STORIES


ODEURS

von Susanne Stahr



"Ich kann Ihnen nicht mehr als 20 Dollar geben. Selbst das ist schon ein Verlustgeschäft für mich", sagte Vanessa bedauernd. "Da ich sehe, dass Sie Hilfe brauchen, bin ich an die äußerste Grenze gegangen." In den letzten Satz legte sie besonders viel Gefühl, auch in den Blick ihrer leicht hervorquellenden, blassblauen Augen.

"Aber, sehen Sie doch!", jammerte der Mann und fuhr nervös durch sein schütteres Haar. "Der Anzug ist doch in bestem Zustand. Ich habe ihn vielleicht fünfmal getragen."

"Er ist nicht mehr modern", gab Vanessa ernst zu bedenken. "Meine Kunden wollen günstig moderne Ware bekommen."

"Aber bei so einem guten Zustand kann ein Zuschlag ...."

"Ich bewege mich durchaus innerhalb des gesetzlichen Spielraums. Nehmen Sie das Geld oder lassen Sie es. Woanders bekommen Sie noch weniger."

Mit einem tiefen Seufzer nahm der Mann den zerknitterten Schein und verließ den Laden. Die Tür war noch nicht hinter ihm zugefallen, da breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf Vanessas Gesicht aus. Das war wieder einmal gut gegangen. Dieser Anzug würde ihr mindestens 100 Dollar bringen. Sie beschloss, ihn zuerst einmal mit 150 auszuzeichnen.

Das Lächeln lag noch immer auf ihrem Gesicht als sie den Second-Hand-Laden zusperrte. Solche Geschäfte wünschte sie sich jeden Tag. Ihr Blick glitt über die Fassade des Hauses. Da wäre wohl ein neuer Anstrich fällig. Aber kämen dann noch dieselben Leute zu ihr?

Beschwingt ging sie die Straße hinunter. Im Vorbeigehen holte sie sich einen Kontoauszug bei ihrer Bank. Ihr Guthaben war wieder gestiegen. Vielleicht könnte sie jetzt zu ihrem Laden und den Wohnungsräumungen, die sie gelegentlich machte, auch noch Vermögensberatungen machen? Ha, da musste man einen Kurs machen ....

Ein Gestank wie aus einer Kloake beleidigte ihre Nase und holte sie von ihrer rosa Wolke. Mit gerümpfter Nase sah sie sich um. Kein Kanalgitter, kein überfüllter Mülleimer, keine verdächtige Lache, die dafür verantwortlich sein könnte. Ernüchtert beschleunigte sie ihre Schritte. Doch der unangenehme Geruch folgte ihr hartnäckig.

Zu Hause inspizierte sie ihre Schuhe. War sie vielleicht unbemerkt in Hundekot getreten? Nein, die Sohlen waren vollkommen sauber. Auch an ihrer Kleidung fand sie nichts. Trotzdem warf sie alles in ihren Wäschekorb und schlüpfte in ein weiches Hauskleid. In letzter Zeit hatte sie diesen Gestank schon öfter wahrgenommen. Warum nur? Während sie sich ein paar Brote strich begann sie sich besser zu fühlen, obwohl noch ein Rest des Gestanks in der Luft hing.

Als Nächstes kam ihr Abendritual. Sie setzte sich auch ihr Sofa und beobachtete den schmalen Streifen Licht, den die Abendsonne auf ihren Teppich malte. Er wanderte langsam auf sie zu, wurde immer schmaler und verschwand ehe er die Spitzen ihrer Hausschuhe erreichen konnte. So war es an jedem Abend. Sie saß am Sofa und wartete auf den Sonnenstrahl. Wenn er kurz vor ihren Füßen erlosch, fühlte sie immer ein leises Bedauern und eine unerklärliche Sehnsucht nach der Berührung des Lichts. Sie hätte sich nur ein wenig weiter nach rechts setzen müssen, aber da hielt sie eine unsichtbare Kraft zurück. Eines Tages würde sie es tun, aber nicht heute.



Da war sie wieder, diese einschmeichelnde Stimme. Vanessa konnte die Worte nicht verstehen. Sie klangen so sanft, beruhigend. Sie versprachen Geborgenheit, Liebe. Sehnsüchtig streckte sie die Arme danach aus. Überall lagen Banknoten, ja, sie badete darin. Immer mehr Scheine quollen aus der Tiefe und drohten sie zu ersticken . Die Geborgenheit war zerbrochen. Vanessa kämpfte dagegen an, doch die Stimme lähmte sie. Sie konnte nicht einmal schreien. Kurz bevor sie in dem Geldmeer versank erwachte sie.

