STORIES


JENNIFERS AUGEN

von Marin Balabanov



In diesem Schreiben werde ich, Anthony Morisson, versuchen, die Ereignisse zu schildern, die zur Einlieferung meines geschätzten Freundes und Kollegen Charles Hayworth in eine Anstalt für geistige Kranke geführt haben.

Charles ist zwar ein erfolgreicher und bekannter Archäologe allerdings aber auch ein ziemlich schwieriger Mensch. Stets in sich gekehrt, spricht er mit niemandem von seinen Gefühlen. Er lebt nur für seine Arbeit und liebt sie über alles. Beinahe scheint es so, als ob diese abgöttische Liebe für seine Arbeit ein Ersatz für jede Form von Beziehung mit einer Frau dient. So ist er im Alter von 35 noch immer nicht verheiratet, auch unterhält er keine wie auch immer geartete Beziehung zu einer Frau. Seine Aufmerksamkeit gehört allein seiner Arbeit.

Genau diese Eigenart war es aber, die Charles zu einem aufopfernden und zuverlässigen Mitarbeiter machte. Jeden Augenblick seines Wachseins nützte er, um an seinen beruflichen Aufgaben zu arbeiten. Oft hatte ich den Eindruck, dass der menschliche Drang nach Schlaf und Nahrung von Charles nur als lästige Pflicht angesehen wurde, der er nachkommen musste, um seine berufliche Leistung nicht zu beeinträchtigen.

Die meisten Projekte, an denen wir gemeinsam arbeiteten, wurden in den Jahren zwischen 1876 und 1884 von der National Excavation Society des British Museum finanziert. Wir sollten in Ägypten nach vergessenen Grüften forschen, von denen wir in den Schriften nur Andeutungen fanden. Diese spärlichen Informationen reichten Charles, um in unserer Suche trotzdem überraschenden Fortschritt zu machen. Anhand von vagen Andeutungen und mageren Angaben orientierte sich Charles auf der schier endlosen und beinahe eigenschaftslose Wüste. Fast schien es, als könne er so denken wie die Könige des Altertums. So fanden wir rasch Indizien, die uns Aufschluss über die Lage der Königsgrüfte gaben.



Dafür arbeitete Charles ununterbrochen. Er las in alten, verbotenen Büchern, in denen niemand damit gerechnet hätte, etwas Nützliches zu finden. Er studierte jahrhundertealte Karten, untersuchte vorzeitliche Artefakte und Relikte primitiver Stämme, die lange vor den ägyptischen Dynastien den Nil bewohnten. Stets ging er davon aus, dass die Lage einer Grabstätte oder eines Ort religiöser Anbetung über die Generationen hinweg gleich blieb. Einzig die Religion und die Formen der Anbetung veränderten sich.

In diesen Monaten der Zusammenarbeit mit Charles lernte ich ihn in professioneller Hinsicht zu bewundern. Jeder Versuch aber, ein Gespräch persönlicheren Charakters mit ihm zu führen, wurde im Keim erstickt. Charles sprach nur über den Fortschritt seiner Arbeit und über die jeweiligen Schwierigkeiten und Problemfelder, die ihn beschäftigten.

Allerdings sprach er nicht nur mit mir und den anderen an diesem Projekt beteiligten Personen. Wenn Charles annahm, er sei allein, führte er auch Selbstgespräche. Natürlich fiel uns das auf, weil er so vertieft war in sein Tun, dass er die Anwesenheit eines anderen nur selten bemerkte. Ihm gegenüber erwähnten wir das aber nie, weil wir die großen Fortschritte, die wir meist ihm zu verdanken hatten, nicht gefährden wollten.

All dies änderte sich jedoch, als wir im August 1885 die Arbeit an einer neuen Ausgrabung begannen. Unser Team bestand neben Charles Hayworth und mir, aus unserem amerikanischen Kollegen Howard Dixon und dem belgischen Archäologen François Pidot. In der Nähe von Cornwall erhofften wir uns, ein altes Dorf zu bergen, dass einige hundert Jahre vor der Geburt Christi dort gegründet wurde. Die genaue Datierung sollte Pidot machen, zu dessen Spezialgebiet gerade dies gehörte. Dixon besorgte uns den finanziellen Rückhalt, den wir diesmal unabhängig vom British Museum erhielten.



Durch meine Lehrtätigkeit in Cambridge konnte ich eine Gruppe junger Studenten organisieren, die uns bei den reinen Grabungsarbeiten, die eher körperlicher Natur waren, helfen sollten. Außerdem wollten wir ein wenig Gesellschaft. Die langen Jahre in der Wüste Arabiens hatten uns einsam und hungrig nach Abwechslung gemacht. Wenn wir schon auf unserem Heimatboden arbeiteten, dann sollte das doch für uns Vorteile mit sich bringen.

