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FIEBER

Folge 6

von Susanne Stahr



Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. Ihr Blick ging in die Ferne. Lauschend legte sie den Kopf schief. Schließlich sprang sie wütend auf. "Das geht zu weit!", fauchte sie und rannte aus dem Zimmer.

Loretta lief hinterher. "Was ist denn los?"

Sie bekam keine Antwort. Statt dessen hob Amyntha ihre Röcke um schneller laufen zu können. Ohne anzuklopfen riss sie eine Tür auf und stürmte hinein.

Es war das Schlafzimmer des Königs. Von dicken Kissen gestützt saß der Herrscher im Bett. Obwohl sein Gesicht schmal geworden war, sah er weder krank noch schwach aus. Seine Haltung drückte Stolz und Würde aus als säße er auf seinem Thron.

Volusian und Raduald standen links und rechts neben dem Bett und am Fußende Imbrus. Der Prinz nagte an seiner Unterlippe. Unbehaglich verlagerte er immer wieder sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

"Ich frage dich noch einmal, Imbrus", sagte der König gefährlich ruhig. "Wo sind die Elatha? Warum hast du alle weggeschickt?"

Imbrus suchte noch nach Worten, da sprach Amyntha für ihn: "Majestät, die Elatha lagern vor der Stadt." Dann sah sie den Magier mit rotglühender Wut an. "Sie können die Stadt nicht betreten, weil Arrianische Magie die Tore blockiert!"

Loretta war unauffällig gefolgt und drückte sich still in eine Ecke. Nur nicht auffallen, sonst wurde sie am Ende noch weg geschickt. Es schien sie auch niemand zu beachten.

Die Wirkung, die Amynthas Worte hervor riefen, war sehenswert. Volusian fletschte kampflustig die Zähne während der Magier in grenzenlosem Staunen den Kopf schüttelte. Imbrus machte einfach ein dummes Gesicht. Ansonsten schien er froh, dass sich die Aufmerksamkeit seines Vaters nun von ihm auf Raduald verlagerte.

"Raduald." Der König lächelte ohne jeden Humor. "Wie lange dienst du schon dem Hause Arrian?"

"378 Jahre, Herr", antwortete der Angesprochene stockend. "Ich habe dir und deinen Vorfahren immer treu gedient. Mein einziges Streben war die Sicherheit der königlichen Familie."

"Jaja." Gobares wedelte wegwerfend mit der Hand. "Den Spruch kenne ich auswendig." Er drehte den Kopf auf die andere Seite.

"Paladin Volusian, seit wann dienen die Elatha der Krone?"

"Vor 203 Jahren wurde unsere Welt vernichtet. König Asander II. von Arrian gewährte uns Zuflucht und wir schworen ihm und seinem Hause immerwährende Treue." Volusian verbeugte sich.

"Geschenkt", meinte der König unbeeindruckt. "Nun, Raduald, seit 175 Jahren versuchst du einen König nach dem anderen zu überzeugen, dass die Elatha des in sie gesetzten Vertrauens nicht würdig sind. Wie oft haben sie ihr Blut für das Haus Arrian gegeben?"

"Herr, ich war nur besorgt und hielt es für meine Pflicht ....", stotterte Raduald.

"Du hast die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gelauert, sie los zu werden. Weil du dich zurück gesetzt fühltest. Nun?"

Der bleiche Mann in Schwarz breitete nur hilflos die Arme aus. Was sollte er noch sagen?

"Ich will ja nicht annehmen, dass du mir das Gift untergejubelt hast", fuhr der König böse lächelnd fort. "Aber es war doch eine gute Gelegenheit, deiner blinden Eifersucht freien Lauf zu lassen. Die Elatha waren für dich unerwünschte Konkurrenz, besonders die Bewahrer."

Der Magier war bei dieser Rede immer mehr in sich zusammen gesunken. In gleichem Maße hatten sich Volusian und Amyntha aufgerichtet.

"Ihr seid auch nicht besser!", fuhr Gobares fort. "Ich kann mich nur zu gut an eure Wortgefechte erinnern. Keiner von euch ist je auf den Gedanken gekommen, dass Zusammenarbeit dem Reich mehr nützt als eure kindischen Machtkämpfe."

Nun wirkten auch die beiden Elatha geknickt.

