STORIES


EPONA

von Susanne Stahr



Crimor warf plötzlich den Kopf zurück und spitzte die Ohren. Dann wieherte er lang und schrill, übersprang die Kette, die die Ovalbahn verschloß und stürmte dem Wald entgegen. Verärgert versuchte Höski das rasende Pferd zu parieren. Seine langen kräftigen Beine drückten gegen die Flanken und seine Hände ruckten am Zügel. Dazu sprach er beruhigend auf den Gaul ein. Nichts zu machen. Da fiel sein Blick auf die Reiterin und er ließ den Falben laufen. Was er sah, weckte eine unerklärliche Sehnsucht in ihm. Ein schneeweißes Pferd ohne Sattel und Zaumzeug. Die Reiterin, ganz in Blau, das lange dunkle Haar hinter ihr her wehend.

Jetzt drehte sie sich zu ihm um und winkte. Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen. Doch auf diese Entfernung war das unmöglich. Nur ein Gefühl der Vertrautheit durchzuckte ihn.

Crimor gab alles her, das er an Kraft hatte. Der Schaum flog in großen Flocken von seinem Maul. Doch er konnte die ferne Gestalt nicht einholen. Auch der Nebel wurde immer dichter, bis er schließlich Pferd und Reiterin verschluckt hatte. Langsam beruhigte sich Höskis Tier. Ein letztes Mal warf es den Kopf hoch und wieherte. Dann blieb es mit bebenden Flanken stehen und den drehte den Kopf seinem Reiter zu. "Sie ist weg." schienen Crimors Augen zu sagen. "Tut mir leid, daß ich nicht schnell genug war." Dann senkte er den Kopf und riß ein Grasbüschel aus.

Höski saß wie versteinert im Sattel, kaute an seiner Unterlippe und starrte in die Nebelwand. Sein Blick glitt langsam zu Boden und blieb an einem glänzenden Gegenstand hängen. Bedächtig saß er ab, strich eine weizenblonde Locke aus der hohen Stirn und ging auf den glitzernden Punkt zu. Es war ein Hufeisen. Das weiße Pferd mußte es verloren haben. Es war ein merkwürdiges Hufeisen. An seiner Außenkante waren unverständliche Zeichen eingeritzt. Als er es berührte, durchfuhr ihn ein elektrischer Schlag und eine Vision von rasenden Hufen stieg vor seinem geistigen Auge auf. Erschrocken riß er die Hand zurück. Da ertönte hinter ihm plötzlich ein rauhes Lachen und eine spöttische Stimme sagte: "Heb es doch auf! Es ist für dich. Das silberne Hufeisen Eponas"

Höskis langer schlanker Körper wirbelte herum. Aber da war niemand. Nur sein verschwitztes Pferd grinste ausgesprochen unverschämt. Wieder streckte er die Hand nach dem Hufeisen aus. Doch bevor er es erreichte, läutete der Wecker und er erwachte klopfenden Herzens und am ganzen Körper zitternd.

Mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich durchs Haar und schüttelte den Kopf. Nein, es war nur ein Traum. Silberne Hufeisen und sprechende Pferde gab es nur in Träumen. Seine Nerven hatten ihm einen Streich gespielt. Das war auch kein Wunder, denn heute war der zweite Turniertag.

Bedächtig erhob er sich und suchte nach seiner Armbanduhr, als ein blendender Blitz durch seinen Körper fuhr. Vor ihm, auf dem Nachttisch, lag das silberne Hufeisen. Eine Gänsehaut jagte über seinen Rücken und jedes Haar stellte sich einzeln auf. Entsetzt stierte er das Hufeisen an, doch es lag einfach da, glänzend und aus massivem Silber. Ärgerlich warf er es in die Lade und kleidete sich hastig an.

Im Laufe des Tages vergaß er den Traum wieder. Das Turnier nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Nur einmal, kurz vor der Rennpaßprüfung, tauchte ein Gesicht in der Menge der Zuschauer auf. Langes dunkles Haar, eine zierliche Figur, sicher über Dreißig. Die Frau rief etwas und winkte. Zwei Kinder kamen gelaufen und schmiegten sich an ihre Seiten. Bei diesem Anblick blitzte wieder die Vision von rasenden Hufen und wehendem Haar auf.

Dann wurde sein Name aufgerufen. Er begab sich zum Start. Konzentration, sagte er sich. Doch offenbar war er zu abgelenkt. Sein Pferd galoppierte durch und er wurde disqualifiziert. "Scheiße!" schrie er und einige Zuschauer lachten, doch ihm war gar nicht danach.



Die beiden Faune saßen einander gegenüber. Zwischen ihnen war eine runde Fläche hellen Sandes. Jeder hatte einige Schalen mit farbigem Sand vor sich stehen.

"Wir können beginnen." sagte der Ältere.

"Fang du an." gab der Jüngere zurück und beugte sich vor, um das Werk seines Vaters zu betrachten.

Dieser griff in eine Gefäß mit grünem Inhalt, nahm eine Handvoll heraus und ließ die Körner langsam auf die helle Fläche rieseln. Eine grüne Straße begann sich durch die Wüste zu winden. "Glaubst du, daß es gelingt?" fragte er nachdenklich.

"Epona hat noch alles erreicht, was sie wollte." antwortete der Junge vertrauensvoll.

Eine Zeitlang arbeitete der ältere Faun schweigend. Dann lehnte er sich zurück und massierte seinen haarigen Rücken. "Du bist an der Reihe, Sohn."

Der Jüngere nahm eine Prise violetten Sandes und verteilte ihn kunstvoll. "Warum gerade diese Frau? Sie ist zu alt und dazu noch mentalstabilisiert. Wenn sie nicht mitmacht, ist alles umsonst."

Der Alte machte eine weit ausholende Geste. "Die Frau ist das Tor. Nur durch sie kann Epona ihn erreichen, denn er ist nicht von ihrem Blut."

"Und du meinst, sie will ....?"

"Halt!" fiel ihm der Ältere ins Wort. "Das genügt. Mehr hat sie diesmal nicht erreicht."

Der Jüngere zog seine Hand zurück und ließ ein paar Sandkörner in die Schale zurückfallen. Er wird nicht begeistert sein von dem, was Epona getan hat." meinte er zweifelnd. "Ich wäre wütend an seiner Stelle. Sie hat sein Pferd durchgaloppieren lassen."

"Schweig!" herrschte ihn sein Vater an. "Kritik an Epona steht dir nicht zu. Diene, sonst nichts!"

Damit erhoben sie sich und trabten auf den Wald zu. Die Schalen mit dem farbigen Sand ließen sie bei dem Fragment zurück.