Eine Studentin namens Jennifer Worthington stach besonders heraus. Sie zeichnete sich nicht nur durch ihre profunden Kenntnisse altrömischer, ägyptischer und phönizischer Geschichte aus, mit denen sie uns in den langen Abenden im Lager unterhielt, vielmehr schien sie in Charles eine Veränderung hervorzurufen, mit der niemand gerechnet hätte. Er fand enormen Gefallen an ihr. Sie regte ihn durch ihre tiefgreifende Neugierde professionell und durch ihr sonniges Gemüt - so meinte ich - auch menschlich an. Miss Worthington und Charles verbrachten unzählige Stunden im Gespräch über die Antike, das Mittelalter und die Archäologie im Allgemeinen.

Es ist unnötig zu erwähnen, dass Charles' Arbeit unter Miss Worthingtons Anwesenheit litt. Der einst so arbeitsame und tatkräftige Forscher verbrachte seine Zeit mit Dingen, die er bisher als entschieden nutzlos darstellte. Anfangs wusste ich nicht, was ich von der Veränderung in Charles' Benehmen halten sollte. Einerseits war ich darüber erfreut, dass dieser Mann, der bisher ein Leben von Keuschheit, Enthaltsamkeit und beruflicher Hingabe geführt hatte, plötzlich so intensives Interesse für eine Dame zeigte, die er kaum kannte. Andererseits war unsere Arbeit beinahe zum Stillstand gekommen.

Charles nannte sie Jenny mit unverkennbarer Zuneigung in der Stimme. Er beschrieb sie als "Blüte in der Morgendämmerung". Sprach von ihrem Haar als "gesponnenes Sonnenlicht" und beschrieb ihr Lächeln als "herzerwärmender als ein Frühlingstag". Es waren jedoch ihre Augen, die ihn am meisten faszinierten. Für ihre Augen fand er keine Beschreibung. Ich selbst würde sie als entzückende blaue Augen bezeichnen. Charles hingegen sprach von ihnen, als seien sie etwas Übernatürliches. Er meinte, sogar die Götter würden Jenny um die Schönheit ihrer Augen beneiden.

Nachts, als wir uns in unseren Zelten zur Ruhe betteten, blieb Charles noch lange auf. Auf meine Frage nach dem Grund, würde er mit poetischen Phrasen antworten.

"Ich muss wohl mein ganzes Leben lang blind gewesen sein. Doch jetzt, da meine Augen offen sind, sehe ich nur sie."

Als würde es ihn beruhigen, das zu sagen, würde er dann wie ein kleines Kind mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen.

Nicht nur aufgrund meiner eigenen Beobachtungen, auch nach Gesprächen mit anderen Personen, kam ich zu einem unweigerlichen Schluss, den ich bis vor wenigen Wochen für unmöglich gehalten hätte: Charles Hayworth hatte sich in eine Frau verliebt.

Allerdings weiß ich heute, dass Jennifers Interesse für Charles rein professioneller Natur war. Sie hatte jemanden gefunden, mit dem sie über die Faszination der Geschichte reden konnte. Romantische Absichten lagen nicht dahinter.

Etwas anderes beunruhigte mich jedoch. Unserem Zeitplan zufolge sollten wir mit den physischen Ausgrabungstätigkeiten bereits im September beginnen. Wir wollten nicht, dass die Schaufeln unserer Arbeiter gegen die gefrorene Erde des winterlichen Cornwall kämpfen mussten. Um effizient arbeiten zu können, waren wir auf Charles' unersetzlichen Spürsinn angewiesen.

Da ich aber wusste, dass ich nicht mit seiner Hilfe rechnen konnte, nahm ich die Ausgrabung wohl oder übel in die Hand. Es war für mich aufregend. In den letzten Jahren hatte ich mich viel zu sehr an die Hilfe meines Kollegen gewöhnt. Jetzt lag das Projekt allein in meinen Händen. Die alten Instinkte wurden wieder geweckt und ich packte voller Tatendrang zu.

Um dadurch Charles nicht zu kränken, wollte ich ihn wegschicken. Ich legte ihm nahe, die nächsten Tage mit Jennifer in meinem Landhaus zu verbringen, das nur unweit der Ausgrabungsstätte lag.

Charles nahm den Vorschlag dankend an. Er überzeugte auch Jennifer. Immerhin hatten die nach täglichem Maßstäben sehr klein bemessenen Fortschritten an Faszination verloren. Sie wollte sich aber die fertige Ausgrabung ansehen. In der Zwischenzeit würde sie, gemeinsam mit Charles, im Landhaus Erholung suchen und viele Stunden angeregter Unterhaltung verbringen. So brachten Howard Dixon und ich die beiden zu diesem Domizil, das einem Märchen entsprungen zu sein schien.



