SCHWERPUNKTTHEMA

TRÄUME


Fred H. Schütz


Damals, ja. Damals, als ich noch ein Jüngling war, mit Locken auf dem Kopf, Flausen darin, und nicht die Spur von Lebenserfahrung, damals konnte ich noch gut schlafen. Mit dem Schlaf kamen die Träume: grau in grau und nebulös oder in Technicolor; wie du's haben willst. Damals hatte ich auch Träume die sich wiederholten, oft in Dreiersequenzen. Wie zum Beispiel der Traum von der blauen Blume: ich träumte von einer Blüte von tiefstem Blau, so groß wie zwei Tassen und die Staubfäden in ihrem Kelch schimmerten goldfarbig. Dieser Traum schlug sich in einem Gedicht nieder:


Auf einsamem Gestade
Die Blaue Blume blüht.
In ihrem gold'nen Grunde
Ein güld'ner Stern erglüht.

Sie birgt des Lebens Süße,
Der Liebe Silberschein.
Sie ist der hehre Schlüssel
Des Glückes güld'nem Schrein.

Einmal in hundert Jahren
Die Blaue Blume blüht.
Das Glückskind wird sie finden,
Das sich ins Herze sieht.

Hast Demut du im Herzen
Vor der Unendlichkeit,
Wirst du die Blume finden.
Und die Seligkeit.



Na ja. Ob Demut wirklich zur Seligkeit führt, sei dahingestellt. Um die vorige Jahrhundertwende wäre das Gedicht möglicherweise von einem Redakteur angenommen worden, denn zu jener Zeit war die blaue Blume der Romantik en vogue; aber das war lange vor meiner Zeit. Im Präkambrium meines Lebens war mein Denken eben noch von Buch und Film der Belle Epoque beherrscht. Aber als ich meinen Technicolortraum zu Papier brachte, war die Welt gerade dabei, sich vom Horror eines von einem menschenverachtenden Regime angezettelten Krieges zu erholen, und das Wirtschaftswunder warf seinen Schatten voraus; da war für Romantik wenig Platz.
Stückchen für Stückchen, wie ein Mosaik oder, wenn du willst, ein Puzzle, dessen Meisterplan mir allerdings auf lange Zeit verborgen bleiben sollte, gewann ich an Lebenserfahrung. Eines Nachts kam ich todmüde von der Spätschicht nach Hause und fiel in einen bleiernen Schlaf, der allerdings alsbald in die REM-Phase überging. Ich hatte einen aufwühlenden Traum, in dessen Verlauf ich ein auf mein Traumgesicht bezügliches Gedicht verfaßte. Mitten in der Nacht fuhr ich aus dem Schlaf auf, wälzte mich aus dem Bett ohne richtig zu erfassen was ich tat, und kritzelte das Traumgedicht hastig auf einen Zettel. Erst als ich es am Morgen las, erfaßte ich was ich da niedergeschrieben hatte. Das war vor fünfzig Jahren. Ich habe seitdem nicht einmal ein Komma daran geändert:



Sich neigend taucht die Sonne
Zum Horizont hinab,
Beleuchtet mit blutigem Scheine
Am Weg ein einsam Grab.
Zwei karge Hände geben
Der Erde frischem Grund
Die letzten, hehren Grüße
Und einen Blumenbund.
Ein Schatten zeigt gen Morgen,
Verzerrt und lang und blass.
Gramzerfurcht von Sorgen,
Ein Antlitz, tränennass.
Es geht mit wehem Raunen
Ein Wind voll Traurigkeit.
Erschauernd stehen die Birken.
Ein Käuzchen klagt sein Leid.
Leidblinde Augen sehen
Dort in der Erde Schoß
Die teure, liebe Seele,
Vermodern tief im Moos.
Aufglühend mit mächtigem Leuchten
Verkünden des Tages Tod
Der Sonne letzte Strahlen.
Und zögernd stirbt das Abendrot.




Vor zwanzig Jahren gelangte ich an jenen Ort und war überwältigt; ein Schauer der Ehrfurcht lief mir über den Rücken. Zwar ist der Weg einer asphaltierten Straße gewichen, das Grab ist nun eines von vielen auf dem Friedhof hinter den Birken und das Käuzchen ist ausgewandert, aber sonst war alles so, wie es in dem Gedicht beschrieben ist. Ich bin später noch öfter an der Stelle vorbeigekommen, und jedes Mal überkam mich die gleiche Empfindung.
Wer das Paradies sucht, so heißt es, den flieht es. Obwohl sich ein Muster abzeichnet, ist mir das Wesen des Meisterplans, dessen Essenz, verborgen geblieben. Meine Träume lieferten mir weiterhin Stoff, nicht selten so ausführlich, daß ich quasi nur abzuschreiben brauchte, wenn auch nie mehr so wortgetreu wie das vorstehende Gedicht. Als die Träume seltener wurden, weil ich mich gezwungen sehe, meinen seit Jahrzehnten stetig zunehmenden Schlafstörungen mit Medikamenten zu begegnen, sprang mein Unterbewußtsein ein. Sogar der grausige Tod meines Sohnes konnte meine Schöpfungskraft nur für eine begrenzte Zeit lähmen. Der Born meiner Phantasie will nicht versiegen, auch wenn ich hin und wieder pausieren muß, um, wie man so sagt, die Batterien aufzuladen. Deswegen mache ich mir auch über etwaige Schreibblockaden keine Gedanken.
Vor rund fünfzig Jahren bastelte ich an einem Gedicht, das mir von Bedeutung schien, zu dem mir aber nur die beiden ersten Verse einfielen. Ich konnte mich abmühen wie ich wollte, es fiel mir nichts weiter dazu ein; also legte ich es auf Eis. So ruhte es unberührt die ganze lange Zeit. Vor kurzem träumte ich die beiden Verse, die das Gedicht "ganz" machen, es ausrunden, sodaß es einen Sinn ergibt:




Genügung macht aus Asche Brot,
Enthaltung gibt nur Sorg' und Not,
Entsagung schafft der Seele Pein.
Doch Gier schließt dich im Grabe ein.

Der Großmut viele Freunde schafft.
Die Sparsamkeit die Schätze rafft.
Verschwendung ist ein Totenfest.
Der Geiz dich ewig hungern läßt.

Der Haß ist eine Todesbahn.
Der Zorn springt dich in Rage an.
Der Neid will alles, was du bist.
Trauer niemals Freude ist.

Nur ein Gefühl nicht an sich denkt
Und reicher wird, je mehr es schenkt.
Das dem, der fehlet, Nachsicht übt
Und segnen kann, nur weil es liebt!



Ob hierin der Meisterplan verborgen ist? Jedenfalls macht das im letzten Vers Gesagte das Leben lebenswert.




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