Eine Bewegung am Rande seines Blickfeldes veranlaßte Höski, sich umzudrehen. Aber da war niemand. Die Pferde standen ruhig in den Ständen und fraßen mit mahlenden Bewegungen das duftende Heu, das er ihnen gerade gegeben hatte. Schon wollte er sich abwenden. Da war es wieder. Eine zierliche Gestalt bewegte sich zwischen den Tieren. "Was machen Sie da?" rief er. Doch die Frau in Blau antwortete nicht und glitt nur geschmeidig zwischen den Pferden durch. Er sah nur noch eine Fülle dunklen Haares in der Sattelkammer verschwinden. Mit schnellen Schritten folgte er ihr und blieb wie angewurzelt unter der Tür stehen.

Die Frau hielt sein privates Zaumzeug in der Hand und war damit beschäftigt, eine Schnalle zu lösen. Fordernd streckte er die Hand aus, um sie zu hindern. Da wirbelte sie herum. Ihr Haar wehte wie ein Vorhang im Wind und brachte eine Wolke von frischem Gras mit einem Hauch Pferdegeruch in seine Nase. Sie lächelte ihn an. "Höskuldur!" Die Nennung seines vollen Namens wirkte wie ein Peitschenhieb auf ihn. Verzweifelt versuchte er, sich zu bewegen, konnte aber keinen Finger heben. Von der Frau ging etwas Unbeschreibliches aus, das ihm Angst machte und ihn lähmte, obwohl er keine Bedrohung fühlte.

"Höskuldur, gib mir deine Hand!" Ihre Stimme war weich und bittend. Langsam kam sie näher. Mit jedem ihrer Schritte wurde der Wunsch zu fliehen in ihm stärker. Ihre feingliedrige Hand berührte leicht die seine und die Wände der Sattelkammer verschwammen. Erstaunt sah er die Bäume durch das Mauerwerk schimmern. Seine Angst steigerte sich zum Entsetzen. Mit schier unmenschlicher Anstrengung machte er einen Schritt rückwärts. Die Gestalt verschmolz seufzend mit der transparenten Wand. Dann normalisierte sich alles wieder. Die Wand war wieder eine feste, undurchdringliche Wand. Nur sein Zaumzeug lag am Boden, in sämtliche Einzelteile zerlegt. Als er sich bückte, um es aufzuheben, fühlte er den leisen Stoß einer Pferdenase.

"Du Esel! Warum gehst du nicht mit ihr? Sie beißt nicht!" erklang eine sarkastische Stimme.

Höski drehte sich wütend um und schnappte: "Halts Maul, Aska, blödes Vieh! Das ist meine Sache!" Dann mußte er lächeln. Er hatte mit einem Pferd gesprochen. Das Lächeln umspielte noch seine Lippen, als er die Augen aufschlug.

Es war Nacht., Aber irgend etwas stimmte nicht. Eigentlich sollte es doch stockfinster sein. Dennoch erhellte ein silbriger Glanz sein Zimmer. Er richtete sich halb im Bett auf und suchte nach der Quelle des Lichts. Der Mond? Nein, heute nacht schien kein Mond. Das Licht kam aus seiner Nachttischlade, die einen Spalt breit offen stand. Verwundert zog er sie auf. Da wurde es schlagartig hell. Wellen silbernen Lichtes gingen von dem mysteriösen Hufeisen aus. Es schien größer zu werden, als er sich darüber beugte. Im Innern des silbernen Bogens stieg feiner Nebel auf, verdichtete sich und gab dann den Blick auf eine kleine Waldlichtung frei. Ein mit feinem Kies bestreuter Weg führte zu einem Rund aus hellem Sand. Grüne und violette Linien zogen sich in verwirrenden Bögen über die sonst makellose Fläche. Nachdenklich betrachtete er das Muster. "Es ergibt keinen Sinn." fuhr es ihm durch den Kopf.

"Es ist noch nicht fertig." korrigierte die weiche Stimme der Frau.

Fluchend warf Höski die Lade zu. Das Licht erlosch und er saß im Finstern. Mit einem Anflug von Verzweiflung biß er in seinen rechten Daumen. Es tat weh. "Also bin ich doch wach." murmelte er und zwang sich, die Lade zu öffnen. Das Hufeisen lag noch immer an seinem Platz, doch ohne seinen geisterhaften Schimmer. Gedankenvoll schloß er die Lade wieder und streckte sich lang aus.

Seit mehreren Wochen lag das Eisen in der Lade. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht. Einige Zeit hatte er versucht herauszufinden, woher es stammte. Schließlich stellte es einen nicht unbeträchtlichen materiellen Wert dar. Ein Geschenk seiner Freundin? Aber jedes Mal, wenn er davon sprechen wollte, war seine Kehle wie zugeschnürt. Es war ihm auch nicht möglich, es los zu werden. Sobald er es berührte, bekam er einen elektrischen Schlag, sein Blick wurde gefangen und er hatte das Gefühl unendlich langsam in einen bodenlosen Abgrund zu sinken. Bisher war es ihm jedoch noch jedes Mal gelungen, seinen Blick rechtzeitig loszureißen. Und in der Folge vermied er es, die Herkunft des Hufeisens zu erforschen. Er versuchte, es zu vergessen. Mit einem letzten wütenden Blick in Richtung seines Nachttisches drehte er sich um und schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen erwartete ihn eine Überraschung. Irgend jemand hatte über Nacht sein Zaumzeug zerlegt. Beim Anblick dieses wirren Haufens von Riemen lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Unter Fluchen machte er sich an die Arbeit. Mißtrauisch suchte er nach dem impertinenten Grinsen in Askas Pferdegesicht, konnte aber nichts entdecken. Sie stand einfach nur da und glotzte. Ärgerlich sprang er auf und führte sie auf die Weide. Dann schloß er die Tür und vollendete sein Werk.



Du solltest jetzt mit gelb weitermachen." sagte der ältere Faun.

"Gelb?" Der Jüngere schüttelte den Kopf. "Orange wäre besser."

"Nein, gelb." beharrte sein Vater.

Nun gab der andere mit einem Nicken nach und ließ gelben Sand durch die Finger rieseln. "Warum hat sie ihm das Muster gezeigt?" fragte er beiläufig.

"Frag nicht soviel!" schalt der Ältere. "Wir dienen der Göttin Epona. Was gibt es da zu hinterfragen? Sie wird schon wissen, was sie will."

"Du bist so schrecklich gehorsam und unterwürfig." murrte der Junge.

"Ich habe meine Lektion gelernt." gab der Alte zurück Dann ergriff er die Schale mit dem blauem Sand und überlegte. "Nein, türkis." murmelte er dann. "Und schwarz. Es wird die Konturen verbessern." Beide arbeiteten konzentriert und präzise.

"Möchtest du an seiner Stelle sein?" brach der Jüngere endlich das Schweigen.

"Ich weiß nicht. Er ist es nicht gewohnt, einer Göttin zu dienen. Für mich ist es mein Leben."

"Sie wird ihn zwingen, bestimmt."

Der alte Faun hob abwehrend beide Hände. "Nein, das wird sie nicht. Sie will, daß er freiwillig zu ihr kommt. Sie zwingt nicht einmal das Tor. Es ist alles offen. Er hat gute Chancen, ihr zu entkommen. Gestern war das Tor da und er hat sie nicht einmal bemerkt."