Meine wahren Motive hinter dieser Wohltat waren aber mehr als nur ein wenig selbstsüchtig. Ich wollte durch Charles' Abwesenheit langfristig, die Kontrolle über diese erfolgversprechende Ausgrabung und somit über alle zukünftigen Projekte erlangen.

Mitte November hatten wir das vorzeitliche Dorf geborgen. So unglaublich gut wie es erhalten war, konnten wir uns ein genaues Bild davon machen, wie die Körbe flechtende Bevölkerung damals gelebt hatte. Von den Kaminbauten, den Begrenzungssteinen bis hin zu erhaltenem Werkzeug konnten wir eine lange vergessene Zivilisation rekonstruieren und so die Wurzeln unserer eigenen wieder finden.

Ich reiste zum Landhaus, um Charles und Jennifer die frohe Nachricht zu unterbreiten. Ein heftiger Schneesturm erschwerte meine Fahrt dorthin. Dieses Aufbäumen des Wetters war zwar für diese Gegend und Jahreszeit im Allgemeinen nicht untypisch, im Besonderen war der Sturm aber unüblich wild und erbarmungslos.



Endlich, am Eingang zum Landhaus angekommen, klopfte ich fest an der dicken Holztür. Ich fürchtete, das Lärmen des Sturmes würde unser Klopfen unhörbar werden lassen. Tatsächlich antwortete niemand. Ich wiederholte das Klopfen diesmal fester.

Durch das kleine Fenster neben der Eingangstür konnte ich erkennen, dass im Inneren verspielt flackerndes Kerzenlicht brannte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die beiden bei diesem Wetter außer Haus gegangen wären.

Ich steckte den Zweitschlüssel ins Schloss und traf auf Widerstand. Auf der anderen Seite steckte ebenfalls ein Schlüssel. So konnte ich die Türe unmöglich öffnen, daher beschloss ich, das Landhaus durch den Hintereingang zu betreten. Langsam kroch die Tür auf und ich betrat mein eigenes Haus als Fremder. Der Hintereingang führte in die Vorratskammer. Was ich dort sah, verschlug mir die Sprache. Ich fand dort keine Lebensmittel und kühlbedürftige Güter vor. Dieser Raum war als Messerkabinett eingerichtet. Die seltsamsten Klingen und Schneidinstrumente hingen an den Wänden und lagen in den Regalen. Krummsäbel und Beile, die ich nie zuvor gesehen hatte, lagen dort so selbstverständlich auf, als befänden wir uns im finstersten Mittelalter. Mein Instinkt zwang mich dazu, mir einen Dolch zu greifen. Ich ahnte, dass etwas Schlimme mich im Haus erwartete.

Voller Grauen setzte ich die Erkundung meines eigenen Hauses fort. Ich betrat die Küche, wo sich mir ein Bild gewaltiger Unordnung offenbarte. Ich hatte für Charles und Jennifer keine Bediensteten angeheuert, denn ich hatte angenommen, sie wären lieber alleine und wären ordentlich genug, um hinter sich aufzuräumen.

Der üble Gestank vertrieb mich aus der Küche. Der Anblick, der mich im Esszimmer erwartete, erfüllte mich bis zum letzten Nerv mit Entsetzen. Ich kann mich kaum erinnern, jemals zuvor ein noch größeres Grauen empfunden zu haben.

Auf dem langen Banketttisch lag Jennifer. Sie war völlig nackt und regungslos. Ich befürchtete das Schlimmste. Ihr Körper war überzogen von blutigen Wunden und beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Blut tropfte dickflüssig vom Tisch auf den Boden herab. Ihren geschundenen Händen waren die Finger abgeschnitten, Schnitte und Risse verunstalteten ihren Torso und ihr Gesicht war verdeckt von ihrem vormals blonden Haar, das nun die Farbe getrockneten Blutes angenommen hatte. Ich brauchte keinen Arzt, um zu wissen, dass sie tot war.

Lange Augenblicke starrte ich ihren Leichnam an. Das Bestürzen lähmte meinen Körper. Übelkeit stürzte auf mich ein, als habe sie auf meinen schwächsten Moment gewartet. So musste ich mich von diesem Anblick abwenden, indem ich mit meinem parfümierten Taschentuch vor dem Gesicht in den Korridor floh.

Plötzlich hörte ich Stimmen und Geräusche. Sie kamen vom Keller. Vor lauter Angst umfasste ich das Messer fester, als könne ich mich dadurch sicherer fühlen. Das half aber nichts.