Ihr Gesicht war tränennass, das Herz klopfte bis zum Hals. Wie oft hatte sie diesen Traum schon geträumt? Sie konnte es nicht sagen. Seit vielen Jahren kehrte er wieder und wieder, alle drei oder vier Monate. In letzter Zeit auch öfter.

Vanessa fühlte sich wie durch den Wolf gedreht als sie am nächsten Morgen erwachte. Erst nach einigen Tassen starkem Kaffee und einer Kopfschmerztablette wurde es besser.

Heute stand eine Wohnungsräumung auf ihrem Terminplan, bei einer Mrs. Stone. Und danach ging sie mit Lilian essen. Darauf freute sie sich besonders. Lilian war ihre beste Freundin. Nun ja, sie war auch ihre einzige Freundin, aber das spielte keine Rolle. Oh, Lilian! Wie lange hatte sie sie nicht mehr gesehen? Damals hatte sie gerade irgendwelche Probleme. Mit ihrem Job? Oder doch mit ihrem Mann? Was war es nur? Gedankenverloren kratzte Vanessa an einem Kaffeefleck auf ihrem Tischtuch. Sie konnte sich nicht mehr erinnern.



Ihre Laune besserte sich erheblich nachdem sie die Wohnung betreten hatte, die zu räumen war. Geschmackvolle Möbel, dazu passende Accessoires. Es war nichts von großem Wert dabei. Alles in allem würde sie aber sicher an die 3.000 Dollar dafür bekommen, vielleicht auch mehr.

Vanessa sah den ängstlichen Blick der älteren Frau, das einfache Kleid, die abgearbeiteten Hände, die sie fortwährend drückte. Blitzschnell schätzte Vanessa sie ein. Dann begann das Geschäft.

Zuerst produzierte sie einen tiefen Seufzer, legte die Stirn in sorgenvolle Falten. Dann kam eine bedeutungsvolle Pause. Die Frau wurde immer unruhiger, ihre Hände arbeiteten schneller und heftiger. Das war der richtige Zeitpunkt.

"Nun", begann Vanessa langsam. "Hübsch haben Sie es hier."

"Hm, ja", machte Mrs. Stone verlegen.

"Leider ist mit dem Zeug nicht viel anzufangen", fuhr die Geschäftsfrau unerbittlich fort und sie war entschlossen, sich nicht unterbrechen zu lassen. "da ich aber annehme, Sie würden das hier nicht verkaufen, wenn sie nicht Geld bräuchten, will ich Ihnen entgegen kommen. Ich nehme alles in Bausch und Bogen, für 300 Dollar. Das ist ein gutes Angebot."

Die Frau starrte sie mit offenem Mund an. "Aber, das kann doch nicht Ihr Ernst sein", protestierte sie schwach. "Diese Möbel sind erst vier Jahre alt. Wissen sie, was die ..."

"Eben", unterbrach sie Vanessa. "Sie sind nicht mehr neu oder modern. Ich sehe, dass sie gut gepflegt sind. Nun ja ...." Sie ging noch einmal durch die Räume, tat als begutachte sie das eine oder andere Stück noch einmal. "Ich könnte Ihnen .... äh, 500 Dollar geben", sagte sie schließlich. "Das ist für mich ein Verlust und mein letztes Angebot."

"500!?" Es klang wie ein Aufschrei. "Wir haben mehr als 10.000 Dollar dafür bezahlt. Vor drei Wochen ist mein Mann gestorben. Ich brauche das Geld zur Überbrückung, bis der Nachlass geregelt ist und ich eine andere Wohnung gefunden habe."

"Dann werden Sie sich beeilen müssen", kommentierte Vanessa trocken. "Nehmen Sie mein Angebot nun an oder nicht?"

Mrs. Stone biss sich auf die Unterlippe. "Was bleibt mir anderes übrig? Ich muss ja!"

Jetzt zählte Vanessa fünf 100-Dollar-Scheine auf den Tisch. Nach kurzem Zögern legte sie einen 50er dazu. "Sie sollen mich nicht als Räuber in Erinnerung behalten. Unterschreiben Sie hier!" Ihr farblos lackierter Fingernagel tippte auf eine Stelle auf ihrem vorgefertigten Vertrag. "Meine Männer kommen in zwei Stunden." Geflissentlich übersah sie die zusammen gepressten Lippen der Frau und stolzierte hinaus.