"Meinst du?"

"Vielleicht, gerade weil er sie erkannt hat?"

"Nein, du hast es doch auch gesehen. Er hat sie überhaupt nicht beachtet."

"Ja, er ist stark, trotz seiner Jugend." gab der junge Faun zu. Dann kicherte er. "Das Tor ist schlecht gewählt. Sie ist zu alt."

"Was hat das Alter dieser Frau mit den Plänen der Göttin zu tun? Sie ist nur das Medium, eine Funktion, sonst nichts." Er erhob sich. "Komm jetzt, Sohn." Er wischte sich die Hände an seinen pelzigen Schenkeln ab. "Komm, wir sind für heute fertig." Hüpfend verschwanden sie im Wald.




Um ein junges Pferd auszubilden, braucht es viel Geduld. Aber die Bemühungen werden belohnt. Es erfüllte Höski immer mit Stolz und innerer Befriedigung, wenn er den Erfolg seiner Anstrengungen sah. So war es auch diesmal. Hönir töltete wie eine Maschine. Nach einer Runde parierte er zum Schritt und töltete wieder an. Das Ergebnis war dasselbe, als ihn plötzlich etwas irritierte. Was er an Hufgetrappel hörte, konnte nicht nur von nur einem Pferd stammen. Es gab noch ein zweites Pferd in der Bahn. Hinter ihm. Doch als er sich umdrehte, konnte er niemanden entdecken.

Dennoch kam das Geräusch näher und näher. Langsam erschien die geisterhafte Silhouette eines Pferdes neben ihm. Sie verdichtete sich immer mehr, bis sie plastisch wurde. Dann war sie da. Die Reiterin in Blau. Lächelnd strich sie sich das dunkle Haar aus dem zeitlosen Gesicht. "Kommst du heute mit?" fragte sie und ihre Augen musterten ihn eindringlich.

Allmählich erholte er sich von seiner Überraschung. Außerdem wurde ihm ihr Anblick langsam vertraut. "Was will sie bloß von mir?" dachte er befremdet. "Das ist nun schon das dritte Mal!" Er erinnerte sich auch, daß die beiden vorangegangenen Begegnungen wenig angenehme Dinge im Gefolge hatten. Die Sache mit dem Zaumzeug ärgerte ihn noch immer ein wenig. "Was wird sie diesmal mit mir anstellen?" fragte er sich und erschrak gleichzeitig über die Selbstverständlichkeit, mit der er ihr die Schuld an allem gab.

"Du hast schon recht." antwortete sie sanft, obwohl er kein einziges lautes Wort gesprochen hatte.

"Sie liest meine Gedanken." dachte er verärgert. "Nein, das ist Unsinn. Niemand kann Gedanken lesen."

Sie sah ihn belustigt an. "Es gibt noch mehr zwischen den Schatten, das du nicht kennst." Und mit einer Grimasse fuhr sie fort: Dieser Schatten ist sehr arm. Die Leute sind nahezu blind und taub. Es freut mich, daß du ..." Ihre Hand strich leicht über seinen Arm. "Nur ein kleines Stück." bat sie.

"Wohin?" fragten seine Augen.

"Du mußt neben mir bleiben. Manche Schatten sind gefährlich. Am besten wird sein, wenn ich dein Pferd lenke." Sie nahm ihm die Zügel aus den Händen, ohne daß er es hindern konnte.

Wut stieg in ihm auf. Was bildete sich dieses Weib eigentlich ein? Zornig riß er ihr die Zügel aus der Hand und wunderte sich über die Leichtigkeit, mit der ihm das gelang. Er hatte mehr Widerstand erwartet.

Die Frau sprach kein Wort. Nur ihre Rechte strich sanft über den Mähnenkamm ihres weißen Pferdes und hinterließ eine dünne rote Spur. Die Zügel hatten ihre Finger verletzt, als er sie ihr weggerissen hatte.

"Das tut mir leid." stieß er erschrocken hervor. "Das wollte ich nicht."

Für einen kurzen Augenblick ruhte ihre Hand beschwichtigend auf der seinen. Dann verlor ihre Gestalt die Plastizität. Aus der Mähne des Schimmels stieg feiner Nebel auf, der sie verhüllte. Er glaubte noch ein leises Schnauben zu hören und eine weiche Stimme, die seinen Namen flüsterte. Dann trieb der Wind die Nebelschwaden in großen Fetzen auseinander. Er war wieder allein. Hönir drehte ihm den Kopf zu und scharrte mit dem rechten Vorderhuf. Automatisch klopfte er ihm auf den Hals.

Ein leichter Schmerz durchzuckte seine linke Hand. Er öffnete die Augen und atmete tief durch. Wahrscheinlich hatte er im Schlaf gegen die Wand geschlagen. Kein Wunder bei solchen Träumen. Es war noch Nacht. Ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, daß es sich lohnte, noch einmal einzuschlafen.

Als er am nächsten Morgen sein Lager verließ, machte er eine seltsame Entdeckung. Auf seinem linken Handrücken waren Spuren getrockneten Blutes. Doch als er sie abwusch, konnte er keine Verletzung feststellen. Er erinnerte sich nur, daß er im Schlaf gegen irgend etwas gestoßen war. Die Herkunft des Blutes blieb ein Rätsel. Er hatte auch gar keine Zeit, darüber zu grübeln. Heute kamen neue Reitgäste. Er mußte sehen, was sie konnten.



"Epona ist traurig." Der ältere Faun seufzte, während er roten Sand in kleinen Portionen verteilte.

"Sind das die Blutstropfen?" wollte sein Sohn wissen.

"So könnte man sagen. Er hat ihr die Finger aufgerissen."

"Mit Absicht?"

"Nein." Der alte Faun überlegte kurz. "Er ist ein bißchen heftig. So wie er gebaut ist, läßt er sich nicht gern etwas aus der Hand nehmen, am allerwenigsten die Zügel des Pferdes, das er gerade reitet." Er lehnte sich zurück und studierte seine Arbeit. "Es fehlt noch etwas." murmelte er und ließ kleine braune Bögen entstehen. Sie vermittelten den Eindruck von Hufspuren. Der junge Faun blies sachte darüber und die Bögen verschwammen leicht. "Mehr können wir diesmal nicht tun."

Beide sahen still auf das Muster nieder. Man konnte noch keinen Sinn erkennen. Nur eine leise Sehnsucht strahlte von ihm aus. "Sie ist eine mächtige Göttin und braucht dennoch die Hilfe von Sterblichen." sagte der junge Faun leise.

"Auch einer Göttin sind Grenzen gesetzt. Was ist ein Gott ohne Menschen? Eine Seifenblase, die der Wind verweht!"

"Und ein Mensch ohne Gott?"

