STORIES


SPINNENSEIDE

Teil 1

von Susanne Stahr



Adira stand vor dem Fenster ihrer Kemenate und starrte hinaus in den Regen. Sie war eine hochgewachsene, knochige Frau von dreißig Jahren. Jetzt trug sie ein knöchellanges, blaues Kleid. Doch schienen Lederhosen und Wams besser zu ihr zu passen. Gedankenverloren betastete sie die Narbe, wo einst ihr linker, kleiner Finger war. Das Wasser lockte. Am liebsten wäre sie hinaus in den Regen gelaufen um mit den Tropfen zu tanzen und zu singen und ihre Geschichten zu hören.

Adira war eine Wassermagierin. Rogin, Hofmagier und Heiler auf Burg Partiene, hatte ihr Talent erkannt und sie ausgebildet. Diese Übungen hatten ihrem Leben Struktur verliehen. Manchmal hatten sie ihr auch geholfen, über schwere Zeiten zu kommen.

Vor ihren Augen breitete sich das Land Partiene aus, ein schönes, fruchtbares Land, eine der reichsten Provinzen des Königreichs Baudion, aber nicht ihre Heimat. Über dem Wald, zu Füßen der Burg, lag feiner Nebel. Der Sommer ging zu Ende. Schon waren leichte Anzeichen des Herbstes zu bemerken. Etwas weiter entfernt konnte sie noch die roten Dächer von Borkum erkennen, das Dorf der Weber. Und noch weiter weg, so weit, dass sie es nicht sehen konnte, musste Taifalen liegen, das Land ihrer Geburt. Heimat konnte sie es nicht nennen.

Adira war eine Geisel. Auf ein Machtwort des Königs wurde nach drei schrecklichen Kriegsjahren zwischen den Grafschaften vereinbart, Geisel zu tauschen um den verwüsteten Länder endlich Ruhe bringen. Graf Vannio von Partiene musste sich von seinem ältesten Sohn Hildrich trennen. Ihr Vater, Graf Ragilo von Taifalen. hatte sie, seine älteste Tochter, gesandt, da er keinen Sohn besaß. Dies sollte so lange währen, bis die beiden Streithähne einen Friedensvertrag unterschrieben.

Einmal im Jahr mussten sie sich unter Aufsicht eines königlichen Abgesandten an der Grenze ihrer Länder zu Verhandlungen treffen. Bisher waren diese immer gescheitert. Sollte einer der Kontrahenten den Waffenstillstand brechen, so traf es die Geisel. Mit gemischten Gefühlen sah Adira auf ihre verstümmelte Hand. Graf Vannio hatte ihr vor zwanzig Jahren eigenhändig den kleinen Finger abgehackt. Warum, wurde ihr nie gesagt. Es war auch das einzige Mal, dass er Hand an sie legte.

Der alte Graf war nun schon seit sechs Jahren tot. Sein zweiter Sohn, Gisulf, hatte die Herrschaft über die Grafschaft übernommen, in Vertretung seines Bruders Hildrich, wie er immer betonte.

Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken. Der Regen hatte aufgehört. Es wurde wieder heller. Sie öffnete die Tür zum Söller und trat hinaus. Die steinerne Brüstung glänzte vor Nässe. Mit der hohlen Hand fing sie einen herab rollenden Tropfen auf.

"Schwarze Zeichen", flüsterte er ihr zu und zerfloss.

Sie fing einen anderen Tropfen auf. "Was bedeuten schwarze Zeichen?", fragte sie.

"Reiten", antwortete er.

Ärgerlich verzog sie das Gesicht. Was sollte das bedeuten? Nacheinander holte sie noch einige Tropfen und befragte sie.

"Spinnenseide." "Tod." "Neues Leben." "Trauer und Freude."

Sie konnte sich keinen Reim auf diese Botschaften machen. So wischte sie ihre Hände an ihrem Kleid ab und drehte sich um. Ihr Fuß stockte. Mitten im Zimmer stand die Magd Tilla.

"Was tust du hier?", fragte sie streng. Es ärgerte sie, dass sie das rundliche Mädchen nicht eintreten gehört hatte.

"Verzeih, Herrin. Ich habe geklopft und du hast nicht geantwortet. Da wollte ich nachsehen, ob du wohlauf bist", stotterte die Kleine knicksend. "Graf Gisulf bittet dich, ihn zu beehren."

"Wo finde ich den Grafen?", fragte sie, obwohl es nicht viele Möglichkeiten gab. Zumeist war es sein Arbeitszimmer.

"Er erwartet dich im Rittersaal", antwortete die Magd.

Das war ungewöhnlich. Adira nickte. "Ich bin schon auf dem Weg", sagte sie etwas unzeremoniell. Ein Blick in ihren Handspiegel sagte ihr, dass ihr dunkelbraunes Haar noch nicht zu zerzaust war für eine Audienz beim Grafen. So machte sie sich mit dem Mädchen auf den Weg.

Graf Gisulf war mit seinen zweiunddreißig Jahren im besten Alter. Er war nur wenig größer als Adira und breiter gebaut. Trotz einer Narbe, die von rechten Augenwinkel bis zum Kinn reichte, konnte er als gut aussehend bezeichnet werden. Die Fältchen um seine Augen deuteten auf einen humorvollen Charakter, wovon im Moment aber nichts zu sehen war. Was konnte es sein, das seine Miene so mürrisch erscheinen ließ?

Gisulf! Zuerst nur Gespiele ihrer Kindheit. So wie sie in ihm die verlorene Schwester suchte, suchte er in ihr den verlorenen Bruder. Später wurde er, auf Befehl seines Vaters, ihr Trainingspartner. Graf Vannio bestand darauf, dass sie sich wie sein Sohn im Reiten, Fechten, Bogenschießen und waffenlosem Kampf übte. Das Reiten machte ihr Spaß, aber die anderen Übungen absolvierte sie nur widerwillig. Sie war viel lieber in Rogins herrlich unordentlicher Studierstube. So kam es, dass sie zwar nicht wehrlos war, aber einem entschlossenen Krieger weit unterlegen.

Die anfängliche Kinderfreundschaft zwischen Gisulf und Adira war zu einer guten Kameradschaft gewachsen. Und als Adira vom Kind zur Jungfrau erblühte, verliebte sie sich in ihn, wohl wissend, dass sie keine Chance hatte. Gisulf zeigte seine Gefühle ihr gegenüber nie offen, doch versteckte Blicke und andere kleine Zeichen deuteten an, dass Adira für ihn mehr war als nur ein Trainingspartner. Als er dann, auf Befehl seines Vaters, die zarte Lady Bahima heiratete, versteckte sie ihre Gefühle hinter ihrer Magie, dem Rauschen des Wassers. Dahinter aber brannte ein loderndes Feuer.

Vor zwei Jahren war Gisulfs Gattin nach jahrelanger Kinderlosigkeit an den Folgen einer Fehlgeburt gestorben. Und seit einem Jahr umwarb er Adira. Sie hatte ihn bisher immer abblitzen lassen. Teils, weil sie sich ein wenig als Lückenbüßer fühlte, teils, weil sie in einer Ehe mit Gisulf politisches Kalkül vermutete. Trotzdem gab er nicht auf. War dies wieder ein Versuch, sie um zu stimmen?

Überrascht sah sie, dass er die goldene Grafenkette mit dem kunstvoll gearbeiteten Wappen derer von Partiene um den Hals trug. Also kein weiterer Heiratsantrag. Ein offizieller Anlass?

"Nimm Platz, Lady Adira", sagte er förmlich. "Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen."

Beunruhigt ließ sie sich auf eine gepolsterte Bank sinken und er setzt sich ihr gegenüber in einen hochlehnigen Stuhl. Nervös fingerte er an seiner Kette. Dann holte er tief Luft. Wieder klang seine Stimme sehr geschäftsmäßig.

"Vor zwei Tagen wurde ein Friedensvertrag zwischen den Grafschaften Partiene und Taifalen unterschrieben. Aus diesem Grund dürfen die Geisel heimkehren." Er sah sie an als erwarte er eine ganz bestimmte Reaktion. Als sie schwieg, fuhr er im selben Tonfall fort: "Du kannst alle deine persönlichen Dinge mitnehmen. Meine Krieger bringen dich an die Grenze, wo du von deinen Leuten übernommen wirst." Wieder machte er eine Pause.

Adira war wie vom Donner gerührt. In den ersten Jahren hatte sie gehofft, bald zu ihrer Familie zurück kehren zu können. Doch nach so vielen Jahren war die Hoffnung gestorben. Was sollte sie in einem Land, an das sie nur noch verschwommene Erinnerungen hatte? Was sollte sie sagen? Im Lauf der Jahre hatte sie sich hier eingewöhnt. Was erwartete sie in Taifalen?

"Hast du gehört, was ich gesagt habe?" Gisulf war die Geduld ausgegangen.

