. Leotan, die in Gruppen von mehr als fünf Mann beisammen standen, wurden sofort von Wachen brutal auseinandergetrieben, manchmal verhaftet. Hinter vorgehaltener Hand wurde über Kämpfe in den Bergen gemunkelt. Doch konnte Troyan nichts Genaueres erfahren. Vornehme Warronen erschienen nur noch in Begleitung einer bewaffneten Eskorte in der Öffentlichkeit. Der Platz der göttlichen Weisheit wurde streng bewacht. Der Alabasterthron in der Mitte des Platzes stand wie ein stummes Mahnmal auf seinem erhöhten Podest. Rundherum zog sich ein Kordon von Elitesoldaten. Kreon wollte nichts dem Zufall überlassen.



"Wie willst du auf den Thron kommen?", fragte Troyan seinen Gefährten spät abends in ihrem Zimmer im Obergeschoss der Herberge. "Er wird Tag und Nacht bewacht."

Karam hatte wieder Menschengestalt angenommen. Mit Dehnen und Strecken versuchte er sich wieder an seinen Körper zu gewöhnen. "Ja, das habe ich gesehen. Hast du bemerkt, dass die Elitesoldaten nicht echt waren?"

"Was?" Troyan beschäftigte sich mit der Pflege der Flöte und hob jetzt überrascht den Kopf.

"Das waren Magier. In schöner Regelmäßigkeit, ein Bly, ein Uroad, ein Bly, ein Uroad und so weiter. Rund um den Thron. Sie haben sich getarnt."

Vorsichtig steckte Troyan das Mundstück wieder an seinen Platz und ließ das Instrument in das Leinenfutteral gleiten. Dann holte er seinen Rucksack unter dem Bett hervor und kramte darin herum. "Wo ist er denn nur?", brummte er dabei.

"Suchst du den Larimar?" Karam hielt den blauen Stein hoch. "Wenn ich ihn als Hund ins Maul nehme ..."

"Da ist er!", rief der Steinsucher und hielt Karam den Karneol hin, den er in Shigozus Höhle besungen hatte.

Der junge Mann lächelte. "Das ist eine zusätzliche Hilfe. So könnte es gehen."

"Was hast du vor?", forschte Troyan.

Flüsternd erklärte Karam seinen Plan. Tiefe Sorgenfalten gruben sich in Troyans Stirn. Doch der junge Magier ließ sich nicht von seiner Absicht abbringen. Immer wieder sagte er dem Älteren magische Worte vor und ließ ihn bestimmte Gesten wiederholen. Endlich war er zufrieden. Seufzend überließ Troyan Karam das Bett und rollte sich auf den Dielen zusammen. Der Junge sollte morgen gut ausgeruht sein. Seine Gedanken wanderten zu Daria und seinen Töchtern. Ob es ihnen gut ging? Er richtete ein stummes Gebet an die Segovia. Dann lauschte er noch lange Karams gleichmäßigen Atemzügen, bis auch er einschlief.



Harte Schläge gegen die Haustür und rauhe Männerstimmen, die energisch Einlass begehrten, weckten die beiden. Die Sonne war gerade erst über den Horizont geklettert und beleuchtete groß und in dunklem Orange die Stadt. Ein Schwarm Krähen flog krächzend über die Dächer hinweg, Boten des nahenden Winters. Ren-Selaer duckte sich zum Sprung. Die Spannung hatte ihren Höhepunkt erreicht.

Das Klappern von vielen Pferdehufen drang durchs Fenster und im Schankraum grummelte Jula ein mürrisches "Ich komm ja schon!"

Troyan warf sich eiligst in seine Kleider nachdem er Karam mit einem unsanften Fußtritt geweckt hatte. Gähnend folgte der Warroad seinem Beispiel. Eben hatte sich Troyan den Hut über den Kopf gestülpt und die Flöte zur Hand genommen, als auch schon die Tür aufflog und vier Soldaten in die Kammer stürmten.

Karam!, schoss es ihm durch den Kopf. Doch schon ertönte ein helles Kläffen. Grobe Fäuste drückten ihn gegen die Wand. "Du bist verhaftet!", brüllte einer der Soldaten.