Der alte Faun sah seinen Sohn liebevoll an. Dann strich er ihm zart über den Strubbelkopf mit den kleinen Hörnern. "Bedauernswert." meinte er. "Sonst nichts." Er erhob sich. "Epona braucht Menschen, die für sie handeln. Nur sie können Wege gehen, die ihr versperrt sind."




Ein Wiehern weckte seine Aufmerksamkeit. Er schaute den Weg hinunter und stutzte. Sie war wieder da. Die Unbekannte auf dem weißen Pferd. Ein weißes Pferd? Nein, heute ritt sie einen Fuchs. Wieder ohne Sattel und Zaumzeug. Er konnte es trotz der Entfernung genau erkennen. Schulterzuckend wandte er sich ab und betrat den Stall. Als er die Treppe zum Heuboden hinaufsteigen wollte, stutzte er wieder. Sie saß über ihm in der Öffnung und ließ die Beine baumeln.

"Das ist eine Einbildung." dachte er verbissen und stieg die Treppe hoch. Erleichtert stellte er fest, daß die Öffnung frei war. Doch als er wieder herunterkam, wartete sie schon im Futtergang auf ihn. Schweigend verteilte er Stroh auf den Rücken der Pferde. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, daß sie ihm half. "Na, meinetwegen." dachte er trotzig und ignorierte sie.

"Höski, essen!" tönte die kreischende Stimme seiner Chefin über den Hof.

Er warf noch einen Blick in den Stall und wusch sich die Hände.

Während der Mahlzeit stand die Fremde die ganze Zeit an seiner linken Seite. Sie sah ihn unentwegt an, ohne zu starren. Trotzdem fühlte er sich einigermaßen unbehaglich. Was ihn jedoch wunderte, war, daß offensichtlich nur er sie wahrnehmen konnte.

"Du bist eben etwas Besonderes." sagte sie spöttisch.

Und er erinnerte sich, daß sie seine Gedanken lesen konnte. "Ich werde nicht mit dir gehen." dachte er angestrengt.

"Du brauchst nicht so zu brüllen." entgegnete sie kühl. "Ich höre sehr gut.

"Warum läßt du mich nicht in Frieden?" dachte er etwas ruhiger.

"Der Plan. Du hast doch das Muster gesehen."

"Welches Muster?" Sie schüttelte nun tadelnd den Kopf. "Ach das!" dachte er und betrachtete das Gewirr von bunten Linien , das auf seinem Teller aufgetaucht war.

Nach dem Essen begab er sich wieder in den Stall. Sie wartete schon auf ihn.

"Ich bin schwer loszuwerden, nicht wahr?"

Höski wußte im Moment nicht, sollte er lachen oder zornig werden. Da hoben alle Pferde ihre Köpfe und begannen schallend zu lachen. Verärgert stellte er fest, daß Aska am lautesten lachte. "Blödes Vieh! Das sieht dir ähnlich!" murrte er. Aber das verstärkte den Heiterkeitsausbruch der Pferde nur noch mehr.

Ihr Lachen dröhnte noch immer in seinen Ohren, auch als er schon längst wach war. Lächelnd schüttelte er den Kopf. Dann setzte er sich auf und öffnete die Lade. Das Hufeisen lag wie eh und je an seinem Platz. Aus einer versteckten Ecke seines Gehirns rief ihm eine kleine Stimme eine Warnung zu. Aber er hörte sie nicht mehr. Das Hufeisen hatte seinen Blick gefangen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit tauchte er in den Nebel und stand im nächsten Augenblick auf der Lichtung. Die feinen Kiesel stachen in seine nackten Fußsohlen. Vor ihm lag das Muster. Suchend sah er sich um. Wo war der Stab? Er konnte ihn nicht finden. Auch Epona war nicht da. Dabei hatte sie doch versprochen zu kommen. Er schloß die Augen und konzentrierte sich auf eine einzige Bewegung. "Ich muß die Lade schließen." dachte er immer wieder. Bis endlich ein kalter Wind über seinen Körper strich. Er ließ sich erschöpft in die Kissen sinken und schwor sich, die Lade nie mehr wieder zu öffnen.



"Na, was sagst du?" rief der junge Faun triumphierend. "Er war da. Genau hier ist er gestanden." Er deutete auf die Abdrücke zweier Füße auf dem Kiesweg. Dann ließ er seine Hand langsam über die Spuren gleiten. Als er damit fertig war, war nichts mehr zu sehen. Der Kiesweg lag wieder in makelloser Schönheit vor ihm. "Ordnung muß sein." sagte er zufrieden und betrachtete stolz den Weg.

"Komm schon!" mahnte sein Vater und ließ sich vor dem Muster auf die Knie nieder. "Heute können wir blau nehmen. Das Blau seiner Augen." Er lächelte. "Es wird das Muster stärken." Seine Hände tauchten tief in den blauen Sand und webten blaue Linien in das Muster.

Eine Weile beobachtete ihn der junge Faun schweigend. Dann erhob er sich und begann zu tanzen. Erst langsam, dann immer schneller. Seine Hufe ließen die Kiesel nach allen Seiten spritzen. Dazu sang er mit heller Stimme und klatschte mit den Händen den Takt dazu. Sein Tanz war zu Ende, als der alte Faun sich streckte und aufstand.

"Sieh, was du angerichtet hast!" sagte der Alte milde tadelnd und deutete auf den zerstampften Kiesweg.

Aber der Junge lachte nur. Einige schnelle Bewegungen mit den Händen ließen einen Wirbel von Kieselsteinen über dem Weg aufsteigen. Dann senkte er sich langsam und Sekunden später lag jeder Stein an seinem Platz.




Höski warf einen kritischen Blick in den Spiegel. War eine Rasur nötig? Ja, sie war es. Aber vorher wollte er duschen. Er stellte die richtige Temperatur ein und stieg unter die Brause. Aus dem Spiegel lächelte ihm Epona zu. Wütend warf er die Seife nach ihr. Sie rutschte am Glas herunter und hinterließ schaumige, weiße Spuren. Die Göttin wischte mit ihrem Ärmel darüber bis sie weg waren. Dann sagte sie: "Entschuldige." und verschwand. Der Spiegel zeigte wieder die gegenüberliegende Wand des Badezimmers.

"Vor der bin ich nirgends sicher." murmelte Höski resignierend. Eine weiche Hand legte sich auf seine nackte Schulter. Er zuckte zusammen und fuhr herum. Niemand da. Es war wohl nur eine Einbildung, versuchte er sich einzureden.

Später holte er sich ein Pferd aus dem Stall und sattelte es. "Achte auf das Tor." sagte das Pferd.

Automatisch warf er einen Blick über die Schulter. "Das Tor ist geschlossen." antwortete er.

"Nicht dieses Tor. Das Tor! Sie wird kommen."

Das Pferd schüttelte ärgerlich den Kopf, als könnte es soviel Unverständnis nicht fassen. Höski mußte warten bis das Tier den Kopf wieder ruhig hielt. Dann erst konnte er den Kinnriemen schließen. Gemächlich saß er auf und ritt den Weg entlang. "Ich sollte mit Pferden nicht diskutieren." dachte er überlegend.