"Was?", fuhr sie aus ihren Gedanken auf. "Oh ja! Ich habe dich gehört. Verzeih!" Sie schenkte ihm ein Lächeln. "Ich kann es nur nicht begreifen. Wie kam es zu dem Friedensvertrag? Du warst doch dabei?"

"Ja, ich war dabei", gab er zu. "Aber ich darf zu dir nicht darüber sprechen."

"Warum nicht?" Aufgebracht sprang sie auf. "Es betrifft mich doch!"

"Der König meint, die Geiseln sollen unbelastet zu ihren Familien zurück kehren." Nun stand auch er auf und trat auf sie zu. "Ach, Adira! Kommst du zu mir zurück, wenn deine Familie damit einverstanden ist? Ich bin dann kein Graf mehr, aber immer noch eine gute Partie. Ich liebe dich, Adira. Der Gedanke, dich zu verlieren, ist mir unerträglich."

Nun ja, Gisulfs Heiratsanträge waren in letzter Zeit mit schöner Regelmäßigkeit gekommen. Insofern hörte sie nichts Neues. Die nun so plötzlich und unerwartet veränderte Situation gab diesem Antrag allerdings eine neue Qualität.

Adira horchte aufmerksam in sich hinein. Wie stand es mit ihren Gefühlen für ihn? Da war das Rauschen des Wassers, das alles andere übertönte. Sie hatte es gelernt, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Gab es da nicht eine kleine Stimme, die ihr etwas zurief? Ihr Verstand schaltete sich ein. Was erwartete er von ihr? War sie nicht zu alt um Kinder zu gebären? Siehst du nicht die Liebe in seinen Augen, rief ihr die kleine Stimme hinter dem Wasserfall zu. Sie wollte ihr glauben, brachte es aber nicht fertig. Hin und her gerissen, zupfte sie ihrem Ärmel.

"Darüber möchte ich nachdenken, Gisulf", sagte sie vorsichtig.

"Ja, natürlich", antwortete er schnell. "Das ist eine wichtige Entscheidung." Den letzten Satz hatte er mehr zu sich selbst gesagt.



An einem windigen Morgen machten sie sich auf den Weg. Adira ritt ihre geliebte Isabelle-Stute Seidenwolke und führte ein Packpferd am Zügel. Sechs Krieger waren ihre Eskorte. Auch Gisulf ritt mit ihnen. Als Handpferd hatte er ein lediges, aber gesatteltes Pferd für seinen Bruder dabei.

Im Dorf der Weber ließ Gisulf den Trupp anhalten und betrat eins der Häuser. Auch Adira stieg ab und übergab einem Krieger die Zügel. Sie wollte sich von ihren besonderen Freunden verabschieden.

Ein schmaler Pfad führte zu einem von hohen Birken umgebenen Teich. Adira stieß einen singenden Pfiff aus und da kamen sie übers Wasser gelaufen, die Wasserspinnen von Partiene, groß wie Hirtenhunde. Ihre Beißwerkzeuge klickten einen Gruß. Traurig strich Adira über den seidigen Pelz ihrer Köpfe. Sie würde diese sanften Geschöpfe, die die herrliche Spinnenseide produzierten, vermissen. Als Kinder des Wassers standen sie ihr besonders nahe.

"Ich gehe fort", sagte sie leise und sah in die dunklen Augen. "Irgendwann kehre ich zurück."

"Wir vergessen dich nicht", klickten die Spinnen. Ihre vorderen Beine zupften an ihrer Reitjacke.

Mit einem Seufzer drehte sie sich um und kehrte zu ihrer Eskorte zurück. Gisulf wartete schon auf sie.

"Ich möchte dir etwas geben, das dich an ... Partiene erinnert", sagte er und gab ihr ein leinenes Tuch.

"Ich danke dir, Gisulf", antwortete sie lächelnd und schlug das Tuch auseinander. Ein Schultertuch aus hauchfeiner Spinnenseide kam zutage. Das zarte und doch so unverwüstliche Gewebe schillerte wie Perlmutt. Es war das größte Werkstück aus Spinnenseide, das sie je gesehen hatte. Die Weber fertigten zumeist nur schmale Borten und Spitzen für die Kleider der Damen oder als Verzierung für Bettwäsche.

"Gisulf!", rief sie aus. "Das ist ...." Sie fand wie schon so oft keine Worte. Statt dessen sah sie in sein Herz. Die Spinnenseide öffnete ihr den Weg dahin. Was sie dort fand, rührte in ihr eine Saite, die sie all die Jahre gewaltsam still gehalten hatte. Sie warf einen Blick auf die Krieger, die plötzlich alle mit dem Rücken zu ihnen standen und intensiv mit ihren Pferden beschäftigt waren. "Gisulf, warum hast du mir nie gesagt wie sehr du mich liebst?", fragte sie flüsternd.

Er trat auf sie zu und legte einen Arm um ihre Schulter, so sanft, dass sie es kaum spürte. "Ich habe es versucht, aber du glaubtest mir nicht," gab er ein wenig vorwurfsvoll zurück. "Dann war es für mich eben leichter, aus politischen Gründen zurück gewiesen zu werden", antwortete er ebenso.

"Zur Hölle mit der Politik!", hauchte sie. "Jetzt ist es zu spät."

"Vielleicht doch nicht", wandte er ein. "Wenn deine Familie einverstanden ist, ..."

Da stand er vor ihr. Groß, ein mächtiger Krieger. Doch jetzt wirkte er klein und verloren. Das Wasser rauschte in ihr, aber jetzt übertönte es die Stimme ihres Herzens, die zu ihm drängte. All ihre lang unterdrückten Gefühle brachen durch. Seit zu langer Zeit schon brannte in ihr ein Feuer für Gisulf. War er immer noch der Sohn des Feindes, der eine andere ihr vorzog? Nun bewies er seine Liebe mit dieser wunderbaren Spinnenseide. Ihre Arme wollten sich ausbreiten, ihn umfangen.... Aus alter Gewohnheit schob ihr Verstand einen Riegel vor, wollte diesen Impuls hinter dem Rauschen des Wassers verbergen. Nein, sagte sie sich, diesmal nicht. Es war nicht leicht, über ihren Schatten zu springen. Eine endlose Sekunde lang rang sie mit sich, dann gab sie nach. Ein Entschluss reifte in ihr. Sie wog ihn ab, kämpfte ihre Ängste nieder.

In ihrem Gepäck war ihr Handspiegel. Sie suchte ihn heraus und wickelte die Spinnenseide darum während sie eine kleine Melodie summte. Dann reichte sie Gisulf den Spiegel.

"Nimm diesen Spiegel, Gisulf", sagte sie leise und eindringlich. "Durch ihn und die Spinnenseide können wir miteinander sprechen."

Ein glückliches Lächeln huschte über sein Gesicht als er auf den Spiegel in seiner Hand blickte. Adiras Gesicht lächelte ihn daraus an. Schnell schob er ihn unter sein Wams. Dann zog er sie an sich und flüsterte kaum hörbar: "Komm zu mir zurück. Ich liebe dich mehr als mein Leben." Er hauchte noch einen Kuss auf ihre Wange, dann ließ er sie gehen.

"Ich werde mit meiner Familie sprechen", versprach sie. Dann wandten sie sich den Kriegern zu.

"Aufsitzen!", kommandierte Gisulf und ging zu seinem Ross.



Am nächsten Tag änderte sich das Land. Der Wald wurde lichter. Doch die Tümpel waren immer noch von Bäumen umgeben. In den Ästen hing wie Wolken die Spinnenseide. In einiger Entfernung waren auch Dörfer mit rauchenden Schornsteinen zu erkennen.

Dann verflachten sich die Hügel immer mehr. Die Tümpel wurden sumpfig und es wuchsen nur noch vereinzelt Weiden an ihren Ufern. Hier gab es keine Spinnen mehr. Gegen Abend sahen sie die ersten Ruinen, Zeugen des langen Konflikts. Stellenweise war das Land verbrannt und unfruchtbar. Es würde noch lange dauern, bis es sich erholt hatte.

Gegen Mittag des dritten Tages erreichten sie den Treffpunkt an der Grenze. Das Land war nun flaches Grasland mit nur wenigen Büschen. Immer wieder mussten sie sumpfigen Stellen ausweichen. Die vom Geruch der Sumpflilien schwere Luft drückte auf die Brust und das Gemüt der Reiter.

Über dem größten Zelt wehte das arvanische Banner mit dem Falken. Daneben war ein kleineres aufgebaut, das das Zeichen von Taifalen, die Muschel, trug. Dahinter sah man angepflockte Pferde. Zwischen den Zelten hatte man ein Lagerfeuer entzündet. Darum saßen etwa ein Dutzend Männer. Einer von ihnen musste Gisulfs Bruder Hildrich sein.