Ein wunderbar sonniger Tag erwartete sie. Kein Lüftchen regte sich. Über den wolkenlosen Himmel zogen hoch oben ein paar Schwalben. Vanessa freute sich über das gelungene Geschäft, über den zu erwartenden Profit, über das schöne Wetter. Beschwingt winkte sie einem Taxi und ließ sich zu dem Restaurant bringen, in dem sie sich mit Lilian treffen wollte.

Schon im Wagen fiel es ihr auf. Es roch wie in einem alten Kanalrohr. Nein, nicht schon wieder! Das musste das alte Auto sein! Vanessa versuchte möglichst flach zu atmen. Insgeheim nahm sie sich vor, den Fahrer anzuzeigen. Es konnte ja mal passieren, dass ein Fahrgast den Wagen beschmutzte. Aber ohne gründliche Reinigung weiterfahren, war unzumutbar. Sie war so verärgert über den Gestank, dass sie kein Trinkgeld gab. Der Fahrer quittierte dies mit einem bösen Blick. Als er wegfuhr, ließ er alle vier Scheiben herunter fahren und öffnete dazu noch das Schiebedach. Dass er zwei Straßen weiter auf einen Parkplatz fuhr und den Rücksitz seines Wagens inspizierte, sah sie nicht mehr.

Zu diesem Zeitpunkt war Vanessa bereits in dem Lokal und nippte an einem Orangensaft. Lilian war noch nicht da. So vertrieb sie sich die Zeit mit einer Zeitschrift. Der Gestank hing immer noch in ihrer Nase. Interessiert las sie einen Artikel über eine Erkrankung des Geruchsinns. Die Patienten vermeinten ständig üble Gerüche wahrzunehmen. Das konnte man behandeln. Im Geist notierte sie: Termin für HNO ausmachen. Sie war mit dem Artikel noch nicht lange fertig, da hörte sie neben sich ein Räuspern.

Der Kellner stand mit starrem Gesicht am Tisch. "Es tut mir Leid, Miss", begann er. "Es ist uns da mit der Reservierung ein kleiner Fehler unterlaufen. Dieser Tisch ist leider schon vergeben. Wir haben aber einen anderen Tisch für Sie. Würden Sie mir bitte folgen?" Mit geübtem Griff räumte er den Tisch ab und ging voraus.

Leicht verstimmt folgte Vanessa ihm in die hinterste Ecke des Lokals. Zum Glück musste sie nicht lange auf Lilian warten. Auch das Essen wurde sehr schnell serviert. Kaum hatten sie den letzten Bissen im Mund, stand der Kellner schon mit der Rechnung da. Vanessas Laune verschlechterte sich zusehends.

Möchtest du noch einen Spaziergang machen?", fragte Lilian. "Wir könnten in den Park gehen."

"Ja, das ist eine gute Idee", stimmte Vanessa zu. Vielleicht wurde sie dort diesen Gestank los, der noch immer in ihrer Nase hing. Es war die Zeit der ersten Rosenblüte. Vanessa liebte Rosenduft.

"Ist dir das auch aufgefallen?", fragte sie ihre Freundin als sie vor einem wunderschönen Teerosenstrauch standen. "Da war so ein eigenartiger Geruch in dem Lokal. Ich bin eigentlich ganz froh, dass wir nicht länger dort geblieben sind. Die dürften ein Problem mit ihrer Toilette haben."

Vanessas Gesicht verlor ein wenig Farbe. "Du meinst, ein Geruch?", stotterte sie. "Nun ja, ich hab nicht so darauf geachtet." Dann fügte sie schnell hinzu: "Ich hatte erst einen Schnupfen ...."

"Oh!" Lilian wandte sich einer großen, samtrosa Züchtung zu und schnupperte daran. "Das tut mir Leid für dich. Diese Rose duftet himmlisch. - Wie gehen die Geschäfte?"

Dieses Thema gefiel Vanessa viel besser. Begeistert schilderte sie einige Fälle, an denen sie besonders gut verdient hatte. darüber vergaß sie den üblen Geruch. Doch nachher kam er ihr wieder stärker vor. War sie in Hundekot getreten? Der Gedanke ließ ihr das Blut in den Kopf schießen. Nur nichts anmerken lassen!

"Wie geht es dir denn?", fragte sie. Im Grunde interessierte es sie herzlich wenig. Sie wollte nur das Gespräch in Gang halten. Auf keinen Fall wollte sie über Gerüche sprechen.