Julas rundes Gesicht tauchte hinter den Soldaten auf. Sie hielt einen großen Fleischschlegel in der Hand. "Ein Barde ist ein heiliger Mann!", schrie sie wütend. "Rührt ihn nicht an!"

Karam sprang inzwischen bellend zwischen den Beinen der Männer herum. Immer wieder schnappte er nach den Fersen der Bewaffneten. Ein schrilles Jaulen bewies, dass diese Aktionen nicht ungefährlich waren.

"Er ist neu in Ren-Selaer und damit ein Spion der Rebellen." Überzeugt von seiner Logik zog der Soldat einen festen Strick aus seinem Gürtel. "Haltet ihn fest."

Karam sprang hoch und biss den Mann in den Hosenboden. Mit einem Schrei fuhr dieser herum. "Verdammtes Vieh!", fluchte er und gab dem Hündchen einen Fußtritt, der es die Treppe hinunterkugeln ließ.

Jula schrie dazwischen und ließ rein zufällig ihren Fleischschlegel auf den Fuß eines anderen Soldaten fallen. "Die Segovia wird euch verbrennen!", brüllte sie und ruderte wild mit ihren dicken Armen.

Troyan konnte sich in dem Tumult losreißen. Schlagend und tretend kämpfte er sich aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter, durch den Schankraum und zur Hintertür hinaus. Ein ringsum von Mauern umschlossener Hof stoppte seine Flucht. Karam saß vor einem großen Mülleimer und leckte sich die linke Vorderpfote. Ein alter Mann fegte Abfälle auf einen Haufen. Jetzt will ich unsichtbar sein!, dachte Troyan mit Inbrunst und fühlte wie sich die Magie in ihm entfaltete. Der Alte ließ den Besen fallen und riss die Augen auf. Sein Unterkiefer klappte herunter und enthüllte einen einsamen Zahn. Polternde Schritte kündeten das Nahen der Soldaten. Da verschwammen die Umrisse des Hündchens und eine genaue Kopie des Alten erschien. Mit kraftvollem Schwung warf der zweite Alte das Original in einen leeren Mülleimer und nahm den Besen auf. Keine Sekunde zu früh! Denn schon sprang der erste Soldat auf den Hof.

"Wo ist er?", schrie er und fuchtelte dem Alten mit dem Schwert vor der Nase herum.

"Über die Mauer", stammelte dieser verschreckt und zog den grauen Kopf ein. Seine schwielige Hand deutete auf die hintere Wand. Die restlichen Soldaten erschienen.

"Raus hier! Er ist geflüchtet", knurrte der erste Soldat grimmig. Alle machten kehrt und rannten zur Vordertür hinaus.

Troyan löschte den Zauber und lehnte sich zitternd gegen die Mauer. Das fängt ja gut an, dachte er.

Aus dem Mülleimer tauchte der Kopf des Alten auf. "Kann ich jetzt wieder rauskommen?", fragte er grinsend.

Jula stand in der Tür, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Sie musterte Karam, der nun in seiner wahren Gestalt vor ihr stand. "Du musst der Magierfürst sein von dem soviel gemunkelt wird", stellte sie ruhig fest. "Und du bist der unsichtbare Mann."

Troyan nickte knapp. Sie war eine Leoti, hatte für sie gekämpft und würde sie nicht verraten. "Wir müssen zum Platz der göttlichen Weisheit. Welcher Weg ist der sicherste?", kam er sofort zur Sache.

"Ihr geht am besten durch die Straße der Lastträger. Sie führt direkt an euer Ziel. Von hier aus ist sie die zweite Quergasse rechts."

"Karam!" Troyan rückte seine Flöte zurecht und ging auf die Tür zu.

"Halt! So einfach ist das nicht!" rief Jula und drückte jedem einen Becher heiße Ziegenmilch in die Hand. "Die Leotan in den Urosch-Bergen haben sich erhoben. Einige Höfe sollen niedergebrannt worden sein. Kreon hat ein generelles Ausgehverbot für alle Leotan erlassen. Alle Reisenden werden verhaftet. Nur mit einer Sondererlaubnis darf man auf die Straße. Die Tore sind geschlossen und mit doppelten Wachen versehen. Ren-Selaer befindet sich im Belagerungszustand. Wenn du ...."

