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STRAßE INS PARADIES

von Susanne Stahr



Mühsam quälte sich der alte Ford die steile Straße hinauf, Serpentine für Serpentine. Chuck war so konzentriert, dass er heftig zusammen fuhr als er von dem schnittigen, roten Sportwagen überholt wurde. Der Fahrer, ein junger Mann mit langem, schwarzem Haar und einem silbernen Ring in der Unterlippe, grinste ihn an und zeigte ihm einen Mittelfinger mit schwarz gerändertem Nagel. Chucks Hände krallten sich am Lenkrad fest bis die Knöchel weiß hervor traten.

"Ruhig bleiben", sagte er zu sich selbst.

Es war nicht mehr weit bis Longmire, einem kleinen Ort auf der Passhöhe. dort gab es eine Tankstelle mit Imbiss. Die letzte Rast, bevor er ins Paradies hinab stieg. Paradise, das war der Name dieses kleinen, verschlafenen Ortes, in dem er seinen Lebensabend verbringen wollte.

Sein halbes Leben hatte er für dieses kleine Stück Land gearbeitet, all seine Freizeit für die Renovierung des kleinen Hauses verwendet. Annie, seine Frau hatte ihm dabei geholfen, bis vor fünf Jahren. Ein kalter Schauer überlief ihn, wenn er an diesen schrecklichen Morgen dachte, an dem er aufwachte und sie lag still und kalt neben ihm. Sie war ganz friedlich im Schlaf gestorben. Das an sich war schon ein Schock. Viel schlimmer war, dass sie ihm am Tag zuvor das Versprechen abgenommen hatte, weiter zu machen, was immer auch geschah. Als ob sie es gewusst hätte. Tja, ein Versprechen war ein Versprechen.

Und jetzt war endlich der Tag gekommen, ins gelobte Land einzuziehen. Vor einem Monat war er nach 45 Jahren Arbeit als Buchhalter in den verdienten Ruhestand getreten. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge hatte er seinen Haushalt in Tacoma aufgelöst, die wertvollen Dinge verkauft, den Rest verschenkt. Zwei Reisetaschen mit seinen persönlichen Sachen lagen im Kofferraum des Ford.

Sein Blick fiel auf den Stadtplan von Paradise, der neben ihm auf Beifahrersitz lag. Sein Grundstück war mit einem dicken, roten Kreuz markiert. Ein Lächeln verklärte das faltige Gesicht des kleinen Mannes. Ja, er war klein und dicklich, aber er strahlte Würde aus. Immer hatte er sich Respekt verschaffen können.

Endlich kam die Tankstelle in Sicht. Noch einmal tanken, einen Happen essen .... Der rote Sportwagen stand so ungünstig, dass er beide Zapfsäulen blockierte. Nun gut, Chuck hatte Zeit. Langsam fuhr er an dem Flitzer vorbei und parkte den Ford neben der Tankstelle.

Der Schwarzhaarige, ganz in schwarzes Leder gekleidet, lehnte an seinem Wagen und rauchte eine Zigarette. Chuck sah nun, dass in seinem linken Ohr mindestens acht Silberringe hingen. Wo war eigentlich der Tankwart? Chucks Magen zog sich zusammen, wenn er sich ausmalte, was diese Zigarette anrichten konnte. Offenbar waren ihm seine Befürchtungen anzusehen, denn der junge Mann nahm grinsend einen langen Zug und trat den Stummel aus.

Als Chuck den Imbiss betrat, war der Mann so knapp hinter ihm, dass er seine Ausdünstung riechen konnte, eine Mischung aus Rauch, Schweiß und einem aufdringlichen Aftershave.

"Geh schon weiter, Alter", pöbelte er Chuck an.

"Aber gern", antwortete dieser ruhig und machte einen Schritt zur Seite.

Der junge Mann warf sein langes Haar zurück und Stieß Chuck mit dem Ellenbogen gegen die Schulter. Er war mehr als einen Kopf größer als der alte Mann. Dann bestellte er das letzte Nusstörtchen.

"Schade", dachte Chuck und überlegte, ob er eine Kirschtorte oder eine Schokoladenschnitte nehmen sollte. "Dann eben Schokolade", entschied er.

Auch das sollte es nicht sein. Denn als er mit seinem Teller und einem Becher Kaffee einem freien Platz zustrebte, rempelte ihn der Fahrer des roten Wagens an und der Kuchen segelte, eine braune Spur auf seinem Hemd hinterlassend, zu Boden.

"Scheiße!", knurrte der junge Mann.