Als Adira erkannte, wer es war, erschrak sie. Ein Seitenblick zeigte ihr, dass auch Gisulf bleich geworden war. Vergeblich suchte er in dem hageren Gesicht den 13jährigen Bruder mit dem er einst gespielt hatte. Adira wusste, dass Hildrich fünfunddreißig Jahre alt war. Doch der Mann, den sie auf Grund einer gewissen Familienähnlichkeit für Hildrich hielt, wirkte um zehn Jahre älter. Sein rötlichbraunes Haar, dieselbe Farbe wie Gisulfs, war dünn und glanzlos, von Grau durchzogen. Tiefe Furchen zogen sich durch sein Gesicht. Über dem linken Auge lag eine schwarze Augenklappe und der rechte Arm endete in einem lederumhüllten Stumpf. Was konnte ihren Vater nur getrieben haben, Hildrich das anzutun?

Ein mittelgroßer Mann mit schneeweißer Mähne erhob sich. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Seine Tage als Krieger waren gezählt, doch sein Körper war immer noch sehnig, ohne eine Spur von Fett. An seinen Seiten standen zwei Männer in den Vierzigern, die dasselbe breite Gesicht, dieselben weit auseinander stehenden, blauen Augen hatten wie er. Nur ihr Haar war ein dunkles Blond. Sie sahen aus wie Zwillinge. "Das ist Herzog Sesuald von Arvane, Abgesandter unseres Königs Jorgan und seine Söhne Dumias und Orsines", raunte Gisulf Adira zu.

"Graf Gisulf!", begrüßte Sesuald die Ankommenden. "Bringt ihr die Lady Adira von Taifalen?"

Gisulf nickte. "Ich grüße dich, Herzog Sesuald", antwortete er artig. "Das ist richtig. Dies ist die Lady Adira." Seine Stimme war tonlos als er dies sagte.

Hildrich war auch aufgestanden. Er überragte den Herzog um Haupteslänge, war aber sehr hager. "Warum ist mein Vater nicht gekommen?", fragte er und Adira schauderte beim Klang seiner rauen Stimme.

Gisulf setzte zu einer Antwort an, aber der Herzog hob befehlend die Hand.

"Kein Wort zu den Geiseln!" Trotz seines hohen Alters lag jede Menge Kraft in seiner Stimme.

"Das Beste wird sein, wir brechen gleich auf", sagte Gisulf und beugte den Kopf in Richtung Sesualds. "Ich habe dieses Pferd für dich mitgebracht."

Sofort schwang sich Hildrich auf das Handpferd. Ziemlich ungeschickt, fand Adira, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Gisulf lenkte sein Pferd noch einmal zu ihr. "Leb wohl, Adira", sagte er. "Ich hoffe, du hältst Partiene in nicht allzu schlechter Erinnerung." Dabei lag seine Hand auf seiner Brust, dort, wo der Spiegel steckte.

Adira biss sich auf die Lippen. Nein, keine Tränen. Statt dessen hob sie die Hand zum Gruß. Nach einem langen Blick drehte sich Gisulf um und der Zug setzte sich in Bewegung, zurück zur Burg Partiene.



Schweigend ritten die Brüder nebeneinander. Gisulf sah, dass Hildrich das Reiten nicht gewohnt war und legte daher öfters eine Pause ein. Sein Bruder äußerste sich nicht dazu.

In einer dieser Pausen fragte Hildrich: "Warum ist nun Vater nicht mitgekommen? Wollte er den Anblick dessen, was seine Taten bewirkten, so lange als möglich hinausschieben?"

"Vater ist seit sechs Jahren tot", erklärte der Jüngere.

"Was!? Das ist doch nicht möglich!", rief Hildrich aus.

"Es ist so. Du kannst in der Familiengruft nachsehen. Es wird auch jeder in der Burg bestätigen", versicherte Gisulf. "Vor sechs Jahren kam ein Mann zu uns und verlangte ihn zu sprechen. Vater ging mit ihm in sein Arbeitszimmer. Ich weiß nicht, was der Mann ihm gesagt hat. Doch Vater war sehr blass als er die Burg verließ. In der kommenden Nacht starb er. Ragin sagte, der Schlag hätte ihn getroffen. Ich sah seine Leiche. Seine Lippen waren dunkelblau und seine Augen rot von geplatzten Adern."

Da kniff Hildrich die Lippen zusammen und schwieg. Bis sie die Burg erreichten wechselten die Beiden kein Wort mehr.

"Gibt es gar kein Fest zur Heimkehr des Grafen?", waren Hildrichs erste Worte beim Betreten der Burg.

"Ich habe daran gedacht", gab Gisulf zu. "Vielleicht in ein oder zwei Wochen, wenn du dich ein wenig eingewöhnt hast."

"Mir wäre jetzt zum Feiern", brummte der Ältere. "Wo sind meine Gemächer?"

Gisulf half ihm vom Pferd. Er musste ihn ein wenig stützen als sie die Stiegen hinauf gingen, denn Hildrich war vollkommen steif von der ungewohnten Anstrengung. "Ich zeige dir alles, was du sehen willst", versprach er. "Heute gibt es noch Abendessen und dann gehen wir schlafen. Ich bin auch müde, falls es dich interessiert."

"Du wirst mich nicht herum kommandieren!", fuhr ihn Hildrich an. "Ich bin jetzt der Graf!"

"Aber natürlich, Bruder." Überrascht trat Gisulf einen Schritt zurück. "Ich bin nur besorgt um dein Wohl. Du siehst nicht sehr gesund aus."

"Eine Geiselhaft ist kein Erholungsurlaub", belehrte ihn sein Bruder. "Ich hoffe nur, dass ihr es der taifalischen Göre ordentlich gezeigt habt. Mehr als der Schleimer berichtete."

"Wovon sprichst du?" Gisulf konnte sich auf dies keinen Reim machen. Sie waren nun bei den Privatgemächern des Grafen angelangt und Gisulf öffnete die Tür. "Das ist das Arbeitszimmer", erklärte er. "In diesem großen Schrank liegen die Bücher der letzten zehn Jahre. Seit Vaters Tod habe ich die Grafschaft geführt, ich hoffe, in deinem Sinne."

"Das werde ich mir morgen ansehen. Wo ist das Schlafzimmer?"

"Das liegt gleich daneben." Gisulf wies auf eine Tür linker Hand. "In den Truhen sind Kleider von Vater. Wir nahmen an, dass du etwa seine Größe hast. Natürlich steht morgen ein Schneider bereit um deine Maße zu nehmen. Du kannst ihm deine Wünsche mitteilen."

Die Brüder betraten das Schlafzimmer. Fast ehrfürchtig beugte sich Hildrich über das Bett und strich mit der Hand über die Daunendecken.

"Ein Bett", flüsterte er. "Ein richtiges Bett!"

"Hildrich!" Gisulf legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders. "Was haben sie dir noch angetan?" Er war einfach fassungslos.

"Später." Hildrich schüttelte die Hand ab. "Jetzt will ich etwas essen und dann gehe ich schlafen."



Als Gisulf am nächsten Morgen die Treppe hinunter ging, sah er etwas am Fuß der Treppe liegen. Zuerst hielt er es für einen Haufen Lumpen. Doch als er näher kam, sah er, dass sich da etwas schwach bewegte und wimmerte. Erschrocken beugte er sich über die zusammen gesunkene Gestalt. Es war Tilla. Ihr junges Gesicht war von Schlägen entstellt, die Lippen aufgesprungen, ein Auge zugeschwollen. Sie war halb nackt, die Kleider zerrissen und blutig. Als er das Blut an ihren Schenkeln sah, wusste er, was geschehen war.

"Ihr Götter! Tilla!", rief er aus. "Wer hat dir das nur angetan?! Ich bringe dich zum Heiler."

Er hob sie auf und sie wimmerte lauter. Am Boden war ein großer Blutfleck. Schritt für Schritt ging er die Treppe hinauf. Rogin, der Heiler hatte sein Zimmer am selben Flur wie der Graf. In einem Notfall sollte er schnell zur Stelle sein. Als er an Hildrichs Gemächern vorbeiging, öffnete sich die Tür und Hildrich stand auf der Schwelle. Sein Nachthemd war mit Blut befleckt, ebenso seine Arme und sein Gesicht. Gisulf sah von dem zerschundenen Körper in seinen Armen, der kein Lebenszeichen mehr vor sich gab, zu seinem Bruder und erkannte die schreckliche Wahrheit.

"Du, Hildrich?", brachte er mühsam heraus.

"Ich ... ich ... ich .... das wollte ich nicht." Hildrichs Stimme klang kratzig, müde, verzweifelt. "Ich habe noch nie eine Frau gehabt und dann kam dieses Mädchen und wackelte mit ihrem drallen Hintern vor meiner Nase. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Du kannst dir nicht vorstellen ....." Er brach ab und zuckte mit den Schultern. "Was soll ich jetzt tun?"