"Und du, Imbrus", setzte der König seinen Rundumschlag fort. "hast nicht mehr Verstand als eine Sellerieknolle, wenn du dich vor den Karren der Hexer spannen lässt."

Gobares bekam einen Hustenanfall und Raduald reichte ihm fürsorglich ein Glas Wasser. Der Prinz sackte noch mehr in sich zusammen und schien nach einem Mauseloch zu suchen, in das er sich verkriechen konnte. Loretta presste die Hand vor den Mund um nicht laut zu lachen.

Nun räusperte sich Gobares und spuckte in ein Taschentuch. "Nun verschwindet alle und tut endlich etwas Vernünftiges. Wie es scheint, musst du einmal deinen Stall ausmisten, Raduald."

Imbrus war als Erster bei der Tür als ihn der König zurückrief. "Nein, mein Sohn, mit dir bin ich noch nicht fertig."

Tief seufzend wich er zurück und ließ die anderen vorbei. Loretta schlüpfte als Letzte auf den Gang hinaus.

"Du bist ein Esel, Imbrus", hörte sie den König noch sagen.



Raduald sah die beiden Elatha an. "Ich versichere dir, Bewahrerin, ich wusste nichts von dem Zauber."

"Sollen wir ihm das glauben?", wandte sich Amyntha an ihren Mann.

"Du kannst es beweisen, Magier", sagte dieser. Dann runzelte er die Stirn. "Loretta! Wo kommst du denn her?"

"Ich kam mit Amyntha", sagte sie unschuldig und wahrheitsgemäß.

"Hast du ihr das gestattet?", fragte er und als die Bewahrerin verneinte, fuhr er fort: "Du warst die ganze Zeit mit uns da drin? Hast du sie gesehen, Amyntha?" Bedächtiges Kopfschütteln antwortete ihm, an das sich auch Raduald anschloss. "Wie hast du das gemacht, Mädchen?"

"Ich wollte nicht gesehen werden."

Die Gruppe hatte sich während des Gesprächs in Bewegung gesetzt und stand nun vor der Tür zu Amynthas Wohnung.

"Du wolltest", stellte Volusian trocken fest.

"Sie wollte", fügte Amyntha ebenso hinzu.

"Wie damals das Feuer?" Der Paladin rieb sein bartloses Kinn. "Geh zu Statira und übe deine neue Fähigkeit. Du wirst sie vielleicht bald brauchen. Wir drei haben jetzt etwas zu besprechen. Ohne unsichtbare Zuhörer!!"



Statira saß auf ihrem Bett, die Knie an die Brust gezogen. Sie lächelte als sich Loretta zu ihr setzte. Ein Mann in den Dreißigern saß vor ihr auf einem Hocker. Er trug das Blau der Bewahrer und den Kristall um den Hals.

Das muss Rheomin sein, dachte Loretta.

"Ah, da bist du ja, Loretta. Der Mund des Bewahrers lächelte, doch seine Augen waren daran nicht beteiligt. "Amyntha hat mir Bescheid gegeben. Du kannst dich also unsichtbar machen?" Er beschrieb mit der Hand eine kreisförmige Bewegung über dem Kopf.

Der Raum schien kleiner zu werden, obwohl sich äußerlich nichts veränderte. Loretta tastete mit ihren Sinnen und stieß gegen eine eiskalte Barriere.

"Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, Mädchen", grinste Rheomin. "Damit du nicht entwischen kannst. Du bist ein wenig zu neugierig. - Nun zeig, was du kannst."

Loretta fühlte die unnachgiebige Härte in dem Bewahrer und rückte näher an die Grünhaarige. Er soll mich nicht sehen, dachte sie.

Rheomin kniff die Augen zusammen. "Aha. Nun geh zum Fenster."

Stumm gehorchte sie.

"Du wirst nicht richtig unsichtbar", erklärte er ihr. "Es ist eher ein Verschmelzen mit dem Hintergrund."

Rheomin ließ sie noch ein wenig im Raum umhergehen, zuerst nach seinen Anweisungen, dann nach ihrem Willen.

"Ein Chamäleon-Effekt", stellte er schließlich fest. "Kannst du auch durch Wände gehen?"

"Nein ..." Loretta überlegte. "Ich weiß nicht. Hab's noch nie probiert."

Wieder beschrieb die Hand des Bewahrers eine Geste. "Versuch es. Geh einfach auf die Wand zu als wäre dort eine offene Tür."