Troyan hörte nicht mehr hin. Daria! Seine Töchter! Seine Brüder! Der Hof! Angst und Sorge um seine Familie ließ ihn zittern. "Hast du Nachricht vom Kristallsängerhof?", bestürmte er die Wirtin. Am liebsten wäre er so schnell als möglich heimgekehrt. Aber das war nicht möglich. Er fühlte sich gefangen wie eine Fliege in einem Spinnennetz.

"Kristallwas?" Jula kratzte sich hinterm Ohr. "Namen wurden nicht genannt. Aber Loth-Kelling ist ein Heerlager geworden."

Troyans Züge verhärteten sich. "Karam! Bei Fuß!", kommandierte er.

Der junge Magier setzte zu einer empörten Entgegnung an. Dann lachte er, zeichnete eine Rune in die Luft und schon stand das Hündchen vor ihnen. Jula gab ihnen noch einen kleinen Laib Brot und ein dickes Stück Schinken. Dann machten sie sich auf den Weg, Troyan als Unsichtbarer und Karam in Hundegestalt.

Bis zum Platz der göttlichen Weisheit kamen sie ohne Probleme. Die Straßen waren voller Soldaten, doch der kleine Hund erhielt keine Beachtung. Dort drückte sich Karam in einen dunklen Hausflur und flüsterte: "Ich werde jetzt gehen. Du weißt, was du zu tun hast?"

Troyan hauchte ein "Ja!". Sie hatten alles genau besprochen und geübt. Fast gleichzeitig atmeten beide tief durch. Der Steinsucher packte seine Flöte aus und Karam lief schnüffelnd auf den Platz hinaus. An einer Laterne hob er das Bein und erleichterte sich. Troyan musste trotz seiner Anspannung grinsen. Bis jetzt beachteten die getarnten Magier den Hund nicht. Sie waren die einzigen Menschen, die sich hier aufhielten. Als Troyan ein wenig Magie zu Hilfe nahm, konnte er ihre Verkleidung durchschauen. Tatsächlich umstanden abwechselnd ein Bly und ein Uroad den Alabasterthron. Karam näherte sich jetzt wie zufällig dem Kordon der Wächter. Ein Uroad sah in seine Richtung. Das Hündchen kam schwanzwedelnd näher und stieß ein leises Winseln aus. Die Miene des Uroad zeigte widersprüchliche Gefühle. Sollte er das Tier verjagen oder nicht? Plötzlich sprang der Hund zwischen den Beinen eines Bly durch und mit einem gewaltigen Satz auf dem Thron. Sekunden später hatte er sich in seine Menschengestalt zurückverwandelt. In der Linken hielt er den Larimar hoch über den Kopf. Azurblaue Strahlen flossen in sanften Wellen aus dem Stein. Erst wenn das Blau ihn samt Thron und Podest eingehüllt hatte, war seine Macht gesichert. Seine Rechte umschloss den Karneol. In den Kordon von Wachen kam Bewegung.

"Ich beanspruche mein Recht als unabhängiger Magierfürst!", rief er mit lauter Stimme in den Tumult, den sein Sprung ausgelöst hatte.

Die Magier ließen ihre Tarnung fallen und richteten sich gegen den Thron. Ihre Hände hoben sich zu einer gewaltigen magischen Attacke. Plötzlich strömten Leotan schreiend aus den Häusern. Troyan sah viele in den Wollstrümpfen der Tayahi. Auch einige Seeleute waren darunter. Steine und einige Messer flogen auf die Magier zu und störten ihre Konzentration. Aus den Straßen kamen Soldaten und griffen in das Geschehen ein. In kurzer Zeit war eine wilde Schlacht im Gange. Troyan drückte sich gegen die Hauswand und setzte die Flöte an. Schon nach den ersten Tönen ließ er machtvolle Magie in die Musik fließen. Das magische Gespinst der vereinigten Uroad und Bly bekam Risse. Das gab Karam Gelegenheit zur Gegenwehr. Roter Schein strömte aus dem Karneol und fügte dem Zauber der Magier noch mehr Schaden zu. Der blaue Schein hatte jetzt seinen Kopf erreicht und floss langsam über sein Kinn.