Sein Pferd drehte ihm den Kopf zu und grinste unverschämt. "Du kommst vom Weg ab. Wir haben schon zwei Welten durchquert. Gehen wir weiter oder wieder zurück?"

"Ich rede nicht mit Pferden." murmelte Höski und hob trotzig den Kopf. Dann ergriff ihn Panik. Das war nicht der Weg, der zur Ovalbahn führte. Man konnte zwar durch den Nebel nicht viel erkennen, aber daß er in dieser Gegend noch nie gewesen war, wußte er genau. Hastig wollte er sein Pferd wenden. Aber es stemmte die Hufe in den Grund und widersetzte sich beharrlich.

"Dreh dich einmal vorsichtig um." forderte es ihn auf. "Aber erschrick nicht."

Höski warf einen Blick über die Schulter und erstarrte. Hinter ihm war das namenlose Grauen. Eine amorphe Masse wogenden Nebels schob sich immer näher an ihn heran. Höski fühlte wie sich seine Nackenhaare aufstellten und kalte Schauer seinen Rücken hinunter rannen.

"Nun sag schon." drängte das Pferd. "Vorwärts oder rückwärts in deinen eigenen Schatten?"

"Zurück." flüsterte er heiser vor Angst.

Der Gaul hob den Kopf und töltete selbständig an. Der Nebel wich zurück und die Ovalbahn lag vor ihm. Mitten im Viereck stand die Frau in Blau, ihr weißes Pferd neben sich. Als sich ihre Blicke trafen, verschwand seine Panik. Er fühlte sich plötzlich sicher und geborgen.

"Mach das nie wieder." sagte sie mit einem müden Seufzer und saß auf. Während er sie noch verwirrt anstarrte, galoppierte sie aus dem Stand an, genau auf ihn zu. Er wollte ihr schon ausweichen, als ihm auffiel, daß sie nicht näher kam, obwohl das Pferd im fliegenden Galopp dahin raste. Ganz im Gegenteil! Sie entfernte sich, wurde kleiner und kleiner bis sie als winziger Punkt mit dem Kies der Reitbahn verschmolz.

Nachdenklich strich er sich über das Gesicht. Dann wollte er die Zügel aufnehmen. Die Zügel? Hier waren keine Zügel. Er lag in seinem Bett und draußen wurde es langsam hell. Ach ja, heute mußte er Kinder unterrichten. Sie waren noch sehr klein. Er hielt nicht viel davon, die Kinder so früh aufs Pferd zu setzen. Aber wenn die Eltern es wollten? Es war ihr Geld, nicht seines. Langsam setzte er sich auf und ließ den Blick durch sein Zimmer schweifen. Sein Auge blieb an seinem Nachttisch hängen. Wie in Trance streckte er die Hand aus. Seine Finger berührten den Griff der Lade. Mit einem Fluch riß er die Hand weg. Nein, er wollte sich nicht manipulieren lassen. Demonstrativ wandte er sich ab und ging zum Fenster.



"Das hätte schlimm ausgehen können." murmelte der alte Faun.

"Das Pferd hätte ihn auf jeden Fall zurück gebracht. Außerdem hat Epona ihn schon im zweiten Schatten gefunden." Der junge Faun verteilte schwefelgelben Sand auf das Muster. "Er ist doch zu eigensinnig! Du hast ja gesehen, was er getan hat. Er hört nie auf sein Pferd, und dann will er wenden, genau dann, wenn ein ... ein..." er zögerte und schnippte mit den Fingern. "... hinter ihm her ist. Für mich gäbe es dann nur noch eins: vorwärts."

Der alte Faun schüttelte den Kopf. "Die Gefahr wird nicht geringer, wenn man ihm alles erklärt. Er würde es nicht glauben."

"Er braucht doch nur ..."

"Still!" herrschte der Alte den Jungen an. "Epona kommt!"

Die Zweige teilten sich und die Göttin trat hervor. Hinter ihr folgte ihr weißes Pferd. Sie ging schnell und federnd auf das Muster zu. Mit der Reitgerte in ihrer Linken tippte sie auf eine blaue Linie am Rand des Musters. Ein kleiner Blitz leuchtete auf und ließ an dem blauen Band entlang. Als er eine grüne Linie querte, flackerte er kurz. Doch dann brannte sein Licht wieder hell und ruhig. Am Ende der blauen Linie angekommen, verharrte er kurz, um dann mit einem leisen Knall zu verlöschen. Epona nickte zufrieden. Dann winkte sie zu den Bäumen. Ein fuchsroter Hengst trat auf die Lichtung, schüttelte die Mähne und wieherte. Die Göttin trat auf ihn zu und strich zärtlich über seine Nase. "Du wirst ihn zu mir bringen." flüsterte sie und legte ihre Arme um seinen Hals. "Rhiannon! Bring mir Rhiannon!" flüsterte sie. Das Pferd trabte in kurzem Tempo an. Dann wechselte es zum Galopp, um schließlich im Rennpaß zwischen den Bäumen zu verschwinden.




Suchend sah er sich im Werkzeugschuppen um. Wo war nun wieder die Schaufel? Ach, hier! Er ergriff sie und machte sich daran, den Hof vom Pferdemist zu säubern. Aus den Augenwinkeln sah er die nun schon bekannte Gestalt auf dem Zaun sitzen. Sie beobachtete ihn schweigend, doch er ignorierte sie. Mit einer fließenden Bewegung glitt sie vom Zaun und ging auf eines der Pferde zu. Es war der braune Wallach mit der verletzten Nase. Das Ergebnis eines Streits mit einem anderen Pferd. Sie beugte sich über den Kopf des Tieres und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Höski beachtete sie nicht. Er hatte eine Menge zu tun. Nachdem er die Schaufel aufgeräumt hatte, holte er sich den Werkzeugkasten. Er mußte die Zäune kontrollieren. Sicher war wieder etwas auszubessern.

Eben wollte er einen Balken befestigen und suchte nach einem Nagel, da stand sie neben ihm und hielt ihm die Schachtel hin. Mit einem zwischen den Zähnen durchgepreßten "Danke" nahm er sie und beendete seine Arbeit. Als er danach aufblickte, stand sie in einiger Entfernung und sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich und es war ihm als öffne sich ein Tor vor seinem geistigen Auge. Er sah Epona durch einen Wald reiten und an ihrer Seite ein Mann. Er war groß und breitschultrig und auf seiner Stirn glänzte ein Stern. Lächelnd drehte er sich zu seiner Gefährtin um. Sein Haar war schulterlang und genauso dunkel wie das ihre. "Rhiannon!" sagte sie und das Tor schloß sich. "Rhiannon, mein Gefährte., nur du kannst ihm den Weg zurück zu mir zeigen. Er hat sich in den Schatten verirrt. Und nun hält ihn ein ... ein ..." sie schnippte in der gleichen Weise wie der Faun mit den Fingern, "... gefangen. Du hast ihn gesehen."