Zweifelnd sah ihn Loretta an, dann glitt ihr Blick zu Statira. Auf ein aufmunterndes Lächeln ihrer Schwertschwester marschierte sie los und krachte mit Kopf und Schulter gegen die Wand. "Aua!"

"Das war's nicht", war Rheomins sachlicher Kommentar. "Probieren wir etwas Anderes. Ich sehe noch eine verborgene Fähigkeit in dir."

Nacheinander gingen sie einige Möglichkeiten durch. Fliegen? Fehlanzeige. Wetter machen? Sicher nicht. Teleportation? Nein. Tiergestalt? Welche? Loretta liebte Hunde, aber das reichte nicht aus um ein Hund zu werden. Sie versuchte ein Tiger zu werden, dann ein Falke, ein Leguan. Nichts gelang.

"Wie wär's mit Kampfkaninchen?", schlug sie schließlich genervt vor. Hunger und Müdigkeit meldeten sich bei ihr.

Der Nachmittag war weit fortgeschritten. Rot leuchtete die Sonne durch die hohen Fenster. Rheomin führte die Mädchen in einen großen Speisesaal. Sie waren die Einzigen hier. Loretta versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn alle Tische mit Kriegern besetzt wären. Das musste ein Leben sein! Eine Magd brachte jedem einen Teller mit dicker Suppe und ein Stück frisches Brot dazu.

Sie hatten gerade aufgegessen, da betrat eine schwarz gekleidete Gestalt den Saal, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. "Ich bin bereit, Bewahrer", sagte eine junge Stimme. "Raduald hat einen magischen Tunnel geschaffen, eine Umgehung des Abwehrzaubers." Die Kapuze glitt zurück und offenbarte einen Mann in den späten Zwanzigern. Als sich der Umhang öffnete, sah Loretta die blaue Robe. Es hing jedoch kein Kristall auf seiner Brust.

"Es ist gut, dass du da bist, Iphrates." Rheomin nickte ernst. Zusammen verließen sie den Saal.

"Er soll der dritte Bewahrer werden", erklärte Statira. "Wenn ihn der Kristall akzeptiert."

"Der Kristall?", wunderte sich Loretta.

"Ja, er muss reif für diese Würde sein."



Der Thronsaal wirkte auf Loretta kleiner und düsterer als beim ersten Mal. Das lag wohl daran, dass sich so viele schwarz gekleidete Gestalten darin drängten. 24 Arrian-Magier zählte sie. Ihre bleichen Gesichter unter den Kapuzen erschienen in ihrer Ähnlichkeit eine unheilvolle Wiederholung einer Drohung. Sie hatte mit der kleinen Gruppe Elatha als Letzte den Thronsaal betreten. Würde der Plan gelingen?

Der König, immer noch ein wenig blass, saß hoch aufgerichtet auf seinem Thron. Die Bank, beim ersten Mal vor dem Thron, war nun zur Seite geschoben. Mit gespannten Mienen saßen die Prinzen neben einander. Imbrus' Gesicht wirkte auf Loretta besonders undurchdringlich.

Als ginge eine unsichtbare Trennlinie durch den Saal hatten sich die beiden Gruppen jeweils in einer Hälfte versammelt. die Elatha auf der Fensterseite, die Magier an der Wand.

Volusian, Amyntha und Rheomin standen eng beisammen. Um sie scharten sich die fünf Mischlingskrieger. Acht Elatha gegen 24 Magier, auch wenn man Volusian als eine Ein-Mann-Armee rechnen konnte, war das kein gutes Verhältnis.

Gobares räusperte sich. "Paladin Volusian und Hofmagier Radualds, tretet vor. Ich erwarte eine Aufklärung des Anschlags auf mein Leben. Was hast du zu berichten?" Der König faltete seine Hände über einem runden Bäuchlein und sah wieder täuschend nach Buchhalter aus.

"Herr", begann Volusian. "Das Loch zu der Nynx-Welt und die Barriere, die meine Krieger aussperrt, wurden von derselben Person errichtet. Und diese Person ist auch der Attentäter. Es war einer aus der Magiergilde."

"Hier sind nun alle Magier versammelt, die für den Zeitpunkt, an dem die Barriere errichtet wurde, kein Alibi haben", setzte Raduald fort und warf seine Kapuze zurück. "Einer von ihnen ist der Täter und ..."