Inzwischen spielte Troyan unverdrossen weiter. Immer wieder musste er Kämpfenden ausweichen, wenn sie ihm zu nahe kamen. Ein Schlag traf seinen Arm und dann sank ein Leoti-Seemann mit einer tiefen Brustwunde gegen ihn. Noch im Fallen rammte er einem Warroad-Krieger seinen Dolch in den Bauch. Der Steinsucher unterbrach sein Spiel und ließ den Schwerverletzten vorsichtig zu Boden gleiten. Für kurze Zeit wurde er sichtbar. Das bunte Kopftuch der Sterbenden verrutschte und enthüllte die Stirntätowierung eines Gorgo. Troyan sog vor Überraschung scharf die Luft ein und zog das Tuch schnell wieder über die Stirn des Mannes. "Shigozus Gruß an den Magierfürsten und den unsichtbaren Mann", röchelte dieser und starb.

Schnell machte sich Troyan wieder unsichtbar und sah sich um. Kleine Gruppen von Männern mit Kopftüchern kämpften zwischen den Leotan. Waren das alles Gorgotan? Sein Blick fiel auf Karam. Blendende Blitze schossen aus dem Karneol und brachten Tod und Verderben über die angreifenden Magier. Einige lagen schon regungslos am Boden. Die Strahlen des Larimar hüllten bereits seine Brust ein. Wieder spielte Troyan die magische Melodie und konzentrierte sich dabei auf einen Bly. Schon nach kurzer Zeit begann der Mann zu schwanken. Ein roter Pfeil aus dem Karneol gab ihm den Rest. Als nächsten nahm er einen Uroad aufs Korn. Das magische Gewebe zerriss immer mehr. Auch der Thron erglühte jetzt in strahlendem Blau.

Jetzt übertönte Hufschlag den Kampfeslärm. Kreons berittene Garde rückte an. Die Leotan verschwanden blitzschnell hinter Türen und dunklen Ecken. Nur die Seeleute kämpften verbissen weiter. Einer nach dem anderen wurde niedergemacht. Doch ihr Opfer hatte vielen einen sicheren Abzug ermöglicht.

Als die ersten Gardisten den Platz der göttlichen Weisheit erreichten, gab es nur noch Soldaten und einige tote Leotan zu sehen. Der Alabasterthron mit dem Magierfürsten lag sicher unter einer azurblauen schützenden Glocke. Die Hand mit dem Larimar lag locker in Karams Schoß. Seine Macht war gesichert. Müde Soldaten sammelten sich ächzend und stöhnend und zogen Zug für Zug ab. Bald waren die Gardisten die einzigen auf dem Areal. Nur ein paar Blutlachen zeugten von der Schlacht.

Ein Ziehen im linken Arm entlockte Troyan ein leises Stöhnen. Erstaunt sah er den blutgetränkten, aufgeschlitzten Ärmel. Da musste ihn ein verirrter Hieb getroffen haben. Mit zusammengebissenen Zähnen riss er einen Streifen Stoff von seinem Unterhemd und band ihn um den Arm.

Die überlebenden Magier sammelten sich in zwei Gruppen. Alle waren vom Kampf arg zerzaust. Troyan erkannte Lusander unter den Bly. Noch immer zeigte sein Gesicht Spuren von Karams Feuerpfeilen. Jetzt waren einige neue Verletzungen dazugekommen.

Wieder erklang Hufschlag und dann ritt Kreon selbst auf den Plan, an seinen Seiten die Führer der beiden Magier-Schulen, umgeben von seiner Leibwache. Vor dem Alabasterthron hielt er seinen prächtigen Falben an. Durch das Podest befanden sich Großfürst und Magierfürst auf gleicher Höhe. Entgeistert starrte Kreon den jungen Mann an. Er schien nicht glauben zu können, was er sah. Keuchend rang er nach Worten. "Du? Bist du es wirklich, Maranka, mein Sohn?", brachte er endlich heraus. "Oder ist das nur eine grausame Täuschung?"