Sekundenlang kreuzten sich die Blicke der beiden so ungleichen Männer. Dann hielt der Jüngere dem Älteren eine 5-Dollar-Note hin. "Tut mir Leid, Mann", brummte er, stopfte den Schein in Chucks Hemdtasche und drängte sich an ihm vorbei zum Telefon.

Kopfschüttelnd holte sich Chuck einen anderen Kuchen und setzte sich an einen freien Tisch.

"Hallo!", dröhnte es durch das Lokal. "Hier ist Kent. Ist Cindy da? Ich ... Scheiße!" Der Schwarzhaarige wählte noch einmal. "Ich werde so oft anrufen, bis sie ans Telefon kommt!", brüllte er. Pause. "Hi, Cindy!" Bei den letzten Worten klang seine Stimme viel leiser und weich. "Aber ... hör mir doch zu ... ich will doch nur eine .... Ja, du hast ja recht. Aber ich verspreche dir ... diesmal werde ich ganz bestimmt .... Cindy, ich ...... Aber ..... Cindy, bitte .... " Seine Stimme war wieder lauter geworden. Wütend knallte er jetzt den Hörer gegen die Wand und holte sich eine Dose Bier. Seine Hände zitterten als er sich ein Zigarette anzündete.

Halb gelangweilt sah ihm Chuck zu. Ein wenig tat ihm der junge Mann Leid. Nun ja, jeder musste sehen, wie er zurecht kam, dachte er. Den Becher und den Pappteller warf er in einen großen Mülleimer, in dem schon andere solche Abfälle lagen.

Paradise. Das war jetzt sein Ziel. Alle anderen Gedanken verbannte er aus seinem Kopf. Vorsichtig lenkte den alten Ford auf der kurvigen Straße den Berg hinunter. Es war eine schmale Straße und am rechten Rand fiel das Gelände ziemlich steil ab. Es gab nur wenige Bäume und Büsche, die den Blick in die Tiefe verwehrten.

Check bremste immer wieder. Hier wurde ihm immer wieder mulmig zumute, trotzdem er diese Strecke schon so oft gefahren war. Seine Handflächen wurden feucht. Noch eine besonders enge Kurve, dann war das Ärgste überstanden.

Das Röhren eines starken Motors erklang hinter Check. Erschreckte krampften sich seine Hände um das Lenkrad. Vorsichtig trat er auf die Bremse. Die Kurve lag genau vor ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er das Lenkrad.

Da schoss der rote Sportwagen an ihm vorbei in die Kurve. Der rechte hintere Scheinwerfer zischte so knapp am linken Scheinwerfer des Fords vorbei, dass Chuck die Luft pfeifen hörte. Entsetzt sah der alte Mann, wie der Flitzer im Abgrund verschwand. Jetzt schleuderte auch sein Wagen. Verzweifelt kämpfte Chuck um die Kontrolle, vergebens. Das alte Auto rutschte über den Schotter, der die Straße begrenzte. Vor Chuck lag ein spärlich bewachsener, mit Felsbrocken übersäter Abhang. Jetzt trat sein Fuß die Bremse durch. Eine endlose Sekunde lang hing der Wagen mit den Vorderrädern in der Luft, dann kippte er schräg nach vorne und überschlug sich, einmal, noch einmal, noch einmal ....



Verwundert starrte Chuck auf das abgebrochene Lenkrad in seinen Händen. Was sollte denn das? Langsam kam die Erinnerung. Der Wagen .... die Kurve .... der Abgrund ....

"Ja, das ist richtig", sagte eine freundliche Stimme.

Chuck hob den Kopf und sah vor sich eine gleißende Lichtgestalt. "Bin ich tot?" Enttäuschung und Trauer überfluteten ihn. "Das ist nicht gerecht. Ich wollte doch noch ....." Seine Stimme versagte.

"Da hast du recht", stimmte ihm die Lichtgestalt zu. "Versuch es noch einmal."



Endlich kam die Tankstelle in Sicht. Noch einmal tanken, einen Happen essen ... Der rote Sportwagen stand so ungünstig, dass er beide Zapfsäulen blockierte.

Chuck zögerte. Das hatte er doch schon einmal erlebt. Er wusste auch, wie es ausgegangen war. Der rote Wagen hatte ihn geschnitten und war abgestürzt. Danach war auch sein Wagen ins schleudern gekommen .....