"Geh in dein Zimmer, schließ dich ein und öffne nur mir, sonst niemandem", entschied Gisulf. Er wartete noch, bis Hildrich verschwunden war. Dann lief er schnell zu Rogin. Der alte Mann war noch halb verschlafen und brummelte unwirsch, als Gisulf an seine Tür klopfte.

"Ich habe hier einen Notfall!", zischte Gisulf eindringlich.

Endlich ging die Tür auf und Rogin steckte den Kopf heraus. "Was ist das für ein Notfall in aller Früh? Ihr Götter!" Er hatte das Mädchen erblickt. "Bring sie gleich herein. Vielleicht kann ich ihr noch helfen." Er wischte Schriftrollen, Federn und ein halbvolles Tintenfass von einem langen Tisch und Gisulf bettete sie vorsichtig darauf.

Rogin hielt eine Flaumfeder vor ihre Nasenlöcher, horchte an ihrer Brust, tastete nach dem Puls. Dann schüttelte er traurig den Kopf. "Nichts mehr zu machen. Mögen die Götter ihre Seele gnädig aufnehmen. Wie konnte so etwas geschehen? Wer war das? Ein Verrückter?"

"Sie ist die Treppe hinunter gefallen", sagte Gisulf mit steinernem Gesicht.

"Hältst du mich für blöd?" Rogin schob die blutigen Fetzen von ihrem Schoß. Beide Männer schreckten vor dem, was sie sahen, zurück. Wie viel Gewalt war nötig um solche Verwüstungen anzurichten? "So was holt man sich nicht durch einen Sturz von der Treppe."

"Das weiß ich auch, Rogin", gab Gisulf zu. "Aber vorläufig ist es ein Sturz von der Treppe und sonst nichts. Kannst du etwas tun, damit man das nicht mehr sieht? Sie sollte auch gewaschen werden und .... du weißt schon, ein frisches Kleid und ein Kranz in ihrem Haar." Gisulf biss sich auf die Lippen. Tilla war so fröhlich und unbeschwert gewesen.

"Was haben wir uns da eingebrockt mit dem Friedensvertrag!", knurrte der Alte und Gisulf gab ihm innerlich recht.

Gewaltsam riss er sich von dem schrecklichen Anblick los und lief in die Küche. Dort war man bereits emsig am Werk. Gisulf schöpfte einen Eimer heißes Wasser aus dem Kessel, schnappte sich ein paar saubere Tücher und rannte wieder die Treppe hoch zu den gräflichen Gemächern.

"Hildrich, mach auf!", rief er hinter der vorgehaltenen Hand. "Ich bin's, Gisulf."

Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Langsam öffnete sich die Tür. Hildrichs einziges Auge war angstvoll aufgerissen. "Was soll ich nur tun?" Er trug immer noch das beschmutzte Nachthemd.

"Zieh das aus, Mann", befahl Gisulf. "Du musst dich waschen:"

Gehorsam zog der früh gealterte Mann das Hemd über den Kopf. Gisulfs Kinnlade fiel herunter. Er konnte es nicht glauben. Auch an dem hageren Körper klebte Blut. Aber es konnte die vielen kleinen Narben nicht überdecken.

"Was haben die mit dir gemacht?!", rief Gisulf aus. "Das ist doch nicht möglich. Wasch dich und dann erzähle mir, was in Taifalen los war."

Hildrich stand nur da, nackt, blutverschmiert und weinte. Da tauchte Gisulf ein weiches Tuch in das Wasser und rieb seinen Bruder ab. Dann holte er frische Kleider aus einer Truhe und zog ihn an. Hildrich ließ alles widerstandslos über sich ergehen. Sein Bruder schob ihn zur Fensterbank und nötigte ihn zum Sitzen.

"Nun sprich, mein Bruder", bat er. "Was ist in Taifalen vorgefallen all die Jahre?"

"Ich musste von Anfang an im Schweinestall schlafen", begann dieser tonlos. "Aber das war nicht so schlimm. Erst als unsere Leute eine taifalische Räuberbande aufrieben, wurde es übel. Der alte Ragilo hackte mir die Hand ab und sandte sie unserem Vater. Als Sühne für den Tod seiner Männer, sagte er. Als zwei Wochen später der Finger des Mädchens überbracht wurde, stach er mir das Auge aus. Er drohte, Vannio das nächste Mal mein Gemächt zu schicken, wenn er noch einmal Hand an seine Tochter lege. Kannst du dir vorstellen, welche Ängste ich ausgestanden habe?" Er schniefte und Gisulf reichte ihm ein Taschentuch. Dankbar schnäuzte er sich.

"Das kann noch nicht alles sein", sagte Gisulf während er seine Narbe auf seiner Wange rieb. "Weiter."

"Es hätte damit ein Ende haben können, aber Vater war Schuld, dass ich noch mehr leiden musste. Warum musste er auch das Mädchen schänden!"

"Was?" Gisulf dachte, er höre nicht recht. "Was soll Vater getan haben? Meinst du Adira?"

"Natürlich. Wen denn sonst? Der alte Ragilo hatte einen Spion in Partiene, der ihm alles genau berichtete. Zuerst hat Vater sie hergenommen und dann gab er sie den Kriegern. Sie wurde nackt an einen Tisch gebunden und jeder konnte sich bedienen. Auch Tulga wurde sie angeboten, aber er tat es nicht."

"Was sagst du da? Meinst du wirklich Adira?" Gisulf verstand noch immer nicht richtig. Er konnte nicht glauben, was sein Bruder da sagte.

"Ja!", schrie ihn dieser nun an. "Ihr habt Adira zur Hure gemacht!"

"Niemand hat sie angerührt", sagte Gisulf kalt und sehr ruhig.

Das brachte auch Hildrich wieder auf den Boden. Er sah seinen Bruder ungläubig an. "Streitest du es nur ab, weil du dich für Vater schämst? So etwas wie, sein Andenken nicht beschmutzen oder nichts Böses über Tote sagen, sonst könnten sie dich heimsuchen?"

"Nein, ich habe es nicht nötig, etwas zu beschönigen. Vater war ein streitsüchtiger Dickschädel. Aber er hat Adira ganz sicher nicht angerührt. Niemand hat sie angerührt. Das schwöre ich bei meiner Ehre."

"Willst du damit sagen, dass das alles gelogen war?" Hildrich zitterte am ganzen Körper. "Ragilo ließ mich dafür an jedem Sonntag nackt an einen Pfahl binden und jeder, der vorbei ging, durfte etwas nach mir werfen. Wenn es nur faules Obst gewesen wäre! Aber die Burschen warfen Steine und dazu brüllten sie: 'Für Adira!'. Er war eine Bestie, der Alte. Sein Sohn ist anders. Ich bin froh, dass der Alte so jämmerlich zugrunde ging." Hildrich stieß ein irres Lachen aus. "Seine eigene Frau hat ihm das Messer in die Seite gestoßen, nachdem er mir das Auge ausgestochen hatte. Sie meinte, das sei nun genug. Eine gute Frau. Sie war die Einzige, die wenigstens ein wenig Mitleid mit mir hatte. Und der alte Bock hat ihr die Kehle durchgeschnitten." Er stützte den Kopf in beide Hände. "Siehst du nun, was ich gelitten habe? Ich wollte dem Mädchen nichts Böses tun. Es war alles so schön hier. Das gute Essen, der Wein, das weiche Bett. Nur eine Frau hat mir noch gefehlt. Wenn sie sich einfach gefügt hätte, wäre nichts geschehen."

"Hildrich!" Gisulf überlegte, wie er seinem Bruder klarmachen sollte, was er getan hatte. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du eine Frau willst? Ich hätte dir mehrere zuführen können, die dir mit Freuden zu Willen gewesen wären. Aber Tilla! Sie war noch nicht einmal sechzehn! Du hast sie nicht nur vergewaltigt, sondern auch getötet. Verstehst du nicht? Du hast ein junges, unschuldiges Mädchen ermordet. Was willst du ihren Eltern sagen? Sie sind Weber in Borkum."

"Du kannst ihnen sagen, sie ist die Treppe hinunter gefallen und hat sich den Hals gebrochen. Sowas passiert, oder nicht?" Es lag soviel Elend in Hildrichs Blick.

"Nein, ich werde es ihnen nicht sagen", erklärte Gisulf ruhig. "Wenn du sie belügen willst, musst du das selbst tun."

"Nun gut", meinte Hildrich trotzig. "Dann lass sie nur kommen. Ich werde das schon machen."

Eine Stunde später standen Tillas Eltern vor ihnen. Gisulf sah die abgearbeiteten Hände, die gebeugten Rücken. Tilla war das Jüngste von elf Kindern gewesen.

"Wir haben eine traurige Nachricht für dich, Weber", sagte Hildrich tonlos. "Deine Tochter Tilla ist gestern die Treppe hinunter gefallen und hat sich den Hals gebrochen."

Ein erstickter Schrei erklang. Die alte Frau tastete schwankend nach dem Arm ihres Mannes. "Das ist doch nicht möglich! Mein kleines Mädchen!"