"Spinnst du?!", fuhr ihn der König an. "Damit lieferst du mich doch praktisch am Silbertablett ans Messer. König in Zwiebelsoße und meine Söhne sind der Nachtisch!"

Unter den Elatha erhob sich allgemeines Husten und Räuspern.

"Keine Sorge", fuhr der Hofmagier unbewegt fort. "Die königliche Familie ist sowohl durch Elatha-Macht als auch durch Arrian-Magie geschützt. Niemand kann dir oder den Deinen ein Leid zufügen."

"Noch mal die Kurve gekriegt, Hexer", knurrte Gobares. "Fahre fort."

"Dieser Saal ist nun versiegelt. Niemand kann ihn verlassen oder betreten", sprach Raduald weiter und holte einen runden, in grauen Samt gewickelten Gegenstand unter seiner Robe hervor. "Dies ist die Hand Fulrads I., des ersten Königs von Arrian." Er schlug den Samt zurück und enthüllte eine runde, steinerne Tafel mit dem Abdruck einer Männerhand. "Nur wer dem Hause Arrian in wahrer Treue zugetan ist, kann seine Hand in diesen Abdruck legen ohne Schaden zu nehmen."

Neben dem Thron stand ein Tischchen mit Erfrischungen für den König. Dies räumte der Magier ab, stellte das Tischchen vor den Thron und legte die Tafel darauf. Dann sah er die Versammelten auffordernd an.

Volusian trat als erster vor und legte seine Hand in den Abdruck. "Möge die Hand Fulrads die Lauterkeit meines Herzens prüfen", sprach er die vorgeschriebene Formel.

Ein sanftgelber Schein hüllte den Paladin sekundenlang ein und schwand wieder. Der König nickte und sah zu Imbrus hinüber. Der biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Volusian tat als hätte er das nichts bemerkt und trat zurück. Als Nächster legte Raduald seine Hand auf die Tafel, mit demselben Erfolg. Ohne zu zögern folgten Amyntha und Rheomin.

"Nun, was ist mit euch?", fragte Gobares und sah die Gruppe Magier an. "Machen wir es schön abwechselnd. Ein Elatha-Mischling, ein Schwarzrock."

Einer nach dem anderen vollführte das Treueritual. Der König gähnte und murmelte etwas von langweiligen Protokollen. Loretta war die Letzte der Mischlinge. Als sie ihre Hand in den Abdruck legte, erschrak sie vor der Wärme des Steins. Es fühlte sich an wie eine lebende Hand. Stockend sprach sie die Formel. eine unsichtbare Wesenheit schien auf den tiefsten Abgrund ihrer Seele zu blicken, dann war es vorbei und sie stellte sich zu den anderen.

Nun waren noch mehr als ein Dutzend Magier, die den Schwur noch nicht geleistet hatten. Einer nach dem anderen trat vor. Als nur noch vier übrig waren, bemerkte sie, dass einer sich immer hinten anstellte. Der Kopf mit der Kapuze war tief gesenkt. Das musste der Mörder sein.

Loretta ging zurück an die Wand. Nun nicht auffallen. Sie verschmolz mit der Seidentapete des Thronsaales.

Auch Raduald war das seltsame Verhalten dieses Magiers aufgefallen. Entschlossen packte er ihn am Arm. "Leiste deinen Eid oder stirb!"

"Verschwinde, alter Mann", rief dieser und riss sich los. "Deine Zeit ist um. Ich bin der neue Herrscher von Arrian." Er warf die Kapuze zurück und enthüllte ein bleiches, hageres Gesicht. Er wäre kaum von seinen Kameraden zu unterscheiden gewesen, wären da nicht diese kleinen Buckel auf seiner Stirn gewesen."

"Das ist Agis, der Gehörnte!", rief Volusian. "So ist es wahr, dass du deinen Tod nur vorgetäuscht hast."

"Das ist doch Agrammes!", meinte Raduald stirnrunzelnd.

"Agis war ich einmal. Jetzt bin ich Agrammes. Ich habe mehr Macht als ihr alle zusammen!"

Raduald hob die Hand und Blitze schossen aus seinen Fingern. Doch Agis winkte nur beiläufig und die Blitze verloschen knisternd.