Langsam näherte ich mich dem Abgang zum Keller. Die Tür war nur angelehnt. Licht, das von Flammen zu entspringen schien, glühte von unten in den Gang hinaus.

Verzweifelte Furcht schlug auf mich ein, als sei sie ein Wasserbecken, in das ich hineinsprang. Trotzdem trieb mich die Neugierde an. Es war zu spät, um umzukehren. Langsam zog ich die Tür auf. Plötzlich erschien mir mein eigenes Haus so furchtbar fremd. Jeder Schritt, den ich die Steintreppe hinab machte, brachte mich näher zu den Stimmen und zum Ungewissen.

Je näher ich kam, desto besser konnte ich die Stimmen vernehmen. Verstehen konnte ich sie jedoch nicht. Eine gehörte sicher Charles. Die andere klang unnatürlich tief und vielstimmig, als sei es ein Männerchor, der gleichzeitig gutturale Laute von sich gab. Die Sprache war nicht die Unsrige. In meinen Reisen um die Welt habe ich viele Sprachen kennen gelernt und von noch mehr gehört. Diese Worte konnte ich aber keiner Menschensprache zuordnen.

Ich hielt den Atem an und machte den letzten Schritt, der mich aus dem Treppengang in den Keller brachte.



Ich werde nie vergessen, was ich dort sah. Es erfüllte mich derart mit Grausen und Ekel, dass ich überrascht war, dass ein Mensch überhaupt in der Lage war, solche abstoßenden Empfindungen in solchen Ausmaßen wahrzunehmen.

Ein Mann in blutbespritzter Robe stand vor der Kellerwand. Sein wildes Haar spreizte sich wie die Finger einer Leiche in alle Himmelsrichtungen und in seinem Gesicht lag der Ausdruck des Wahnsinns. Hinter seinen gefletschten Zähnen konnte ich erst nach einigen Augenblicken Charles erkennen. Er hielt ein blutiges Messer in der einen Hand und in der anderen eine kleine Holzkiste, wie sie für die Aufbewahrung von Zigarren verwendet wird. Charles starrte mich an. Seine weit aufgerissenen Augen waren durchzogen von knallroten Äderchen.

So gefesselt war ich von seinem Erscheinungsbild, dass ich viel zu spät auf die Mauer neben ihm hinsah. Bis zum heutigen Tage schwöre ich, dass ich ein Loch in der Mauer zu erkennen glaubte. Es war kein Riss, es war kein Durchgang, wie wir ihn kennen. Vielmehr war es eine organische Öffnung. Es sah aus, wie die Körperöffnung eines gewaltigen Geschöpfes, von dem ich nie gehört hatte.

Vor meinen Augen schloss sich die Öffnung und die Mauer nahm das Erscheinungsbild an, das mir seit dem Erwerb des Hauses bekannt war.

Als Charles das sah, begann er derartig markerschütternd zu schreien, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Er schlug mit dem Messer und der Kiste auf die Mauer ein. Abwechselnd in dieser fremden Sprache wie auch in unsriger schrie er, er wolle noch eine Chance. Er schrie, die Götter und Dämonen sollen wiederkommen, er habe ein Opfer für sie. Ich verstand nur sehr wenig von dem, was er von sich gab. Immer wieder sprach er Jennifers Namen aus. Immer wieder sprach er von ihren Augen.

Vielleicht war es vor Anstrengung oder vor Enttäuschung, jedenfalls brach Charles zusammen. Mit ausgestreckter Zunge und offenen Augen, die ins Unendliche blickten, blieb er am Boden liegen.

Ohne mich zu regen stand ich im Keller. Mein Herz schlug so heftig, dass ich beinahe keine Luft bekam. Mein Verstand musste erst verarbeiten, wovon ich Zeuge geworden war.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich im Keller verbracht hatte, bevor ich durch den Lärm der berstenden Eingangstür aus meinem hypnotischen Bann gerissen wurde. Glücklicherweise hatte sich Dixon um mich Sorgen gemacht und war mir mit seinen Männern zum Landhaus gefolgt. Ich war über diesen plötzlichen Einbruch der Wirklichkeit sehr froh.

Gemeinsam trugen wir Charles bewusstlosen Körper in den Gang hinauf. Dabei fiel ihm das blutige Messer aus der Hand. Die kleine Holzkiste hielt er trotzdem noch so fest, dass wir sie ihm nur mit Gewalt entreißen konnten. Dabei prallte sie auf den Boden und sprang auf.

In ihr lagen zwei Augäpfel. Ich erkannte sie sofort. Es waren Jennifers himmelblaue Augen.



Ende



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