SCHWERPUNKTTHEMA

TRÄUME

SANDMÄNNCHENS GROßER TAG

Eva Kalvoda


Das Sandmännchen wog zweifelnd seinen Sack in den Händen. Sollte er noch einen Bezirk machen, oder vorher nachfüllen? Wenn er weitermachte, hätte er dann vielleicht gerade für fünf Häuser zuwenig, und das wäre ungünstig.

Warum auch hatte er noch zwei Bezirke dazunehmen müssen, soviel Geld brachte das nun auch wieder nicht. Aber die kleinen Sandmännerleins wurden immer größer, und brauchten bald jede Jahreszeit neue Schuhe.

Sandmännchen seufzte, und setzte seinen Weg fort. Dabei dachte er an die Versprechungen des Feenrates, ein paar Schuhe pro Jahr pro Sandmännlein.

Wir brauchen mehr Sandmännchen hatte es geheißen. Die Bevölkerung wird immer größer, hatte es geheißen. Schon zwanzig Prozent der Menschenkinder musste ohne Sand in den Augen einschlafen, hatte es geheißen. Zeugt möglichst viel Nachwuchs, hatte es geheißen.

Aber keiner vom Feenrat hatte von den schnellwachsenden Füssen der Sandmännerleins gesprochen. Oder davon, dass es immer die Möglichkeit gab, dass der Nachwuchs gar kein Sandmännerlein, sondern eine Sandweiblein werden kann.

Sandmännchen hatte nun drei Sandmännerleins, und drei Sandweibleins. Sein Sandfrauchen war nervlich schon ganz kaputt, denn Sandmännchennachwuchs ist furchtbar schwer erziehbar.

Ständig bauten sie Sandburgen aus dem Schlafsand. Die Folge war, dass jedes zweite Menschenkind von Rittern träumte.

Die Sandweiblein wiederum heulten immer, weil die Sandmännerleins mit Sandbällen auf sie warfen, und dann wurde der Schlafsand nass, und die Menschenkinder träumten von Überschwemmungen und Krieg.

Sandfrauchen schaffte es einfach nicht, die kleinen Nervensägen vom Schlafsand weg zu halten. Kaum drehte sie sich mit zwei Sandmännerleins an der Hand um, stapften schon zwei Sandweibleins zur Sandkammer, und hinterließen riesige Fußabdrücke im Sand, und wieder träumten hunderte Menschenkinder von Gozilla. (Sandmännchenfüße sind bei beiderlei Geschlecht zieeemlich groß und zieeemlich grün, weshalb sie auch am liebsten gelbe Schuhe tragen, aber das ist eine andere Geschichte.)

Alles in allem war die Sandmännchenaufzucht sehr unbefriedigend und nervig, und Sandmännchen und Sandfrauchen hatten beschlossen, das es genug war.

Alle fünfzig Jahre ein Sandmännerlein reichte völlig, da ging das Sandmännchen lieber noch zwei Bezirke zusätzlich, als noch einmal sechs Sandmännerleins und Sandweibleins auf einmal groß zu ziehen.

Während sich Sandmännchens Gedanken um seine Probleme drehten, wurde sein Sack immer leichter, aber noch hatte er zehn Häuser auf seiner Liste.

Gerade beugte sich das Sandmännchen wieder über ein Kind, und streute ihm Schlafsand in die Augen, als dieses Kind unvermittelt in einen Alptraum stürzte, voll von Werwölfen und Vampiren.

So etwas sollte nicht passieren. Ersten sollte ein kleines Menschenkind wie Lukas nicht solche Filme sehen, aber der kleine Lukas hatte sich nachts rausgeschlichen, war hinter die Bank gekrabbelt, und hatte so einen Film mit angesehen, bei dem sich sogar seine Eltern gruselten (nur waren die schon dreißig Jahre älter).

Und zweitens war es ganz schlecht, wenn der Schlafsand genau im Augenblick den Alptraumanfangs in die Augen traf.