"Mir steht die Kraft von 22 gut geschulten Zauberern zur Verfügung. Sie alle stehen unter meinem Bann." Er hob den Arm und Raduald flog gegen die Wand, wo er ächzend zu Boden sank. Dann deutete er mit je einer Hand auf den König und die Prinzen. "Ihr seid überflüssig!" Seine Hände fuhren durch die Luft und ein blendender Blitz fuhr auf den König zu. Bevor er den Herrscher jedoch erreichen konnte, erhoben sich brüllend Wände aus grünem Feuer um den Thron und die gepolsterte Bank. Der König bewegte den Mund, aber kein Ton war zu hören. Der Schutzwall schnitt ihn auch akustisch ab.

Ein Schatten von Unsicherheit huschte über Agis' Gesicht. "Der König ist nicht wichtig. Mein Ziel waren immer die Elatha. Sie haben meine Mutter und auch meinen Bruder sterben lassen!"

Lorettas Augen suchten den Hofmagier, konnten ihn aber nirgends entdecken. Bis jetzt lief alles ganz gut.

"Tötet die Brut, Brüder und Schwestern!", befahl Agis. "Wenn ihre Häupter erledigt sind, werden wir mit dem Rest spielend fertig."

Schweigend stürzten sich die Schwarzen auf die Mischlinge. Ein wilder Kampf entspann sich. Volusian, auf eine Verwandlung verzichtend, schleuderte schwarze Gestalten nach links und rechts. Es war klar zu erkennen, dass er nicht töten wollte.

Gleichzeitig warf einer der Magier seine Kutte ab und darunter kam das Blau der Bewahrer zum Vorschein. An seiner Brust strahlte hell der Regenbogenkristall. Loretta schloss geblendet die Augen als auch die beiden anderen Kristalle erstrahlten als sich die drei zu einer magischen Union zusammen schlossen.

Agis stieß einen markerschütternden Schrei aus, ein Schrei voll grenzenlosem Hass, Wut, Enttäuschung und Schmerz. "So soll denn wenigstens einer sterben!", kreischte er und sprang auf Volusian zu. Seine Hände krallten sich in den Hals des bulligen Mannes, die Augen bannten seinen Blick. Langsam verlor Volusians Gesicht jede Farbe. Seine Lippen verzerrten sich vor Anstrengung. "Einmal habe ich schon von deiner Kraft getrunken, Wechsler", dröhnte die telepathische Botschaft durch den Saal. "Nun hole ich mir den Rest!"

Loretta übersah die Szene. Die Mischlinge kämpften gegen die Magier, unterstützt von den Bewahrern. Raduald war verschwunden und die königliche Familie saß unter grünen Käseglocken. Und ihr Vater, den sie für unbesiegbar gehalten hatte, drohte diesem gehörnten Scheusal zu unterliegen.

Eine absurde Erinnerung zuckte durch ihren Kopf. Ein Bericht im Fernsehen, über das Leben der Berglöwen. Fauchend stieß sie sich von der Wand ab und sprang in langen Sätzen auf die Kämpfenden zu. Aus ihren hellbraunen Tatzen fuhren lange Krallen und bohrten sich in Agis' Schulter, rissen ihn weg von Volusian. Ihre Fänge schlossen sich um seinen Hals, zerfetzten Kehle und Halsschlagader, zermalmten das Genick während die Hinterläufe den Leib aufrissen. Dann stand sie keuchend über ihrem Opfer. Der Geschmack von Blut war süß in ihrem Maul. Ihr Schwanz peitschte den Boden.

Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Umgebung wieder wahrnahm. Am Boden verstreut lagen schwarze Stoffhaufen. Kein einziger rührte sich. Volusian und die Bewahrer umstanden sie und den zerfetzten Toten. Die Mischlinge hatten sich in einer Ecke versammelt, nur ein grüner Gepard hockte vor ihr und schnurrte beruhigend.

"Du bist wunderschön, mein Liebes", klang Statiras Stimme in ihrem Kopf. "Wie nennt man diese Gestalt?"

"Berglöwe", antwortete sie laut. "Wie werde ich denn jetzt wieder ein Mensch?" Das klang ziemlich kläglich.

Ein kleines, befreiendes Lachen erklang. "Indem du es willst, Tochter!", rief Volusian. Sein Gesicht war eingefallen, aber er stand fest auf seinen Beinen.

"Sind die alle tot?", fragte Loretta entsetzt und deutete auf die Magier.