Ein Schleier schien von Karams Gürtel zu gleiten. Die reiche Stickerei der Ro-Connach kam zum Vorschein, der Königsclan. "Ich bin Karam Magierfürst."

Troyan grinste. Er hatte zu einem Warroad-Prinzen "Bei Fuß!" gesagt. Das war noch keinem Leoti gelungen. Zumindest hatte es keiner überlebt.

"Mein Sohn!", rief Kreon jetzt aus und erbleichte. Der Abt der Uroad und der Großmeister der Bly stiegen von ihren Tieren und beugten die Knie vor Karam. Ihre Mienen waren verbissen, doch der überlegenen Macht des Fürsten mussten sie sich unterwerfen.

"Er ist jetzt mein Sohn!", schrie Lusander triumphierend und trat vor. "Er hat aus meinem Becher getrunken!"

"Du hast mich gefesselt und mir gewaltsam dieses scheußliche Gesöff eingeflößt!", knirschte Karam wütend. "Der Larimar wird die Wahrheit meiner Worte beweisen." Rein und klar strahlte der blaue Stein in Karams Hand.

Lusanders Blicke jagten gehetzt vom Großfürsten zu seinem Meister. "Aber ... aber ich ..." Eisiges Schweigen ließ auch sein Stammeln verstummen. Die anderen Bly-Magier gingen zu ihm auf Abstand. Unsicher an der Unterlippe nagend wich Lusander Schritt für Schritt zurück. Schließlich drehte er sich um und rannte davon. Er erreichte die Abgrenzung des Platzes nicht. Ein Feuerball aus der Hand des Großmeisters hüllte ihn ein. Als er erlosch lag nur noch ein Häufchen Asche auf dem Pflaster.

Karam wandte sich ruhig an Kreon. "Die Kämpfe gegen die Leotan müssen sofort eingestellt werden", forderte er kalt.

Kreons Gesicht verfinsterte sich. Zähneknirschend gab er einem Gardisten einen Befehl und reichte ihm dazu seinen Siegelring. Im Galopp verließ der Bote den Platz der göttlichen Weisheit. Noch schien Kreon seine Niederlage nicht in vollem Ausmaß begriffen zu haben. Mit hängendem Kopf wendete er sein Pferd und machte sich mit seinem Gefolge auf den Weg zum Palast.

Karam blieb noch eine Weile sitzen, dann stieg er mit zitternden Knien vom Alabasterthron. Die gleißende Aura der Macht war erloschen. Jetzt war er nur noch ein erschöpfter, junger Mann, obwohl ihn noch immer ein zarter blauer Schein umgab. Er würde ihn den Rest seines Lebens nicht mehr verlassen. "Hast du noch ein Stück von dem Schinken?"

Ein Rumpeln in der Magengegend machte Troyan auf seinen eigenen Hunger aufmerksam. Die Sonne hatte fast den Zenit erreicht und schien nun lächelnd vom Herbsthimmel. Brüderlich teilten sie die Reste von Julas Brot und Fleisch.

"Ich muss nach Hause", drängte Troyan während sie zurück zur Herberge schlenderten. Die Straßen waren noch leer, doch hinter den Fenstern tauchten einige bleiche Gesichter auf.

"Ruh dich zuerst einmal aus und lass deine Wunde versorgen", riet Karam.