Sandmännchen machte sich große Vorwürfe, hätte er sich nicht so auf sein eigenes Problem konzentriert, hätte er rechtzeitig bemerkt, dass der Alptraum begann, und hätte noch gewartet, aber nun war es zu spät, und Sandmännchen saß fest, mitten in Lukas´ Alptraum.



(Ganz schlecht für die Berufsbewertung, möglicherweise hieß das noch mal zwei Sandmännerleins, um diese Bewertung wieder aufzuheben.)



Aber darüber konnte Sandmännchen nicht länger nachdenken, weil ihn gerade ein Werwolf ansprang. Sandmännchen warf den Rest von Lukas´ Schlafsand auf die Bestie und duckte sich. Mitten im Sprung schlief der Werwolf ein, fiel unsanft zu Boden, und träumte von Godzilla. (Auch für einen Werwolf nicht sehr angenehm.)

Nun machte sich Sandmännchens Entschluss, den Schlafsand nicht nachzufüllen, sehr negativ bemerkbar. Zwar kann ein Sandmännchen jede Traumfigur auf der Stelle mit Schlafsand ins nächste Land der Träume schicken (ja, das funktioniert wie eine Zwiebel), aber dazu musste er auch genug Schlafsand mithaben. Ein Sandmännchen, das in einem Alptraum feststeckt, hat ein wirklich großes Problem, da für ihn die Grenze des Traumes nicht gilt. Das Sandmännchen konnte hier also sterben.

Schnell überprüfte Sandmännchen seinen Sack, und errechnete Blitzschnell, dass er kaum genau Sand für zehn Bestien hatte (Traumfiguren brauchen viel weniger Sand als Menschenkinder).

In Lukas´ Alptraum wimmelte es aber geradezu von Werwölfen und Vampiren, wesentlich mehr als zehn (zum Kuckuck mit der Fantasie der Kinder, in diesem Film kamen die Werwölfe nicht in Horden daher, und der Vampir war ein Einzelgänger), und Sandmännchen hätte jetzt selbst gerne einen Alptraum bekommen, aber leider war er ja wach.

Gerade ritt ein Vampir auf einem Werwolf daher, und ein anderes Monster (was auch immer DAS wieder war) kam von hinten auf das Sandmännchen zu.

Auch diese drei Angreifer fielen unvermittelt in Schlaf, wobei der Vampir von heulenden Sandweibleins träumte, und sich wünschte, er wäre lieber Traumtänzer geworden.

Das Sandmännchen überlegte krampfhaft, was er auf der Traumakademie über diese Situation gelernt hatte, aber weil es ja ein Alptraum war, konnte er sich an nichts erinnern, der einzige Gedanke, den er fassen konnte, beschäftigte sich mit großen, grünen Sandmännerleinfüßen.

Und da, jawohl, natürlich es war ja Lukas´ Alptraum, haha, jetzt hatte er es wieder.

Das Sandmännchen musste zu Lukas´ Unterbewusstsein vordringen, denn das führte bei diesem Traum Regie. Also sah sich das Sandmännchen um, und tatsächlich, auf einen Berg hinter ihm stand ein Abbild von Lukas.

Also lief das Sandmännchen los, und versuchte den Monstern eher auszuweichen, als seinen kostbaren Schlafsand zu vergeuden. Leider waren die Werwölfe aber sehr wendig, und gerade als es so aussah, als würde das Sandmännchen aufgefressen, weil er sein letztes Quäntchen Schlafsand verstreut hatte, da passierte es.

Sandmännchen stolperte.

Kaum lag das Sandmännchen auf dem Boden, blieb er mit seinem Sack, den er immer noch über die Schulter geworfen hatte, an einem Werwolf hängen, der ihn anspringen wollte, kurz bevor Sandmännchen stolperte. Was auch immer sonst geschehen mag, ein Sandmännchen läst seinen Schlafsandsack niemals los. (Auf der Traumakademie wurde ihnen der Sack festgeklebt. Mit den Jahren verschwand zwar der Klebstoff, aber der Sack blieb wie festgewachsen. Wenn ein Sandmännchen den Sack weglegt, füllt es sich nackt und unvollständig.)