Wie konnte er dieses Unheil abwenden? Was musste er tun um heil nach Paradise zu kommen? Sollte er den jungen Mann warnen? Gedankenvoll ging er auf den Imbiss zu. Da war auch schon der Schwarzhaarige hinter ihm. Es lief tatsächlich alles so ab wie beim ersten Mal. Als sich der junge Mann eine Zigarette anzündete, entschied sich Chuck zu warten, bis er fertig geraucht hatte. Wenn der rote Wagen vor ihm war ...... Ja! Jetzt erhob sich Kent und ging hinaus.

Als der rote Flitzer nicht mehr zu sehen war, startete Chuck den Ford und fuhr besonders vorsichtig den Berg hinunter. Hinter der dritten Kurve sah er den Sportwagen am Straßenrand stehen. Der junge Mann stand mit dem Rücken zu ihm und erleichterte sich.

Zu dumm, dachte Chuck und fuhr langsam vorbei. Aber es könnte sich ausgehen. Als er in die letzte Kurve bog, schoss der Sportwagen so knapp an ihm vorbei, dass er die Luft pfeifen hörte. Im nächsten Moment war der Flitzer verschwunden. Das Heck des Ford brach aus. Mit quietschenden Reifen schlitterte er auf den Abgrund zu ....



Verwundert starrte Chuck auf das abgebrochene Lenkrad in seinen Händen. Was sollte denn das? Langsam kam die Erinnerung. "Ich habe es wieder nicht geschafft", bekannte er traurig.

"Ja, das ist richtig", antwortete die Lichtgestalt. "Versuch es noch einmal."



Endlich kam die Tankstelle in Sicht. Wie ein Hammer überfiel Chuck die Erinnerung. Jetzt war er schon zweimal abgestürzt. Wenn er einfach weiter fuhr? Da stand doch der rote Flitzer und der junge Mann im Lederdress rauchte eine Zigarette.

Ein Blick auf die Tankuhr belehrte Chuck, dass er es nicht bis Paradise schaffen würde. So hielt er seinen Wagen hinter dem Roten und stieg aus. "Könnten Sie vielleicht ein Stückchen vorfahren. Ich möchte gerne tanken", sagte er höflich.

Der Schwarzhaarige stieß ein Grunzen aus, warf die Zigarette weg und ließ den Motor aufheulen. Er fuhr nur ein kleines Stück vor, aber es genügte Chuck. Während er den Tank füllte, ging der junge Mann in den Imbiss.

Jetzt kam das Telefonat, dann die Zigarette und dann .... Chuck zahlte eilig und fuhr weiter. Er wollte gerade die letzte Kurve nehmen als er von dem roten Sportwagen überholt wurde.



"Versuch es noch einmal", sagte die Lichtgestalt mit gleichbleibender Freundlichkeit.



"Ich muss mit ihm reden", murmelte Chuck als er seinen Wagen neben der Tankstelle parkte. Geduldig wartete er bis Kent in den Imbiss gegangen war. Dann folgte er ihm.

Der Schwarzhaarige hing am Telefon. "Aber, Cindy , ich ..... Cindy, bitte ....."

Achselzuckend holte sich Chuck einen Becher Kaffee. Wie sollte er beginnen? er wartete bis sich der junge Mann seine Zigarette angezündet hatte. Langsam ging er zu ihm.

"Entschuldigen Sie bitte", sagte er lächelnd. "Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

"Hau ab, Alter", grunzte Kent mürrisch.

"Es wäre aber wichtig, auch für Sie", beharrte Chuck.

"Hau ab, sonst knall ich dir eine!" Wütend schob der junge Mann das Kinn vor.

Sekundenlang blieb Chuck starr stehen, dann drehte er sich um und verließ den Imbiss.



"Er wollte nicht mit mir reden", beschwerte sich Chuck bei der Lichtgestalt.

"Vielleicht findest du eine andere Lösung", bekam er zur Antwort. "Versuch es noch einmal."



"Entschuldigen Sie bitte", sagte Chuck lächelnd. "Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

"Hau ab, Alter", grunzte Kent mürrisch.

"Ich konnte nicht umhin, bei Ihrem Gespräch mit zu hören ...."

"Das geht Sie einen Dreck was an", antwortete Kent, aber ein Funke von Interesse glomm in den dunklen Augen.

"Ich könnte mich vielleicht für Sie einsetzen, wenn Sie mir Ihr Problem erklären", fuhr Chuck fort und setzte sich.

"Häh?" Der junge Mann setzte sich kerzengerade auf. "Sind Sie auf dem Sozial-Trip?"