"Nein", antwortete Amyntha. "Agis hatte sie unter seinem Bann. Der Schock seines Todes hat sie betäubt. In ein paar Stunden werden sie wieder erwachen und sich an nichts erinnern."

Da ging die Tür auf und Raduald kam herein, gefolgt von den Elatha. Gemeinsam mit den Bewahrern hob er den Schutzzauber um die Königsfamilie auf.

"Ich dachte, ich kriege einen Logenplatz für euer Spektakel", schimpfte Gobares. "Konntet ihr euch nicht einen Zauber ausdenken, durch den man besser sehen kann?" Dann fiel sein Blick auf die Leiche. "Igitt! Was für eine Sauerei! Holt sofort eine Putzfrau!"

"Aber, Majestät!", sagten Raduald und Volusian im Chor.

Dann lachten alle, nur die bewusstlosen Magier nicht.



Zwei Monate später drückte Loretta auf den Klingelknopf eines ihr wohlbekannten Hauses in Springville. Ihr Vater stand neben ihr, in Jeans und T-Shirt. Sie selbst hatte sich geweigert, ihre Tunika und ledernen Hosen gegen ortsübliche Kleidung zu tauschen.

Auf der anderen Seite der Tür erklang ein fröhlich geträllertes "Ich komme!" und Loretta musste schlucken. Wie lange hatte sie Mama nicht gesehen? War das tatsächlich ein halbes Jahr?

Und da stand sie vor ihnen und wedelte sie herein. Unsicher musterte das Mädchen die Frau. War das wirklich Mama? Da fehlten doch mindestens zehn Kilo.

In der Küche war der Tisch gedeckt und der grässliche Kerzenhalter war auch da, allerdings mit einer neuen, weißes Kerze. Loretta schielte in den Suppentopf und verzog beim Anblick der Fettaugen das Gesicht. Gideon lümmelte auf seinem Stuhl und grinste sie an. Er sah älter aus, männlicher.

"Wir haben etwas zu besprechen", sagte Helen und schob Volusian ins Wohnzimmer. "Sind gleich da."

Auf Lorettas fragenden Blick sagte Gideon: "Sie hat einen Freund. Ist kein übler Kerl. Und sie nimmt laufend ab." Er legte den Kopf schief. "Dafür hast du zugelegt."

"Alles Muskeln", sagte sie kühl. "Willst du's ausprobieren?"

"Oh nein!" Gideon hob beide Hände. Jetzt ist sie ein Muskelmonster!, dachte er. Das kann ja heiter werden.

"Keine Angst, Brüderchen", sagte sie grinsend. "Das Monster ist nur auf Besuch. Ich wohne jetzt bei Volusian. Aber damit du ab und zu an mich denkst, hab ich dir was mitgebracht." Aus ihrer Umhängetasche holte sie einen kleinen, zusammen gerollten Wandteppich und gab ihn ihm. "Hab ich für dich gemacht."

"Was ist das?" Gideon entrollte das Werk und staunte. Es war ein einfaches Bild, eine Familie saß um einen Tisch. "Papa und dich kenne ich ja", sagte er. "Aber, wer sind die anderen?"

"Volusians Frau Amyntha und unsere Halbbrüder Lyncester und Drioton."

Volusian und Helen kamen in die Küche. "Es ist alles in Ordnung", sagte sie mehr zu Gideon als zu Loretta und strahlte glücklich. Erst dann wandte sie sich ihrer Tochter zu. "Wenn dir die Schule in Europa besser gefällt, hab ich nichts dagegen, dass du bei Papa bleibst."

Fröhlich teilte sie die Suppe aus und Loretta ließ die Fettaugen verschwinden.



Die Nacht brach bereits herein als sie nach Arrian zurück kehrten. Loretta sah sich im Hof der Festung um. Ein grüner Schatten huschte auf sie zu und Sekunden später lag sie in Statiras Armen. Ja, hier bin ich zu Hause, dachte sie und ging mit ihrer Schwertschwester auf ihr neues Quartier zu. Die Mischlinge bewohnten jetzt wieder Zimmer in der Burg. Das Haus an der Mauer wurde nur noch als Werkstatt verwendet.

Auf dem Burghof blieb ein einsames Paar zurück. Volusian schlang seine Arme um Amyntha und zog sie sanft an sich. "Ich liebe dich, Amyntha", flüsterte er in ihr Ohr. "Mehr als alles andere auf der Welt."



ENDE



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