Der Sack war beim Fall hoch gewirbelt, der Werwolf hatte das Maul offen (und GROSSE Zähne) und schon wurde das Sandmännchen hinter dem Werwolf hergezogen.

Der Werwolf war ein wenig erstaunt, dass das Sandmännchen so stoffig schmeckte, und lief vor Überraschung weiter.

Das Sandmännchen, erst erschrocken, dann irritiert, schließlich aber beherzt, kletterte an seinem eigenen Sack empor, und saß schließlich, nach kurzer Mühe, am Rücken des Werwolfs.

Und als das Sandmännchen auf dem schon wieder erstaunten Werwolf saß, packte ihn die Wut. Er hatte es wirklich nicht leicht, und dann wollte ihn so ein dahergelaufenes Traummonster auffressen. Jetzt war es genug. Sandmännchen packte den Werwolf an den Ohren, und stemmte ihm seine riesigen, gelben Schuhe in die Seiten.

Der Werwolf, nun schon binnen Sekunden zum dritten Mal erstaunt, hatte noch nie Schuhe in den Flanken gehabt, und reagierte mit großen Bocksprüngen. Aber das Sandmännchen ließ sich nicht abschütteln. (Ein kräftiger Griff vom Sandsackschleppen und ziemlich große Schuhe sind hierbei extrem hilfreich.)

Und so stob der Werwolf davon, dirigiert vom Ohrenzug, genau auf die Traumgestalt von Lukas zu.

Zweimal musste sich das Sandmännchen ducken, da andere Monster ihn von seinem Reittier stoßen wollten, aber er blieb wie festgeklemmt auf dem Rücken des Werwolfs, stur entschlossen nicht aufzugeben.

Kurz bevor der Werwolf Lukas´ Unterbewusstsein erreichte, gelang dem Sandmännchen noch ein Bravurstück. Er warf den Wolf den Sack über die Augen, wodurch diese schlagartig bremste.

In hohem Bogen sprang das Sandmännchen über den Kopf des Werwolfs, noch verstärkt durch das Abbremsen des Tiers, und landete genau vor Lukas´ Abbild.

Und dann schrie das Sandmännchen Lukas´ Unterbewusstsein an: "Dreh den Fernseher ab, sofort ins Bett mit dir!!"

Es gibt nicht viele Sätze, die einem die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Fünfjährigen einbringen, aber dieser ist praktisch die Mutter der Aufmerksamkeit.

Schlagartig erlosch die Alptraumszenerie, und das Sandmännchen stand wieder in Lukas´ Zimmer, vor seinem Bett, und sah auf den quengelnden Menschenjungen herab, der murmelte er sei noch nicht müde, müsse noch nicht ins Bett, und jetzt kämen doch noch die Super-Eichhörnchen im Fernsehen.

Geistesgegenwärtig schüttelte das Sandmännchen seinem Sack über Lukas aus, sodass die letzten Staubfitzelchen auf das Kind fielen. Lukas schlummerte wieder ein, mit dem wohligen Gefühl, vor allen Gefahren geschützt zu sein.



EPILOG:

Lukas erzählte am nächsten Morgen, das Sandmännchen hätte ihn vor Monstern gerettet indem es den Fernseher abgedreht hätte, und seine Eltern wunderten sich über die blühende Fantasie des Jungen.

Der Werwolf aus Lukas´ Traum, der einem Sandmännchen als Reittier dienen musste, verlegte sich aufs Tagtraumgeschäft, weil er jetzt nachts Alpträume von großen, gelben Schuhen hatte, und sie auf diese Weise loszuwerden hoffte.

Und das Sandmännchen musste tatsächlich nur noch ein Sandmännerlein zusätzlich großziehen, um seine Bewertung wieder auszugleichen, aber weißt du was?

Immer wenn er dieses letzte Sandmännerlein ansah, erinnerte sich das Sandmännchen an Lukas´ Alptraum, und freute sich, weil er, das arme, geplagte Sandmännchen, so mutig gewesen ist.

(Diese Geschichte erzählte er noch sein Ursandmännerleins, wenn sie mal zu Besuch waren, und jedes Mal wurde er ein bisschen mutiger.)


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