Der alte Mann starrte die Brüder nur mit offenem Mund an. Er schien die schreckliche Wahrheit nicht begreifen zu können. Lautlos bewegte sich sein Mund während sein grauer Kopf hin und her pendelte.

"Ja, es ist schrecklich", stimmte Hildrich zu. "Sie ist jetzt im Tempel. Wir übernehmen die Kosten der Feierlichkeiten. Sie hat uns gut gedient."

"Ich begreife es nicht", murmelte die Mutter wie zu sich selbst. "Das ist doch nur ein übler Scherz?"

"Nein, es ist leider die harte Wahrheit"; bekräftigte nun Gisulf.

Der Blick der Frau pendelte zwischen den Brüdern hin und her und blieb dann auf Hildrich hängen. "Du sagst, Tilla ist die Treppe hinunter gefallen?", fragte die Frau und sah ihn scharf an. Der plötzliche Schmerz schien die Falten in ihrem Gesicht vertieft zu haben.

"Ja, so muss es wohl gewesen sein", beharrte Hildrich. "Mein Bruder fand sie am Morgen, am Fuß der Treppe. Ist es nicht so?"

"Ja", gab Gisulf zu. "Ich fand sie am Fuß der Treppe. Sie starb in meinen Armen als ich sie zu unserem Heiler bringen wollte."

"Fiel sie von selbst oder hat jemand nachgeholfen?", fragte die Frau weiter. Der Vater starrte immer noch blind vor sich hin.

"Das weiß ich nicht, Weib!", fuhr Hildrich nun auf. "Willst du mir etwas unterstellen? Es war nachts. Niemand war dabei." Drohend hob er den Armstumpf.

Die alten Leute duckten sich. Gisulf aber fand die Geste auf traurige Art lächerlich.

"Herr, wir wollten nur wissen, wie es geschah. Sie erzählte uns, dass ihr ein Stallknecht nachstellte", beeilte sich Tillas Mutter nun zu beteuern und Hildrich nickte gnädig.

Die Mutter des Mädchens wischte eine Träne von ihrer Wange. "Sollte meine Tochter durch die Schuld eines anderen zu Tode gekommen sein, so verfluche ich ihren Mörder. Ihr Blut soll über ihn kommen, bis er für seine Tat gesühnt hat. Dürfen wir jetzt zu unserer Tochter gehen?"

Hildrich nickte. Die alte Frau legte ihren Arm um ihren Mann, über dessen wettergegerbte Wangen Träne um Träne lief, und führte ihn, nun auch heftig weinend, aus dem Saal.

Gisulf musste alle Kraft aufbringen um seine Gefühle zu beherrschen. Er wollte weinen, seinen Bruder erwürgen, schreien, toben, alles kurz und klein schlagen. Die Loyalität seinem Bruder gegenüber kämpfte gegen seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Es war nicht gerecht, Hildrich zu schützen. Dennoch, er war der Graf von Partiene und sein Bruder. Das Dilemma wollte ihn schier zerreißen.

"Sie hat keine Ahnung", behauptete Hildrich. "Solche Racheschwüre kommen immer vor, wenn eine Mutter ein Kind verliert."

Gisulf gab keine Antwort. Er wusste, dass Tillas Mutter das zweite Gesicht besaß. Innerlich kochend ging er in den Burghof und forderte Duran, den Burghauptmann, zu einer Übungsstunde auf. Nach zwei Stunden setzte er sich zu seinem Bruder an den Mittagstisch



Während des Trainings war ein Gedanke in Gisulfs Sinn erwacht. Da war noch etwas an Hildrichs Geschichte, das er klären musste. Ein Name .... Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er wartete, bis der Diener Hildrichs Fleisch in mundgerechte Stücke geschnitten hatte und sich zurückzog. Dann fragte er wie beiläufig: "Wer ist Tulga?"

"Der Spion und ein Händler." Er schüttelte den Kopf. "Du musst ihn doch kennen. Er war mindestens einmal im Monat hier. Er hat all die Gräueltaten gesehen, die Adira erleiden musste."

"Hildrich! Geht es noch immer nicht in deinen Kopf, dass Adira nicht angerührt wurde? Dieser Tulga hat Graf Ragilo belogen. Wie sah er aus?"

Hildrich fluchte, weil es ihm nicht gleich gelang, ein Stück Braten auf seine Gabel zu spießen. "Ein beleibter Mann, der jetzt so um die Fünfzig sein müsste. Er hatte nur noch einen grauen Haarkranz um eine Glatze und sein linkes Ohr fehlte zur Hälfte. Warum sollte er Ragilo belügen?" Noch immer wehrte sich der Ältere gegen die Wahrheit.

Eine Erinnerung dämmerte in Gisulfs Kopf. "Ein Mann mit einem verstümmelten Ohr, sagst du? Vor vielen Jahren war so einer hier. Er nannte sich Abuk und bot Vannio seine Dienste als Spion auf Ragilos Hof an. Als Bezahlung wollte er dafür Spinnenseide. Vater lehnte ab und er kam nie wieder. Ab und zu hörten wir Gerüchte, dass du misshandelt würdest, aber nie Genaueres."

"Warum holte sich Vater nicht Gewissheit?", fauchte Hildrich zornig. Da sein Mund gerade voll war, flogen dabei Fleisch- und Gemüsebröckchen über den Tisch.

"Warum holte sich Ragilo nicht Gewissheit?", hielt Gisulf dagegen. "Auch er hätte einen Boten schicken können."

Eine Weile aßen sie schweigend. Dann fragte Gisulf: "Womit handelte denn dieser Tulga?"

"Er brachte Wein aus Arvane", erklärte Hildrich. "Der alte Ragilo soff wie ein Loch, besonders wenn er Schmerzen hatte. Die Wunde, die ihm seine Frau zugefügte, heilte nicht richtig. Sie brach immer wieder auf." Er kicherte schadenfroh bei dieser Erinnerung. "Das habe ich dem Sack gegönnt. Er ist daran krepiert." Ungeschickt teilte er eine Karotte mit der Gabel. "Du meinst, Tulga hat diese Geschichten nur erzählt, damit er an Ragilos Perlen kam?"

"Das mag schon stimmen", überlegte Gisulf. "Mir scheint aber so ein Betrug zu groß für einen kleinen Weinhändler. Ein Zehntel unserer Jahresproduktion an Spinnenseide ging nach Arvane, solange kein Frieden ausgehandelt war. Ich glaube nicht, dass der Herzog dahinter steckt. Es könnte aber einer seiner Berater sein, denn Sesuald ist alt und delegiert viele Aufgaben an seine Söhne oder Edle, die an seinem Hof dienen. Sechsmal habe ich an den Friedensverhandlungen teilgenommen. Davon war nur ein einziges Mal Sesuald persönlich anwesend. Und das war vor vier Jahren."

"Ich verstehe das nicht", sagte Hildrich verwirrt. "Alles war so überzeugend. Warum hätte mich Ragilo so quälen sollen, wenn alles nicht wahr gewesen wäre? Zwanzig Jahre lang habe ich mir anhören müssen, welche verbrecherischen Schweine in Partiene hausen."

"Warum glaubst du mir nicht? Ich bin dein Bruder."

"Ja, du bist mein Bruder, aber ich kenne dich nicht und du kennst mich nicht", stieß Hildrich hervor. "Warum solltest du mich nicht belügen? Was Adira erleiden musste, wäre kein Ruhmesblatt für Partiene."

"Mir scheint da eher eine Intrige im Gange, die verhindern soll, dass Partiene und Taifalen jemals Frieden haben. - Nein!" Ein neuer Gedanke war in ihm wach geworden. "Vielleicht richtet sich das Komplott nur gegen die Grafen. Partiene ist ein reiches Land und auch Taifalen ist nicht arm."

Hildrich duckte sich bei diesen Worten. "Wir sollen vertrieben werden? Du musst mich schützen, Bruder. Ich kann doch nicht kämpfen!" Anklagend hielt er ihm seinen Armstumpf hin.

"Das werde ich tun, verlass dich darauf", knirschte Gisulf. "Und du kannst mir dabei helfen."

Hildrichs Auge weitete sich überrascht. Dann straffte sich der hagere Körper. "Was kann ich tun?"

"Wenn du Graf sein willst, musst du dich mit den Geschäften auskennen. Geh zu Anduin, unserem Verwalter. Du kennst ihn doch noch, oder? Er kann dir alles über die wirtschaftlichen Belange von Partiene sagen. Wenn du mir diese Arbeit abnimmst, kann ich mich um unsere Zukunft kümmern."

"Ja, das will ich tun. Ich will ein guter Graf sein, auch wenn ich nie mehr ein Schwert führen kann", versuchte Hildrich tapfer zu wirken. "Wenn jedoch die Burg einmal angegriffen wird, muss ich mich wie ein Feigling verstecken."