Wieder öffnete sich ein geistiges Tor und ein Wasserfall von Gefühlen brach über ihn herein. Liebe, Sehnsucht, Trauer und ein nie gekannter Schmerz. Das Tor schlug zu und Höski stellte fest, daß er keuchend auf den Knien lag. Epona beugte sich zu ihm herab und richtete ihn auf.

"Es tut mir leid." murmelte sie nahe an seinem Ohr. "Das war wohl zuviel für dich. Ich wollte dir nur zeigen, daß ich keinen Scherz mit dir treibe. Auch wir Götter können leiden." Dann strich sie sanft über sein Haar und verschwand.

Höski überlegte, woher er ihren Namen wußte, konnte es sich aber nicht erklären. Heftig drehte er sich um und krachte mit dem Ellenbogen gegen die Wand. Fluchend rieb er sich die schmerzende Stelle. Vier Uhr nachts, stellte er fest. Was war nur der Grund für diese seltsamen Träume? Zu Hause auf Island hatte er nie so geträumt. Diese Frau, Epona, sie war sehr unglücklich. Er fühlte Mitleid mit ihr und den spontanen Wunsch, ihr zu helfen.

Entschlossen zog er die Lade auf und nahm das Hufeisen heraus. Wieder elektrisierte ihn die Berührung und das silberne Leuchten stieg aus dem Bogen auf. Dann übermannte ihn das merkwürdige Gefühl eines rasenden Sturzes und er stand im nächsten Augenblick vor dem Muster. Dann brach die Hölle los. Sein Körper schien zu brennen, während Frostschauer über ihn hinweg wogten. Gewaltige Kräfte wollten ihn zerschmettern. "Ich sterbe." dachte er und sank zu Boden. Als er wieder zu sich kam, lag er lang ausgestreckt am Rand der Lichtung. Man hatte ihm aus Laub und Fellen ein weiches Lager bereitet. Jede Faser seines Körpers schien zu rebellieren. Gerade als er begann, die Bewußtlosigkeit zurück zu wünschen, legte Epona ihre Hand auf seine Stirn und die Schmerzen schwanden. Sie schob einen Arm unter seinen Nacken und richtete seinen Oberkörper mit einer Kraft und Leichtigkeit auf, die er ihr nie zugetraut hätte. Sachte hielt sie einen Becher an seine Lippen. Er trank dankbar. Die würzige Flüssigkeit entfaltete auf höchst angenehme Weise ihre Wirkung. Sie schien seinen Körper im Rhythmus seines Herzschlags zu durchdringen. Mit einem wohligen Seufzer ließ er sich auf das Lager zurück sinken und schloß die Augen.

"Kehre zurück in deine Welt." flüsterte Epona und ihre Lippen berührten flüchtig seine Stirn.

Laute Schläge an seiner Zimmertür weckten ihn und eine zornige Stimme rief: "Höski aufstehen!" Erschrocken fuhr er hoch. Er hatte verschlafen! Das Hufeisen lag kalt und tot in seiner Hand. Ohne zu denken warf er es auf seinen Platz und schloß die Lade.

"Ich komme!" antwortete er schnell und schlüpfte eilig aus dem Bett. Dann begann er mit seiner Morgentoilette. Er mußte sich ein wenig überwinden, denn er fühlte eine bleierne Müdigkeit in den Knochen. Als er im Badezimmer in den Spiegel blickte, erschrak er. Offensichtlich hatte er an Gewicht verloren und sein Bart war so lang wie noch nie.

"Was ist denn los mit dir?" wurde er beim Frühstück gefragt.

"Schlecht geschlafen." gab er mürrisch zurück. Am liebsten hätte er die Wahrheit hinausgeschrieen, aber seine Lippen waren versiegelt.



"Ich dachte schon, er stirbt." sagte der alte Faun. "Wie er so dalag!" Er schüttelte den struppigen Kopf und seufzte tief.

"Er ist zäh." meinte sein Sohn. "Und jung. Er wird es überwinden. Ich glaube, er weiß gar nicht, daß er sechs Tage lang bewußtlos war."

"Es hat ja auch niemand gedacht, daß er so heftig reagieren würde. Sogar Epona war überrascht. Er hat sich doch sonst immer gewehrt."

"Was kann seine plötzliche Bereitschaft ausgelöst haben?"

"Seine Fähigkeit Mitgefühl zu empfinden. - Nimm den silbernen Sand."

Der junge Faun kratzte sich hinter dem linken Horn und seine Ohren zuckten. Er hätte gern noch mehr geplaudert. Dennoch machte er sich gehorsam an die Arbeit. "Steht Silber für Rhiannon?" fragte er noch schnell.

"Ja! - Mach weiter!"

Eine silberne Linie schlängelte sich über die Sandfläche und traf genau das Ende der blauen Linie. "Fertig." Der junge Faun packte seine Sandschalen in einen Korb und erhob sich. Sein Vater tat es ihm gleich, überlegte kurz und stellte schließlich eine Schale zurück an den Rand der Sandfläche.

"Das werden wir noch brauchen." erklärte er. "Das Muster ist fast fertig."

"Hoffentlich betritt er es nicht wieder vorzeitig. Ein zweites Mal wäre sein Tod."

Der Alte machte eine beschwichtigende Geste. "Epona wacht über ihm." Er nahm seinen Korb unter den Arm und ging seinem Sohn voran auf den Waldrand zu. Zurück blieb das Muster und eine Schale, auf deren Boden ein Rest blauen Sandes schimmerte.




Er ritt langsam durch den Wald. Die Äste der Bäume waren mit dicken Schneepolstern bedeckt. Eine Gruppe Reitgäste folgte ihm im Gänsemarsch. Die Pferde gingen Schritt. Es war zu gefährlich zum Tölten, da Eis unter dem Schnee war. Aus dem Nebel tauchte die Gestalt eines Reiters auf. Er kam im Galopp auf sie zu. Höski wunderte sich über den Leichtsinn des Reiters. Da erkannte er sie. Die Reiterin in Blau, Epona. Ihr Gesicht war traurig und sie schien ihn nicht wahrzunehmen. Sie jagte an ihm vorbei. Schnell drehte er sich um. Wenn die Pferde erschraken, konnte einiges passieren. Es waren Kinder in der Gruppe. Doch niemand schien die wilde Reiterin zu bemerken. Eine Frau unter den Reitgästen richtete den Blick auf ihn und lächelte. Sie schob den Helm ein wenig aus der Stirn. "Nehmen Sie die Zügel kürzer." riet er ihr.

Die Gruppe verließ den Wald. Die Pferde gingen mit vorsichtigen, aber dennoch sicheren Schritten den Pfad hinunter. Plötzlich hörte er leisen Gesang. Eine Frauenstimme sang in einer fremden Sprache ein Lied voller Trauer und Sehnsucht.

"Fhir a bhata na horo eile. Mo shoraidh slan leat's gach ait an teid thu shoraidh."

