SCHWERPUNKTTHEMA

TRÄUME

SCHLAFEN VERBOTEN!

Susanne Stahr


Michael ging langsam durch den nahezu vollbesetzten Waggon und musterte die Reisenden scharf. Alle erwiderten hellwach seinen Blick. Ein junges Mädchen mit krampfhaft aufgerissenen Augen fiel ihm auf.

"Möchten Sie einen Becher Kaffee?", fragte er freundlich.

"Ja, bitte!", piepste sie schwach.

Lächelnd betätigte er den Knopf an seinem Tornister und reichte ihr das dampfende Getränk. Dem Gewicht nach zu urteilen, war sein Vorrat zur Hälfte aufgebraucht. Beim nächsten Halt würde er eine neue Füllung einsetzen.

Kurz überlegte er, ob er für sich selbst einen Becher zapfen sollte, verwarf aber den Gedanken. Er war stolz auf seine Selbstbeherrschung. Wenn er nicht schlafen wollte, hielt er bis zu 48 Stunden durch, ohne Aufputschmittel. Seit 28 Jahren hatte er diesen Posten als Weckmeister im Interdim inne und noch nie war er auch nur schläfrig geworden. Seine Züge hatten auch nur zweimal wegen eingeschlafener Passagiere Verspätungen gehabt. Das war absolute Spitze, wenn man bedachte, dass der Zug aus drei Waggons bestand, in denen bis zu 150 Reisende befördert werden konnten. Das waren 150 Personen, von denen nur eine einzige, unkontrolliert Träumende das Ziel in unerreichbare Ferne schieben konnte.

Michael dachte an Pascal, den klarträumenden Zugführer im Cockpit der Garnitur. Mit ihm fuhr er am liebsten. Pascal konnte auch größere Abweichungen in kürzester Zeit korrigieren.

Draußen zog das Grau des Zwischenraums an den Fenstern vorbei. Michael versuchte die wallenden Nebel mit den Augen zu durchdringen. Bewegte sich da etwas? Gab es Lebewesen im Raum zwischen den Dimensionen?

Michael erreichte den nächsten Waggon. Die Passagiere, es waren hier nur wenige, hatten sich zu kleinen Gruppen zusammen gefunden und vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen oder Domino. Nur eine ältere Dame hatte sich in ein Buch vertieft und kicherte vor sich hin.

Als sie Michaels Blick spürte, sagte sie entschuldigend: "Dieses Buch ist so komisch. Ich werde ganz sicher nicht einschlafen. Es ist nämlich auch spannend."

Spielende Menschen schlafen nicht so leicht ein, dachte der Weckmeister und nickte allen, auch der lesenden Dame, freundlich zu. Heute war ein guter Tag, beglückwünschte er sich.

Zufrieden ging er in den vordersten Waggon, an dessen Spitze sich Pascals Kabine befand. Dort hatte ein dürrer Fahrgast begonnen, eine Geschichte zu erzählen. Leider war sein Vortrag gespickt mit moralinsauren Thesen und dabei so langatmig, dass viele seiner Zuhörer schon gähnend mit dem Schlaf rangen. Ein beleibter Mann mit dünnem, grauem Haar schnarchte bereits leise vor sich hin.

Zornig fuhr Michael den Prediger an: "Halten Sie sofort den Mund! Sehen Sie nicht, dass Sie die Leute einschläfern?!" Dabei rüttelte er den Dicken an der Schulter.

Grunzend erwachte der Mann. Etwas orientierungslos sah er sich um. Dann erbleichte er. "Bin ich eingeschlafen?", fragte er betreten.

Wortlos reichte ihm Michael einen Becher Kaffee.

"Nein, nein! Kein Kaffee. Ich leide an Angina pectoris. Haben Sie nicht ein Weckamin?"

Eine Dame nahm Michael den Becher aus der Hand und trank ihn auf einen Zug aus. Schnell gab dieser dem Übergewichtigen eine Tablette und einen Becher Wasser. Während er Kaffee verteilte, beobachtete er den Mann. Endlich wurden dessen Augen klar.