"Der Wert eines Mannes liegt nicht nur in seinem Arm", wiederholte Gisulf Worte, die er oft von seinem Vater gehört hatte. "Kopf und Herz sind genauso wichtig."

"Das sagst du doch nur so", murmelte sein Bruder.

"Nein, das hat Vater zu mir gesagt und jetzt lerne, ein Graf zu sein. Wenn hier Ordnung herrscht, stehen unsere Chancen besser."

"Ja, ja Ordnung. Alles muss korrekt sein", brummte Hildrich. "Das hast du immer am besten gekonnt. Gisulf, der Perfekte. Vater hat dich immer mehr geliebt als mich. Dich hätte er sicher nicht so widerstandslos gehen lassen."

Sekundenlang fühlte sich Gisulf in seine Kindheit zurück versetzt. Hildrich war immer der Findigere von ihnen gewesen, jederzeit bereit, etwas Neues auszuprobieren. Nicht immer war Graf Vannio glücklich über die Ideen seines Erstgeborenen. Da setzte es oft harte Strafen, zumeist ein Extratraining, aber auch Schläge. Gisulf Verstand funktionierte anders. Während sein Bruder mit gewagten Sprüngen auf sein Ziel zusteuerte und dabei immer wieder auf die Nase fiel, erreichte es Gisulf mit kleinen Schritten, die er mit sturer Beharrlichkeit setzte. Hildrich eiferte oft auf seinen kleinen Bruder, der mehr Lob einheimste als er. Was war von diesem unbekümmerten Jungen geblieben? Gisulf fühlte einen schmerzhaften Stich. Hildrich würde nie wieder so fröhlich sein wie damals.

"Nein, Hildrich, nein!", widersprach er vehement. "Vater hat uns beide geliebt. Drei Tage lang hat er nichts gegessen, von dem Tag an, da man dich fortführte. Ich erinnere mich noch gut, wie entsetzt Vater war als deine rechte Hand überbracht wurde. Schmerz und Wut ihn übermannten ihn. Er schwor, Adira das Gleiche zu tun, doch dann sah er in ihre seegrünen Augen und die Axt traf nur ihren kleinen Finger. Dann kam dein Auge und Vannio schloss sich tagelang ein und sprach mit keinem Menschen."

"Warum hat er das bei den Friedensverhandlungen nicht zur Sprache gebracht? Dann wäre doch der Betrug aufgeflogen, wenn es einer war."

"Vater hat nie über die Verhandlungen gesprochen. Es war ihm verboten. Vielleicht hat er es getan. Jetzt ist er tot, wie der alte Graf Ragilo. Wir werden es nie erfahren. Es bleibt uns nur, nach vorn zu sehen. Es ist wichtig, dass du deinen Teil dazu beiträgst."

Er begleitete seinen Bruder noch ins Arbeitszimmer seines Verwalters. Dann zog er sich zurück. Tausend Gedanken schossen Gisulf durch den Kopf. Was gäbe er jetzt für ein Gespräch mit Adira! Eine weitere Unstimmigkeit in Hildrichs Geschichte fiel ihm ein. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass sein Vater vor zwanzig Jahren eine taifalische Räuberbande aufgebracht hätte. Als der Waffenstillstand geschlossen wurde, musste sich jede Partei verpflichten, Verletzungen desselben sofort dem Herzog, der den König bei den Verhandlungen vertrat, zu melden. Gisulf hätte davon sicher erfahren. Er musste Tulga finden, aber jetzt konnte er Partiene nicht verlassen.



"Ich sehe auch keinen Grund, noch länger zu verweilen", sagte Adira und sah die taifalischen Krieger an.

Ein Mann, dessen schwarzes Haar schon von grau durchzogen war, starrte sie an. "Sie sieht aus wie ihre Mutter", sagte er zu einem anderen.

"Und man sieht es ihr gar nicht an", meinte dieser.

"Ich bin Tazo, Unterführer", stellte sich endlich der Grauhaarige vor.

Gemächlich standen die Krieger auf, rückten ihre Schwertgurte zurecht und saßen auf. Sie nahmen sie in die Mitte und ritten los. Keiner machte Anstalten, eine Unterhaltung zu beginnen.

Das gab Adira Zeit, ihren eigenen Gedanken nach zu hängen. An was konnte sie sich noch erinnern? Sie begann mit ihrer Familie. Graf Ragilo, ihr Vater. Er war ein Turm von einem Mann. Sein dröhnender Bass klang ihr noch immer in den Ohren, besonders wenn ihn der Jähzorn gepackt hatte. Sonst gab es da nur noch einen dichten, braunen Bart und scharfe, hellbraune Augen. Ja, und Angst. Alle hatten ihn gefürchtet. Auch ihre Mutter, die oft genug seine harte Hand zu spüren bekam. Mutter war eine stille Frau mit langen, braunen Zöpfen. Adira hatte manchmal damit gespielt. Als sie Taifalen verließ, war Mutter knapp vor ihrer dritten Niederkunft. Hatte sie noch eine Schwester? Oder vielleicht einen Bruder? Sie dachte an ihre Schwester Sarissa. Sie war drei Jahre jünger als Adira. Sicher war sie schon lange verheiratet. Ob ihre alte Amme Swintha noch lebte?

Nun die Burg. Sie lag an einem breiten Fluss, dem Velleju. Die einzigen Bäume, die dort wuchsen, waren Trauerweiden und Birken. Der Reichtum Taifalens lag im Wasser. Im Velleju und seinen Nebenflüssen lebten Flussmuscheln, die erlesene Perlen lieferten. Sie konnte sich noch gut an die geschundenen Körper der Perlentaucher erinnern, die ihr Soll nicht erreicht hatten. Vater war in diesem Punkt immer sehr streng gewesen.

Dann fielen ihr die Fische ein. Ihr Götter! Mehrmals in der Woche stand Fisch am Speiseplan. Sie hatte ihn damals schon nicht gemocht. Jetzt, als Wassermagierin, war es ihr unmöglich, ein Kind des Wassers zu essen.

Was ihr aber am meisten Sorge machte, war die Frage, wie man sie empfangen würde. Es war so verdammt viel Zeit vergangen.

Schon am Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie die Burg. Als sie in den Burghof ritten, wurden sie Zeuge eines unangenehmen Auftritts. Ein junger, schlaksiger Krieger brüllte hinter einer fülligen, jungen Frau her, die fluchtartig in der Burg verschwand. Nicht ein Blick oder eine Geste ließ erkennen, dass die Eskorte das Geschehen wahrgenommen hatte.

Später wurde Adira in den Rittersaal geführt. Dort stand sie eben diesem bartlosen, schlaksigen Jüngling, dessen braunes Haar weit über seine breiten Schultern fiel, gegenüber. Deutlich sichtbar trug er die Grafenkette von Taifalen. Neben ihm saß die junge Frau, die erst vor kurzem vor ihm geflüchtet war. Adira erkannte jetzt, dass sie schwanger war. Sie konnte nicht viel älter als sechzehn sein.

"Das ist Lady Adira, Herr Graf", sagte Tazo, verbeugte sich und ging.

Da stand sie nun und starrte die Beiden an. Wo waren ihre Eltern? Konnte es sein dass ihr Vater ...

"Ich bin dein Bruder Ragilo und das ist meine Frau Egeria", erklärte der Jüngling. Seine Stimme klang älter als er aussah.

Bruder? Sie suchte nach Ähnlichkeiten mit ihrem Vater. Die braunen Augen vielleicht? Braunes Haar hatten beide Eltern gehabt. Sein Gesicht zeigte eher die Züge ihrer Mutter. Er überragte sie um Haupteslänge. Ja, Vater war auch sehr groß gewesen. Aber sonst fand sie nichts Vertrautes. "Heißt das, dass mein .... unser Vater ..."

"... tot ist", unterbrach sie ihr Bruder um ihren Satz zu vollenden. "Ja, endlich! Er hätte doch nie den Friedensvertrag unterschrieben." Er beugte sich vor und Adira sah den Jähzorn seines Erzeugers in seinen Augen lauern. "Er hat mir seinen Namen gegeben, aber ich bin nicht wie er!" Die letzten Worte schrie er. Er hatte tatsächlich die Stimmgewalt seines Vaters. Adira fand, er klang auch sonst sehr ähnlich.

"Und Mutter?", fragte sie.

"Ach, die ist schon seit zwanzig Jahren tot", sagte er wegwerfend. "Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern. Als sie starb, war ich ja noch sehr klein."

Adira ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Kälte, mit der Ragilo von ihrer Mutter sprach, tat ihr weh. Zwanzig Jahre, hatte er gesagt. Vor zwanzig Jahren hatte sie ihren Finger verloren.

"Adira, dein Zimmer ist im Ostturm", fuhr er fort. "Es wäre für uns alle besser, wenn du es möglichst selten verlässt. Wir könnten dir auch die Mahlzeiten ...."