Der Vernunft gehorchend stimmte der Steinsucher zu. Doch schon am nächsten Morgen verließ er Ren-Selaer. Eine Woche später marschierte er durch Loth-Kelling. Eine ganze Häuserzeile war niedergebrannt und am Friedhof gab es eine große Anzahl frischer Gräber. Doch die Menschen arbeiteten bereits am Wiederaufbau. Kein einziger Soldat war zu sehen. Wenige Stunden später würde er den Hof erreicht haben. Die Bäume hatten alle Blätter abgeworfen und die Schwalben waren längst nach Süden gezogen. Heftige Regengüsse in den letzten Wochen hatten tiefe Rillen auf der Straße ausgewaschen. Im nächsten Frühjahr würde man sie mit Schotter auffüllen müssen. Je näher er dem Hof kam, umso mehr zögerte er. Brandgeruch lag in der Luft. Was erwartete ihn? Dünne Rauchfäden hoben sich über die Bäume. Kamen sie von Herdfeuern oder glosenden Ruinen? Ganz gleich, was er vorfand, das Leben würde nie mehr so sein wie früher. Er hatte sich verändert. Die Welt hatte sich verändert. Leotan und Gorgotan hatten Seite an Seite gekämpft. Darüber konnte niemand einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Er gab sich einen Ruck und ging um die letzte Wegbiegung.

Vor ihm lag der Kristallsängerhof. Ja, hier war gekämpft worden. Einer der Ställe und seine Werkstatt lagen in Trümmern. Sein Haus war zur Hälfte verbrannt, doch emsige Hände waren dabei den Schaden auszubessern. In der Abenddämmerung sah er Männer mit Äxten und Hämmern am Werk. Zaghaft setzte er einen Fuß vor den anderen. Dann sprang ihn einer der Hunde an und leckte stürmisch seine Wange. Mit den anderen Hunden jaulte er seine Begrüßung.

Mahan war der erste, der auf ihn zuging. Ein angeschmuddelter Verband bedeckte sein rechtes Auge und er hinkte ein wenig. "Troyan!", stieß er hervor. "Wir dachten schon ...." Überrascht riss er das gesunde Auge auf als ihn sein Bruder an die Brust drückte.

"Wo ist Daria und die Mädchen?", fragte Troyan rauh. Schon scharten sich die Bewohner des Hofes um die beiden, riefen Grüße und klopften ihm auf die Schultern.

"Sie wohnen im Haupthaus, bis deines wieder bewohnbar ist. Kurz nach Keshas Verlobungsfeier ging es hier los." Er verstummte als er Troyans betroffenes Gesicht sah. "Es tut mir leid, Troyan", murmelte er verlegen. "Wir dachten wirklich, du kommst nicht wieder."

Keshas Verlobungsfeier. Ein schmerzhafter Stich ließ den Steinsucher zusammenzucken. Sein Blick glitt über die Männer, Frauen und Kinder seiner Familie. Fast alle waren da. Kimon, Yori, Eikan, Mahans Frau und Kinder, Bisin und Fey. Fast alle Männer trugen irgendwo einen Verband. Doch wo war seine Frau? Seine Kinder? Die Tür des Haupthauses flog auf und Daria stürzte heraus, Samira an der Hand. Hinter ihr humpelte Essad, auf Kesha gestützt. Die anderen machten Platz und Troyan legte glücklich seine Arme um Daria. Gierig sog er den Duft ihres Haares ein und genoss die Wärme ihres weichen Körpers. Dann umarmte und küsste er seine Töchter und Essad. Ihr Erstaunen über sein lockeres Verhalten tat ihm ein wenig weh, doch das Glück alle wohlauf zu sehen entschädigte ihn wieder. Zusammen gingen sie in die Medizinhütte, um der Segovia zu danken. Ein Beutel fehlte an den Ästen des heiligen Baums.

"Nabis ist im Kampf gefallen", sagte Daria leise. "Wir trauern noch immer um ihn."

"Er wird mir fehlen. Ich habe seine wilden Späße geliebt", seufzte Troyan.

"Nächsten Sommer wird ein neuer Beutel hier hängen", sprach Daria weiter und legte eine Hand auf ihren Bauch. "Wir bekommen ein Kind. Vielleicht wird es ja ein Sohn."

"Wie kannst du schwanger sein?", rief Troyan aus. "Ich war doch mehr als einen Monat nicht hier."

"Einmal warst du hier", erinnerte sie ihn. "Da hast du den Larimar geholt. Das genügt doch."

Troyan musterte seine Frau. Noch war ihr Bauch flach, obwohl ein kleines Leben in ihm keimte. "Es wird wieder ein Mädchen, verlass dich darauf", lächelte er. "Steinmagier haben nur Töchter."


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