SCHWERPUNKTTHEMA

TRÄUME

BEGEGNUNG

Susanne Stahr


Die Blume war wunderschön, fremdartig, mit ihren nachtschwarzen, samtigen Blütenblättern, die sich gerade zaghaft geöffnet hatte, wie um den neuen Tag zu begrüßen. Er sah sie von weitem auf dem Wasser schwimmen und war so fasziniert davon, dass er den Blick nicht wenden konnte. Alles in ihm verlangte nach ihr.

Gerade als er die Straße überqueren wollte, schrammte ein dunkler Wagen an ihm vorbei. Bremsen quietschten, die Hupe heulte ärgerlich auf, dann war er um die Ecke verschwunden.

Schnell lief er auf den Strand zu. Doch die Blume war nicht mehr da. Enttäuscht wollte er sich umdrehen und fortgehen, da sah er das Mädchen. Es war einfach gekleidet, und dennoch wirkte es nicht gewöhnlich. Das Haar leuchtete in der Sonne wie eine schwarze Fackel und als er einen Blick der dunkelblauen Augen auffing, hatte er das Gefühl, er habe etwas, das er schon lange gesucht hatte, endlich gefunden.

Augenscheinlich hatte er über dieses Wunder zu lange nachgedacht, denn sie war bereits an ihm vorübergegangen und bog gerade in die Hauptstraße ein. Schnellen Schrittes folgte er ihr und nahm sich vor, sie anzusprechen. Doch als er sie erreicht hatte, hielt ihn eine unsichtbare Hand zurück. Dieselbe Hand befahl ihm aber, ihr zu folgen.

Stundenlang ging er hinter ihr her. Zu Mittag endlich nahm er sich ein Herz, überholte sie und wollte .... Die Worte blieben ihm im Hals stecken.

Das Gesicht war dasselbe wie am Morgen, doch jetzt war es das einer reifen Frau. Verwirrt wich er zurück. Doch die Frau hatte ihn in ihrem Bann. Er musste, ob er wollte oder nicht, hinter ihr hergehen.

Wieder vergingen Stunden. Er fühlte weder Hunger noch Müdigkeit, trotzdem er schon den ganzen Tag hinter ihr herlief. War sie eine Hexe? Nein! ... oder vielleicht doch? Er wollte sie fragen.

Doch als er sie eingeholt hatte, wich er abermals zurück. Beleuchtet von den Strahlen der untergehenden Sonne blickte ihm das Antlitz einer Greisin entgegen. Das Gesicht war dasselbe wie das des Mädchens am Morgen und der Frau am Mittag .... Wie war das möglich, dass sie innerhalb eines Tages derart gealtert war? Unfassbar!

Er riss sich aus seinen Überlegungen und sah sich um. Die Alte war verschwunden. Wohin? Keine Ahnung! Sie war einfach weg.

Schon wollte er sich umdrehen und enttäuscht seines Weges gehen, da sah er eine Spinne über das Pflaster laufen. Der dicke schwarze Leib war mit einem grauweißen Kreuz gezeichnet und die langen Beine mit stacheligen Borsten übersät. Ekel packte ihn, Grauen schüttelte seine Seele. Mit einem festen Tritt zermalmte er das Tier. Im selben Moment überkam ihn Reue. Er hatte grundlos ein Geschöpf Gottes getötet. Warum?

Langsam kniete er neben dem zertretenen Körper nieder. Aber, wo war er? Hier gab es keine tote Spinne. Auf dem Pflaster lag eine wunderschöne Blume. Nur leider war sie tot, der schwarze Kelch brutal zertreten.


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