Diese Sprache war ihm völlig fremd. Er konnte sie nirgends einordnen. Trotzdem hörte er die Worte sehr deutlich und seltsamerweise prägten sich die fremden Laute in sein Gedächtnis ein. Was sie bedeuteten, konnte er jedoch nicht sagen. Suchend sah er sich um. Wo war die Sängerin? Sie sang nun in englischer Sprache. "My heart is aching from ceaseless wailing, like a wounded swan when her life is failing." Den Sinn dieser Worte konnte er verstehen, obwohl die Aussprache fremdartig war. Es war eine Klage. "Mein Herz schmerzt von unaufhörlichen Klagen, wie ein verletzter Schwan, dessen Leben verrinnt." Dann kamen wieder die unverständlichen Worte. "Fhir a bhata ..." Es war wohl der Refrain.

Seine Augen suchten die Sängerin. Er wußte inzwischen, wer es war. Schließlich entdeckte er sie. Sie stand ganz still auf einem fernen Hügel, den es eigentlich in dieser Gegend gar nicht geben dürfte. "Sehr weit weg." dachte er. Doch er konnte jede Linie ihres Gesichts erkennen, als sie jetzt auf englisch sang: "And in the night in my dreams, I see thee, and still at dawn will the vision flee me." "Und in der Nacht, in meinen Träumen, sehe ich dich, doch immer in der Morgendämmerung entschwindet die Vision." übersetzte er in Gedanken, bevor sie wieder mit dem Refrain begann: "Fhir a bhata ..."

Höski schlug die Augen auf und murmelte: "Fhir a bhata na horo eile ...? Was kann das nur bedeuten?" Er zog die Lade auf und sah auf das Hufeisen hinunter. Sein Glanz war stumpf geworden. Keinerlei magische Kräfte gingen von ihm aus. Er nahm es in die Hand und betrachtete es genau. Kein elektrischer Schlag, registrierte er verwundert. Doch es war sein Hufeisen, sein silbernes Hufeisen. Die in den Rand geritzten Zeichen bewiesen es. Nachdenklich legte er es wieder in die Lade.

Später, als er die Pferde fütterte, hatte er den Traum, schon vergessen. Es waren wieder Reitgäste zu unterrichten. Diese kleinen Kinder und deren Eltern. "Anfänger!" dachte er ein wenig abfällig. Es war anstrengend, über ihre Fehler nicht zu lachen. Endlich war die Stunde zu Ende. Er ging in den Stall zu den Pferden. Die Frau war dicht hinter ihm, ihren Sattel über dem Arm. Leise begann sie zu singen: "Fhir a bhata na horo eile ..."

Er fuhr herum und starrte sie an wie einen Geist. Sie verstummte und hielt krampfhaft den Sattel fest. Mit der freien Hand strich sie eine lange Strähne dunklen Haares aus dem Gesicht. "Ihr Haar gleicht Eponas." schoß es ihm durch den Kopf.

"Das ist ein keltisches Lied." erklärte die Frau und ging an ihm vorüber. "Aus Schottland. Kennen Sie es?"

Er schüttelte den Kopf. Da warf sie ihm einen Blick zu, der deutlich sagte: "Du lügst!"



"Siehst du, deswegen brauchen wir den blauen Sand noch einmal." erklärte der alte Faun. "Das Tor ist geschwächt. Ich werde die Linie nachziehen. Dann schafft Epona es vielleicht ohne die Hilfe der Frau." Damit beugte er sich über das Muster. Die blaue Linie wurde unter seiner Hand stärker. Sie stach nun aus den andersfarbigen Linien heraus. "Sie konnte nicht zu ihm sprechen. Hast du es bemerkt?" fragte der Alte.

"Sie hat doch gesungen und er hat es gehört!" entgegnete sein Sohn.

"Er kann aber nicht keltisch. Die Worte sind wichtig." Er kicherte. "Manchmal muß ich über Epona sehr wundern."

"Wo bleibt denn deine Unterwürfigkeit?" meinte der junge Faun vorlaut.

Der Alte wollte schon zornig auffahren. Doch dann besann er sich noch rechtzeitig. "Du hast recht." gab er zu. Dann sprang er auf die Hufe. Epona war unbemerkt neben ihm erschienen.

"Du brauchst nicht zu erschrecken." sagte sie lächelnd. "Meine Diener dürfen eine eigene Meinung haben." Dann betrat sie das Muster. Schritt für Schritt ging sie die blaue Linie entlang. Sie neigte den Oberkörper vor, als müsse sie einen starken Widerstand überwinden. Als sie das Ende des blauen Bandes erreicht hatte, blieb sie stehen. Sie hob die Arme in einer beschwörenden Geste. Am Anfang der silbernen Linie erschien ein Wirbel weißen Nebels, der sich langsam verdichtete., Die Konturen einer großen männlichen Gestalt schälten sich aus dem Dunst. "Rhiannon!" rief die Göttin und der Mann hob die Hand und winkte.

Verlangend streckte er die Arme nach ihr aus. Dann löste sich das Bild wieder auf. Epona ließ die Arme sinken und ging den Weg zurück. Auf ihren Zügen war ein zuversichtliches Lächeln. Sie strich den Faunen zärtlich über die struppigen Köpfe. "Bald." sagte sie.




Höski stand mitten im Hof zwischen den Pferden. Er überlegte. Irgend etwas Wichtiges war heute zu erledigen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und sah sich dabei suchend um. Er hob den Kopf und betrachtete den Himmel. Fern im Osten, fast am Horizont, stand eine kleine weiße Wolke. Sonst war der Himmel blau. Er fröstelte und heftete den Blick auf die einsame Wolke. Sie kam näher und allmählich wurde ihm bewußt, worauf er gewartet hatte.

Sie ritt ihre weiße Stute. Die Hufe des Tieres schienen die Erde nicht zu berühren. So ein schönes Tier würde sich gut für die Zucht eignen, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann war sie neben ihm und sah auf ihn herab. Neidlos gab er zu, daß ihre Reitkunst der seinen weitaus überlegen war. Sie blickte ihn ernst und forschend an. Er überlegte, was diesmal anders war an ihr. Dann sah er es. Ihr Haar, das sie sonst offen den Rücken hinunterfließen ließ, war diesmal am Hinterkopf zusammen gefaßt und fiel wie ein Pferdeschweif bis auf den Rücken der Stute herab. Silberne Bänder schimmerten in der Dunklen Flut. Sie lächelte ihn an und er fühlte die Sympathie, die von ihr ausging.

"Bist du bereit?" fragte sie ruhig. Ein kalter Ring legte sich um seine Brust. Vor seinem geistigen Auge tauchte das Muster auf. Und er erinnerte sich, war passiert war, als er es betreten hatte. "Das war zu früh." erklärte sie. "Das Muster war noch nicht vollendet." Sie saß ab und legte die Hände auf seine Schultern. Er sah, daß sie diesmal auch anders gekleidet war. In das Blau waren Silberfäden eingewebt. "Du hast nichts zu befürchten, Höskuldur." Sie ließ ihre Hände langsam an seinen Armen hinuntergleiten. "Du wirst nicht allein sein. Das Tor kann dich in deine Welt zurück führen, nachher." Ihre Fingerspitzen berührten seine Schläfen. Ein leiser Schauer durchflutete ihn und er schlug die Augen auf.