"Nein!" Adira richtete sich kerzengerade auf. "Ich war zweiundzwanzig Jahre lang eine Gefangene. Aber Graf Vannio ließ mich immer an seiner Tafel sitzen. Ich verlange zumindest soviel Respekt, wie mir in Partiene erwiesen wurde."

Was dann kam, war so ungeheuerlich, dass es ihr schier den Atem verschlug. Adira wollte ihren Ohren nicht trauen. Verzweifelt rang sie nach Worten.

"Ihr seid belogen worden. Ich wurde die ganze Zeit mit Respekt behandelt. Nur ein einziges Mal hat Vannio Hand an mich gelegt." Sie hob ihre verstümmelte Hand. "Damals wusste ich nicht, warum das geschah. Doch jetzt habe ich Hildrich gesehen ...."

"Hm." Ragilo war deutlich ins Zweifeln geraten. "Ich werde Tazo nach Partiene senden. Bis er zurück kehrt, soll dir Ehre erwiesen werden. Hast du aber gelogen, so wirst du den Rest deines Lebens Sarissa bei den Frauen von Nautaca Gesellschaft leisten."

Die Frauen von Nautaca waren ein strenger Orden, der im südlichen Sumpfgebiet sein Kloster errichtet hatte. Es war ein Sammelplatz für unerwünschte Töchter, denn kaum eine Frau schloss sich freiwillig dem Orden an. Die brütende Hitze und die Sumpfgase ließen keine lange Lebenserwartung zu.

"Sarissa ist in Nautaca!", rief Adira entsetzt aus. Nahm der Albtraum denn nie ein Ende? "Warum denn das!?"

Der junge Graf zuckte mit den Achseln. "Vater hatte eine gute Partie für sie ausgesucht. Aber sie widersetzte sich und lief mit dem Sohn eines Barons davon. Natürlich fing er sie wieder ein und ließ sie nach Nautaca bringen."

Zum ersten Mal hörte Adira etwas wie Mitgefühl in Ragilos Stimme. Seine Schwester war ihm wohl nicht so egal wie der Rest seiner Familie. Arme Sarissa! Wer weiß, ob sie noch am Leben war.

"Sarissa war fünf Jahre alt als ich Taifalen verlassen musste", flüsterte sie. "Ich werde mich um sie so bald als möglich kümmern."

Ragilo nickte. "Jaaa, das wollte ich ohnehin. Ich hatte nur noch keine Zeit dazu." Schuldbewusst senkte er den Blick. "Such dir ein Zimmer aus, vorläufig."



Schon beim ersten Abendessen gab es Ärger. Adira hatte ihr blaues Kleid angezogen. Canor, einer der wenigen Diener, an die sie sich noch erinnern konnten, führte sie in ein gemütliches Esszimmer, wo an einem sechseckigen Tisch Ragilo und Egeria bereits Platz genommen hatten.

Eine Erinnerung blitzte in ihrem Kopf auf. Dort, wo jetzt ihr Bruder saß, hatte ihr Vater gesessen und zu seiner Rechten, wie jetzt Egeria, ihre Mutter, die leise vor sich hin weinte. Damals hatte sie sich gefragt, ob Vater sie wieder geschlagen hatte.

"Nach dem Willen des Königs wirst du nach Partiene gehen", hatte er gesagt. "Du dienst damit dem Frieden."

Adira verstand nicht. Nach Partiene? Zu ihren Feinden? Warum? Das konnte doch nicht sein! Aber schon am nächsten Tag sollte sie in eine Kutsche steigen, in der eine fremde Frau saß. Fremde Krieger mit grimmigen Gesichtern eskortierten sie. Da hatte sie sich schreiend losgerissen und war zu ihrer Mutter gerannt, die ihr nun das erste Mal in Adiras kurzem Leben den Beistand verweigerte. Unbegreiflich für das kleine Mädchen.

"Du wirst bald wieder bei uns sein, mein Liebling", hatte sie nur gesagt.

Ein bitteres Lachen entschlüpfte ihr. Bald! Es waren zweiundzwanzig Jahre und ihre Eltern waren nun beide tot.

"Ist etwas nicht nach deinen Wünschen, Schwester?", fragte Ragilo kühl.

"Es ist alles in Ordnung", sagte sie schnell. "Nur eine Erinnerung." Steif nahm sie gegenüber ihrem Bruder Platz.

Nun gab Ragilo den Dienern das Zeichen, das Essen aufzutragen. Adiras Herz sank. Es gab Fisch!

"Ich kann keinen Fisch essen", begann sie unsicher und biss sich auf die Lippen.

"Oh, die edle Dame ist wählerisch", ätzte Egeria.

"Du kannst es nicht wissen, Ragilo", versuchte Adira eine Erklärung, wobei sie Egeria ignorierte. "Schon als Kind bekam ich von Fisch ... äh, Krämpfe und ... äh, Nesselausschlag. Es tut mir Leid. Ein wenig Reis genügt mir schon."

Ragilos Brauen zogen sich finster zusammen. "Du sollst nicht sagen, dass du schlechtes Essen von uns bekommst. Chora, ist noch etwas von der Ente da?" Eine Magd nickte und er wandte sich wieder an Adira. "Bereitet dir Ente oder eine andere Speise etwa auch Beschwerden?"

"Wie Haarausfall oder Blähungen?", kicherte Egeria.

"Nein, nur Fisch, Krebse und Muscheln." Adira senkte den Kopf um ihren Ärger zu verbergen.

Inzwischen hatte ein Diener Wein in die Gläser geschenkt. Die goldgelbe Farbe und das blumige Aroma ließ sie sofort den Arvaner erkennen. Auch in Partiene war ab und zu Wein aus Arvane aufgetischt worden.

Ragilo hob sein Glas. "Auf deine Heimkehr, Adira", sagte er ohne jede Herzlichkeit.

"Auf den Frieden", antwortete sie und nahm einen Schluck. Ja, diesen Geschmack kannte sie. Solcher Wein war nicht billig. Nur der in Partiene hatte nicht diesen eigenartigen Nachgeschmack gehabt, der nun auf ihrer Zunge brannte. Was war das nur? Eine vage Erinnerung geisterte durch ihren Kopf, doch sie entwischte ihr. Konnte es an der Lagerung liegen? Wie auch immer. Jedenfalls verdarb es das Aroma.

So trank sie wenig und löschte später ihren Durst am Brunnen. Bei den folgenden Mahlzeiten bat sie immer um Awenta, ein erfrischendes Getränk aus Wintz-Beeren, das nur in Taifalen hergestellt wurde.



Wie es ihre Gewohnheit war, ging sie jeden Morgen nach dem Frühstück in Männerkleidung in den Hof. Dort übten die dienstfreien Wachen mit Holzschwertern. Auch Ragilo war unter ihnen. Der Burghauptmann Parmen, ein stämmiger Krieger um die Vierzig, stand dabei, korrigierte die Kämpfenden und bestimmte Partnerwechsel.

Jetzt war niemand mehr da, der sie zu diesen Übungen anhielt. Anfangs empfand sie noch ein wenig Schuldbewusstsein, wenn sie an den schwitzenden Männern vorbeiging um Seidenwolke zu satteln. Das schwand aber, sobald die Burg hinter ihr lag und sie durch die Marschen des Veleju ritt.

Adira langweilte sich. In Partiene war ihr Tag mit Reiten, Kampfübungen und ihren Studien bei Rogin ausgefüllt. Das Kampftraining vermisste sie nicht. Aber, dass es hier keinen Heiler gab, störte sie wohl. Am meisten vermisste sie Gisulf. Die kurzen Gespräche durch Spinnenseide und Spiegel waren nur ein schwacher Ersatz.

Zwischen ihr und Ragilo klaffte nach wie vor eine tiefe Kluft. Egeria schnitt sie, wo sie konnte. Das Paar schien in einen immerwährenden Konflikt verstrickt zu sein. Mehrmals täglich brüllten sie einander an. Nur die kurz bevorstehende Niederkunft Egerias schien ihren Ehemann zu hindern, sie zu schlagen. Einmal jedoch hatte Adira beobachtet, dass er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt hatte. Allerdings war das eine Reaktion auf den irdenen Becher, den Egeria nach ihm geworfen hatte, zu seinem Glück, ohne ihn zu treffen. All dies war nicht geeignet, sich hier heimisch zu fühlen. So fasste sie den Entschluss, Taifalen zu verlassen.



Adira saß in ihrem Zimmer, die Spinnenseide über ihren Knien ausgebreitet. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne malten rötliche Muster auf das feine Gewebe. Sie versuchte nun schon seit zwei Tagen Gisulf zu erreichen. Heute war der dritte Tag. Leise summte sie eine Melodie, ließ ihre Magie in die Seide fließen.

"Adira?" Gisulfs Gesicht erschien auf dem Tuch, müde und sorgenvoll.