"Der was? Nun, ich werde in Paradise wohnen ....", begann Chuck unsicher. "Ich dachte mir, vielleicht könnte ich auf diese Art andere Leute kennen lernen."

"Na, ich weiß nicht recht". Zweifelnd wiegte Kent den Kopf. "Das klingt ziemlich bescheuert."

"Da haben Sie recht." Chuck erhob sich wieder. "Ich dachte mir nur, vielleicht könnte es Ihnen helfen, einmal darüber zu reden." Er schenkte seinem Gegenüber ein aufmunterndes Lächeln und wartete ruhig ab.

Der junge Mann kaute an seiner Unterlippe. Als Chuck schon dachte, er hätte wieder versagt, räusperte sich Kent.

"Ich habe in letzter Zeit .... äh, ein bisschen Pech gehabt", druckste er herum. Sein Blick senkte sich auf seine Finger, die nervös mit der Zigarettenpackung spielten. "ja, und dann war ich ein paar Monate .... äh, nicht hier ..."

"Sie sind in eine dumme Sache geschlittert und im Knast gelandet", übersetzte Check trocken.

"Nein! Ich ...." Eine Mischung von Ärger und Erstaunen huschte über das junge Gesicht. Dann senkte der Schwarzhaarige den Kopf und sank in sich zusammen. "Ja", sagte er heiser. "Und Cindy will jetzt nichts mehr von mir wissen."

"Sie lieben das Mädchen." Das war eine Feststellung.

"Ja, ich will mich ja für sie ändern. Aber sie gibt mir keine Chance."

"Vielleicht möchte sie einen Beweis, dass Sie sich ändern. werden."

"Wie soll ich das denn beweisen, wenn sie mich nicht lässt?!" Kent war wieder lauter geworden. Doch als Chuck den Finger auf den Mund legte, senkte er die Stimme. "Ich hab es ihr doch versprochen."

"Möglicherweise genügt ihr ein Versprechen nicht. Aber durch eine entsprechende Lebensführung ließe sie sich eventuell überzeugen."

Jetzt huschte ein kleines Lächeln über das Gesicht des Mannes. "Sie meinen, einen Job, keine Sauftouren, keine Schlägereien?"

"Das wäre sicher ein guter Anfang", stimmte ihm Chuck zu.

"Sie meinen, wenn ich keinen Ärger mit den Cops anfange und hart arbeite, dann würde Cindy .....?"

"Vielleicht", schränkte Chuck ein. "Eine Garantie gibt's nie."

"Hank nimmt mich sicher wieder." Das junge Gesicht rötete sich ein wenig und aus den Augen blitzte neue Hoffnung. "Ich bin Automechaniker", fügte er erklärend hinzu. "Ich werde arbeiten und Cindy schicke ich jede Woche Blumen und in die Kirche gehe ich auch." Jetzt sprang er auf. "Na, vielleicht nicht jeden Sonntag", grinste er und lief zum Telefon. Hastig wählte er eine Nummer. "Hallo, Hank. Ist meine alte Stelle noch frei? .... Ja, ich bin wieder heraußen .... Hank, ich arbeite auch für weniger Lohn. Bitte, Hank, ich brauche eine Job. Du weißt doch, dass ich jeden Wagen ...."

Zufrieden mit diesem Gespräch machte sich Chuck auf den Weg. Als er in die letzte Kurve bog, war der rote Flitzer plötzlich neben ihm. Der Fahrer winkte ihm lachend zu. Dann plötzlich malte sich Schreck auf seinen Zügen. Er war viel zu schnell. Im nächsten Moment würde er aus der Kurve getragen werden und in den Abgrund stürzen.

Einem spontanen Impuls folgend riss Chuck das Lenkrad nach links. Die Nase des alten Ford krachte schräg gegen die Seite des Sportwagens und schleuderte ihn gegen eine Reklametafel auf der anderen Straßenseite. Chuck wurde hart nach vorne geworfen. Hilflos musste er zusehen, wie der Wagen sich dem Abgrund näherte. Das Heck des Ford rutschte über den Schotter des Banketts. Während sich etwas tief in Chucks Brust bohrte überschlug sich der Wagen wieder und wieder.



"Willkommen, Chuck", sagte die Lichtgestalt freundlich. "Jetzt hast du es endlich geschafft."

"Aber ich wollte doch nach Paradise", jammerte Chuck. "Mein Häuschen ...."

"Aber natürlich!" Die Lichtgestalt streckte einen Arm aus und als Chucks Blick ihm folgte, lag alles vor ihm. Mit einem Juchzer lief er darauf zu.


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