Er setzte sich zurecht und räusperte sich. "Es geht schon wieder. Tut mir furchtbar Leid!", blubberte er verlegen. "Werden wir viel Verspätung haben?"

"Wo wollten Sie aussteigen?", erkundigte sich Michael.

Umständlich kramte der Fahrgast seine Karte hervor. "Ich muss nach Ypsilanti."

"Das ist die Dimension 1843Q31S704"; bewies Michael stolz seine Kompetenz. "Bis dahin sind noch drei Stops. Ich denke, unser Zugführer wird das hin bekommen. Er ist einer der Besten." Dann wandte er sich an den unglücklichen Geschichtenerzähler. "Sie zahlen 1.000 Credits Verwaltungsstrafe."

"Na, hören Sie mal!", fuhr der Magere auf. "Ich habe doch alles getan, um die Leute am Einschlafen zu hindern. Was kann ich dafür, wenn sie nicht zuhören. Und die Beherrschung mancher Menschen ...." Er verstummte, denn alle Reisenden wichen seinen Blicken aus.

"Wenn Sie nichts Interessantes zu bieten haben, schweigen Sie. Ihr Ausweis!" Fordernd streckte Michael die Hand aus, jeder Zoll strafende Gerechtigkeit.

Jetzt wurde sein Gegenüber bleich. "Für wie lange wollen Sie mich sperren? Ich kann doch meine Gemeinden nicht vernachlässigen. Ich mache jede Schulung ...."

"Sie kommen auf Lebenszeit auf die Watchlist. Beim nächsten Halt steigen Sie aus", bestimmte Michael mit eiserner Strenge.

"Aber, Sir!", schluchzte der Mann. "Das können Sie doch nicht ...."

Michael drehte sich um und ging vor zur Traumkabine. Religiöse Spinner hatten in einem Interdim nichts zu suchen. Im Bewusstsein, absolut richtig gehandelt zu haben, drückte er die Brust heraus.

Ein Blick auf die Messgeräte im Cockpit zeigte ihm, dass Pascal schon dabei war, die Abweichungen zu korrigieren. Zufrieden setzte sich Michael in seine Koje. Die nächste Dimension, die sie erreichen würden, war Halifax, 568R173U99. Die Fahrgäste waren alle wach. Da konnte er sich eine kleine Pause gönnen.

Er lehnte den Kopf gegen das Polster und sah in die grauweißen Schwaden vor dem Fenster. Wieder versuchte er, zu erkennen, was dahinter lag. Waren das Bäume? Oder Gestalten? Da! Ein schlanker, weißer Arm winkte ihm. Neugierig ging er näher und sah eine vermummte Gestalt. "Wer bist du?", fragte Michael.

Die Gestalt ließ den Schleier von ihrem Kopf gleiten. Ein grinsender Totenschädel starrte ihn an.

Entsetzt fuhr Michael auf. Pascal bewegte sich unruhig auf seinem Lager und stöhnte. Die Skalen zeigten total verrückte Werte und vor dem Fenster ballte es sich braunschwarz zusammen. In Michael stieg siedendheiß die Panik auf. Er war eingeschlafen! Das erste Mal in seiner makellosen Laufbahn als Weckmeister! Wo hatte er den Zug hin geträumt?

Pascal stöhnte wieder. Aus seinem linken Nasenloch tröpfelte dunkles Blut. Die schwarzen Schleier färbten sich kurz hellbraun, dunkelten aber schnell wieder nach. Mit zitternden Händen injizierte ihm Michael die Weckdroge und ein Stärkungsmittel. Die Lider des Klarträumers flatterten. Dann setzte er sich auf. "Wo sind wir?", fragte er erschrocken.

Der Zug ächzte in seinen Verbindungen. Pascal blätterte in seinem Dimensionshandbuch.

"Oh, mein Gott! Da ist ja schrecklich! Welcher Idiot hat uns nur da hin geträumt?!"

"Kommst du wieder auf die Spur, Pascal?", fragte Michael. Er fühlte sich denkbar unbehaglich.

"Natürlich komme ich raus. Es wird nur eine satte Verspätung geben. Finde den Trottel, Mick! Ich würde ihn gar zu gern in die schwarze Brühe dort draußen werfen!"


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