"Ich habe mich scheiden lassen", antwortete Lilian leise und blickte starr über den kleinen Teich, auf dem eine Entenmutter mit ihren halbwüchsigen Küken schwamm.

"Sei froh, dass du ihn los bist. Wozu brauchst du schon einen Mann. Er hat dich doch auch geschlagen! Die Kerle hindern uns nur an der Entfaltung", antwortete sie fröhlich.

"Ja, jetzt kann ich mich entfalten", gab Lilian trocken zurück. "Allerdings fehlt mir dazu ein Job und eine Wohnung. Ich kann nicht ewig bei meiner Mutter wohnen."

Jetzt nahm das Gespräch eine Wendung, die Vanessa nicht gefiel. Am Ende bat sie Lilian noch um Geld! "Sieh doch mal!", rief sie schnell. "Dort haben sie Tagetes gepflanzt! Ich liebe diese Blumen. Wusstest du, dass sie aus Peru stammen?"

"Tatsächlich?" Lilian ging ein paar Schritte in die angegebene Richtung.

Es war eine hohe Sorte Tagetes, die man auch Studentenblumen nannte. Die Blüten waren fast handtellergroß und leuchteten in goldgelb, orange und zimtbraun. Ihr herber Duft übertönte ein wenig den Gestank, der noch immer in Vanessas Nase hing.

"Als ich noch ein Kind war, mochte ich diesen Geruch nicht", erklärte Lilian nun und streichelte vorsichtig eine goldgelbe Blüte. "Jetzt mag ich ihn."

Verdammt! Schon wieder waren sie bei dem Thema Geruch. Vanessa verabschiedete sich wesentlich früher von ihrer Freundin als beabsichtigt. Es schien ihr auch, dass Lilian erleichtert war, gehen zu können. In gedämpfter Stimmung schlenderte sie noch eine Weile durch den Park. Erst als die Sonne sich dem Horizont näherte, begab sie sich nach Hause. Dort saß sie auch dem Sofa und wartete auf den Sonnenstrahl. Wieder verschwand er, kurz bevor er ihre Schuhspitze berühren konnte.



Der Besuch beim HNO-Arzt brachte ein niederschmetterndes Ergebnis. Organisch war alles in Ordnung bei ihr. Was Vanessa so furchtbar aufregte, war der Umstand, dass der Arzt sie an einen Hautarzt verwies. Dieser sollte ihre übermäßige Körperausdünstung behandeln. Der Hautarzt verwies sie an einen Internisten und dieser an einen Homöopathen. Alle waren ratlos. Der Homöopath verschrieb ihr Tabletten und eine strenge Diät. Einen organischen Defekt hatte keiner gefunden, nur dass ein übler Geruch wie eine Wolke sie umgab.

Von diesem Tag an wechselte Vanessa mehrmals täglich die Kleidung, duschte ebenso oft und parfümierte sich mehr als sonst. Verzweiflung bemächtigte sich ihrer. Die Geschäfte stagnierten. Immer öfter kam es vor, dass potentielle Kunden an der Tür ihres Ladens naserümpfend kehrt machten.

Einen kurzfristigen Lichtblick brachte das Geschäft mit einem alten Mann. Er brachte ihr eine schlichte Krawattennadel und dazu passende Manschettenknöpfe. Offenbar hatte er keine Ahnung vom Wert dieser Stücke. Vanessa bekam sie spottbillig, obwohl sie aus reinem Silber waren. Lange hielt die Freude aber nicht an.

Aus unerklärlichen Gründen verstärkte sich der üble Geruch so unerträglich, dass alle Leute schon vor der Tür das Weite suchten. Ja, sie wechselten sogar die Straßenseite um nicht an ihrem Laden vorbei gehen zu müssen.

Frustriert schloss Vanessa den Laden und ging nach Hause. Dort bestellte sie eine Putzbrigade. Ein Teil von ihr konnte einfach nicht akzeptieren, dass die Quelle des Gestanks bei ihr lag.

Traurig saß sie auf dem Sofa und beobachtete den Sonnenstrahl. Sie hatte sich fest vorgenommen, endlich ein Stück zur Seite zu rücken, ins Licht des Strahls. Rein gewohnheitsmäßig saß sie in der Mitte des Sofas. Aber bald .... Der Strahl kam immer näher und näher. Jetzt musste sie aufstehen und ihm entgegen kommen, nur ein kleines Stück.

Alle Kraft hatte sie verlassen. Bewegungslos saß Vanessa auf dem Sofa. Der letzte Sonnenstrahl erlosch während heiße Tränen über ihre Wangen liefen.

ENDE



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