Es war dunkel, aber seine Hände fanden die Lade sofort und öffneten sie. Das Hufeisen strahlte ihn silbern an. Er nahm es heraus, legte es auf die linke Handfläche und konzentrierte sich. Der nun schon bekannte Nebel hüllte ihn ein und er fand sich am Rande des Musters wieder. Vor seinen Füßen sah er den Anfang der blauen Linie. Genau gegenüber, am Anfang der silbernen Linie, stand eine zierliche Gestalt. Epona? Nein, das war nicht Epona. Nur eine gewisse Vertrautheit ging von ihr aus, die er sich jedoch nicht erklären konnte.

Am Rande der Lichtung erschienen dunkle Gestalten unter den Bäumen. Er konnte sie nicht genau erkennen. Nur eines war sicher, es waren keine Menschen, obwohl sie aufrecht auf zwei Beinen gingen. Diese Beine waren aber Bocksfüße und bis über die Hüften mit struppigem Fell bedeckt. Der Oberkörper war menschlich und nackt. Auch die Gesichter waren menschlich. Doch aus ihren Stirnen wuchsen Hörner und ihre Ohren waren spitz und pelzig. "Faune." dachte er.

Vorsichtig betrat er das Muster. Die Frau auf der anderen Seite bewegte sich gleichzeitig mit ihm. Erwartungsvoll blieb er stehen. Bis auf ein angenehmes Vibrieren fühlte er nichts. Er heftete den Blick auf das blaue Band vor ihm und ging weiter. Stück für Stück schritt er die blaue Linie entlang. Eine phantastische Landschaft tat sich vor ihm auf. Rot, violette, gelbe Straßen näherten sich ihm, lockten und verschwanden wieder in der Ferne. Plötzlich strahlte vor ihm ein silbernes Licht auf. Er hatte endlich den Mittelpunkt erreicht, wo sich Silber und Blau trafen. Die fremde Frau stand vor ihm. Jetzt erkannte er sie. Es war eine seiner Reitschülerinnen. Sie ergriff seine linke Hand und blieb vor ihm stehen. Ein kalter Luftzug strich über ihn hinweg und Epona erschien an seiner linken Seite. Rechts von ihm stand der Mann. Höski war selbst nicht gerade klein gewachsen, aber dieser Mann überragte ihn noch um Haupteslänge. Für einen kurzem Moment strömte die Dankbarkeit der beiden in sein Herz. Dann wurde es schlagartig dunkel.

Er saß im Bett und fühlte sich leer und ausgelaugt. Trotzdem erfüllte ihn eine unbegreifliche Zufriedenheit. Das Bewußtsein, eine Sache erfolgreich abgeschlossen zu haben. Nur was es war, wußte er nicht. "Es wird mir schon wieder einfallen." murmelte er und streckte sich lang aus. "Morgen vielleicht, falls es wichtig war." Er schloß die Augen und wartete auf den Schlaf. Doch es dauerte ziemlich lange, bis er kam.

"Das erste, was ihm am nächsten Morgen auffiel, war die offene Lade. Ein Blick hinein zeigte ihm, daß das Hufeisen nicht an seinem Platz lag. Er durchsuchte sein Bett, dann das ganze Zimmer, konnte es aber nirgends entdecken. "Schade." murmelte er und ein kleiner Stich traf sein Herz.

Schulterzuckend machte er sich an seine Arbeit. Zwei Stunden mußte er heute halten. Als die Reitgäste erschienen, setzte er seine gewohnte Maske auf. Verbindliches Lächeln, Höflichkeit, Sicherheit. Da trat die Frau auf ihn zu und die Maske bekam einen Sprung. Sie warf einen Blick über die Schulter. Ja, ihr Mann war nicht in Sicht. Schnell griff sie in die Tasche und zog das silberne Hufeisen heraus. "Nehmen Sie es, schnell." sagte sie drängend. "Es gehört doch Ihnen."

Erstaunt nahm er es entgegen und betrachtete es genau. Es sah aus wie sein silbernes Hufeisen, mit einem Unterschied. Die in den Rand geritzten Zeichen waren verschwunden.

"Wie kommen Sie dazu?" wollte er fragen, aber die Frau hatte sich bereits abgewandt und striegelte eifrig ihr Pferd.



Das kunstvolle Muster war zerstört. Die farbigen Linien waren verwischt und die Sandfläche sah aus, als wäre eine Herde wild gewordener Rosse darüber galoppiert. Die beiden Faune saßen am Rand der Fläche und durchkämmten sie mit kleinen seltsam geformten Bürsten. Neben ihnen standen die Schalen . Ab und zu streiften sie die Bürsten ab. Dann rieselte farbiger Sand in eine Schale.

"Schade um das Muster." sagte der junge Faun seufzend.

"Das sagst du immer." tadelte sein Vater. "Du wirst das nie begreifen. Das Muster hat seinen Zweck erfüllt. Epona hat mit Hilfe der beiden Menschen und dieses Musters ihren Gefährten befreit. Nun kann sie an seiner Seite ihr Reich wieder errichten." Er lehnte sich zufrieden zurück. "Ihre Stute wird ein Fohlen haben, wußtest du das?"

Der junge Faun nickte. "Alle wissen es. und alle sagen, daß nie wieder ein ..." er schnippte mit den Fingern, "einen aus unserer Welt bezwingen wird. Dieser ..." wieder das Schnippen. "jedenfalls nicht mehr. Sein Schatten ist versiegelt."

Der alte Faun beugte sich wieder über das Rund. Er arbeitete flink und konzentriert. Schon nach kurzer Zeit erhob er sich und wischte sich die Hände am Hüftpelz ab. Er sammelte seine Schalen ein und packte sie vorsichtig in den Korb. Dann sah er auf seinen Sohn nieder, der gerade die letzten Körner silbernen Sandes in die Schale streifte und diese zu den anderen in den Korb stellte. "Gehen wir." sagte der Alte. "Bis zum nächsten Mal."

Der junge Faun hob erstaunt die Augenbrauen. "Du meinst, Epona wird ihn noch einmal rufen? Es gibt doch noch mehr Menschen, die ihr dienen könnten."

"Wer ihr einmal gedient hat, kommt nicht mehr von ihr los." antwortete der Alte weise.

"Aber das Hufeisen! Es ist tot. Die Zeichen sind erloschen."

"Es ist nicht tot. Es ruht. Epona kann es jederzeit wecken."

Die Faune gingen langsam auf den Wald zu. Hinter ihnen blieb das makellose Rund der Sandfläche zurück, bereit ein neues Muster aufzunehmen.



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