"Gisulf! Endlich!" Sie beugte sich tiefer in dem Versuch, ihm näher zu sein. "Ist Tazo schon bei euch eingetroffen?" Gleich bei ihrem ersten Kontakt hatten sie über die angeblichen Vorkommnissen während ihrer Geiselhaft gesprochen.

"Nein", antwortete Gisulf bedauernd. "Wir erwarten ihn jeden Tag."

"Ist ja auch egal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Taifalen je meine Heimat wird. Hier werde ich ja doch nur widerwillig geduldet. Ich werde heute noch die Burg verlassen und in die königliche Armee eintreten. Heiler werden dort immer gebraucht."

"Warte noch!", unterbrach er sie. " Ich gehe mit dir, sobald mein Bruder hier die Geschäfte übernehmen kann."

"Du kannst mir doch nachkommen", beharrte sie. "Über den Spiegel wirst du erfahren, in welcher Einheit ich bin."

"Wenn wir verheiratet sind, kommen wir mit Sicherheit in dieselbe Einheit. Wer weiß, wo ich sonst zugeteilt werde." Gisulfs Gesicht wurde größer als er sich vorbeugte. "Hab noch Geduld, meine Liebste, ich will dich nicht verlieren, jetzt, wo ich weiß, dass du meine Gefühle erwiderst." Nun wurde sein Blick sogar flehend.

Adira zögerte. Neben ihrem Bett lag ein fertig gepackter Rucksack und auf dem Tisch der Abschiedsbrief an ihren Bruder. Gisulfs Argument war nicht von der Hand zu weisen. Seufzend nickte sie. "Nun gut. Du hast mich überzeugt", gab sie nach. "Aber ich bleibe keinen Tag länger als unbedingt notwendig."

"In ein paar Wochen, müsste Hildrich das Wichtigste gelernt haben", sagte er sinnend. "Den Rest macht ohnehin Anduin. Glaube mir, es ist auch für mich nicht leicht. Ich brenne vor Sehnsucht nach dir."

"Mir geht es genauso", sagte sie traurig. Sie warf ihm noch eine Kusshand zu und faltete das Tuch zusammen. Sekunden später klopfte es an ihrer Tür. Schnell schob sie den Rucksack unters Bett und rief: "Herein!"

Canor, steckte seinen grauen Kopf zur Tür herein. "Der Graf bittet zu Tisch, Lady Adira", sagte er mit einer Verbeugung.



Wenige Tage nach diesem Gespräch überkam sie ein eigenartiges Gefühl als sie von ihrem täglichen Ausritt zur Burg heimkehrte. Trotzdem sattelte sie ihr Pferd ruhig ab, gab ihm Futter und ließ es dann auf die Weide. Sie ließ den Blick über den Hof schweifen. In einer Ecke saß eine Gruppe Krieger und würfelte. Ein Krug ging von Hand zu Hand.

Wie zufällig schlenderte sie zum Brunnen und schöpfte Wasser. Sie spritzte einiges davon auf den Brunnenrand und fing einen Tropfen auf.

"Heiß, heiß", flüsterte er.

"Was ist heiß?", fragte sie einen anderen Tropfen.

"Wild, gefährlich", raunte er.

Nacheinander ließ sie mehrere Tropfen durch ihre Finger rinnen.

"Blut!", "Neues Leben", "Gefahr", waren die Antworten.

Nun gut, sie war gewarnt. Die Sonne stand hoch. Bald würde es Mittagessen geben. Als sie an den Männern vorbeiging, stieg ihr ein scharfer Geruch in die Nase. Aetoli! Dies war eine Droge, die Männer zu Tieren machte. Sie erkannte auch, dass die Krieger noch nicht genug davon genossen hatten um das Gift voll zur Entfaltung zu bringen. Wenn sie jetzt nicht weiter tranken, bekamen sie nur einen gewaltigen Brummschädel.

Ein heißer Schreck durchfuhr sie. Der hässliche Nachgeschmack des guten Weins! Es war Aetoli! Ragilo und Egeria tranken immer diesen Wein. Das erklärte manchen Streit zwischen bei Beiden.

Adira ging mit großen Schritten auf die Gruppe zu. Sie riss dem Mann, der gerade trinken wollte, den Krug aus der Hand und schmetterte ihn gegen die Mauer. Er zerbarst und die Flüssigkeit lief an der Wand herunter. Es roch nach Wein, vermischt mit Aetoli. Die Krieger sprangen auf und glotzten sie entgeistert an.

"Wer hat euch diesen Wein gegeben?!", fragte sie streng.

"Das geht dich nichts an", nuschelte einer. "Wir feiern die Geburt von Ragilos Sohn." Er schwankte ein wenig.

"Das war nicht nett", brummte der Mann, dem sie den Krug entrissen hatte. "Guter Wein aus Arvane. Dafür will ich eine Entschädigung." Er grinste dreckig. Mit einem Sprung war er bei ihr und griff grob nach ihrer Brust.

Aufstöhnend stieß sie ihn zurück und ergriff eins der hölzernen Schwert, die sich in einer nahen Ecke stapelten. Für einen Betrunkenen reichten ihre Kenntnisse noch allemal.

Überrascht starrte der Krieger sie an. "Was willst du denn damit?", kicherte er nuschelnd.

"Dir eine Lektion erteilen!", fauchte sie ihn an. Mit der Übungsklinge verprügelte sie ihn nach Strich und Faden.

Gerade als der Mann stöhnend in die Knie ging, hörte sie Schritte die Treppe herunter poltern. Dann stürzte ihr Bruder in den Hof.

"Was ist hier los?!", schrie er. "Warum seid ihr nicht auf eurem Posten?"

Brummelnd trollten sich die Männer. Ihren Kameraden schleppten sie mit. Ragilo starrte sie wütend an. "Was fällt dir ein, meine Männer zu verprügeln!"

Adira warf das Schwert zurück auf den Haufen. "Deine Männer haben Wein mit Aetoli getrunken", sagte sie anklagend.

"Unmöglich!", erwiderte er. "Es ist streng verboten. Vater ließ einmal vier Männer pfählen, weil sie Aetoli tranken. Außerdem bekommen die Krieger nur Bier."

"Riechst du es nicht?" Adira deutete auf die Wand, wo noch immer ein nasser Fleck von dem Vorfall zeugte. In einer größeren Scherbe hatte sich ein wenig Wein erhalten. Sie hob sie hoch und hielt sie Ragilo unter die Nase.

"Pfui!" Mit allen Zeichen des Abscheus fuhr er zurück und schnäuzte sich in die Hand. Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen. "Du hast recht, Adira", gab er zu während er die Hand am Hosenboden abwischte. "Woher hatten sie das nur? Verdammt, warum muss das gerade jetzt geschehen? Egeria liegt in den Wehen und ... und ..." Wie ein kleiner Junge stand er vor ihr, die Fäuste geballt und versuchte tapfer, nicht zu weinen. "Swintha ist bei ihr, aber sie braucht einen Heiler", sagte er leise.

"Warum gibt es auf der Burg keinen Heiler?", wunderte sich Adira.

"Vater hat alle zum Teufel gejagt, weil sie ihm nicht helfen konnten", erklärte er verzweifelt. "Seit seinem Tod habe ich nach einem gesucht. Bisher vergeblich. Adira, was soll ich nur tun?"

Überrascht musterte sie ihn. Wo war seine Selbstsicherheit, sein Stolz, seine Unnahbarkeit, dass er sie um Rat bat?

Wie als Bestätigung seiner Worte erklang der Schrei einer Frau. Ragilo raste die Treppe hinauf.

"Lass mich sehen", rief sie ihm nach und rannte hinterher.

Der Graf riss eine Tür auf und stürmte in den Raum. Adira war knapp hinter ihm. Was sie da erblickte, ließ ihren Fuß an der Schwelle stocken. Egerias Kopf trug einen blutdurchtränkten Verband. Ihre Unterlippe war aufgesprungen und dick geschwollen. Eine alte Frau redete beruhigend auf sie ein. Sie warf dem Grafen einen strafenden Blick zu und wandte sich wieder der Gebärenden zu. Egeria wimmerte leise.

Adira legte einen Hand auf Ragilos Arm, der seine Frau entsetzt anstarrte. "Was hast du getan, Bruder?", stieß sie hervor.

"Ich wollte das nicht", beteuerte er. "Das musst du mir glauben. Ich liebe Egeria, aber sie kann den Mund nicht halten!" Bei den letzten Worten kippte seine Stimme und er brach in Tränen aus.

"Rogin, der Heiler auf Burg Partiene hat mir viel beigebracht. Ich will versuchen, ihr zu helfen", teilte sie ihm mit.

"Rette meine Frau!", rief Ragilo aus. "Rette sie, denn sonst will ich auch nicht mehr leben!"

"Ich tue, was ich kann", versprach sie. "Du legst dich am besten hin. Hier stehst du uns nur im Wege herum."

Adira schob ihn hinaus auf den Gang. Eine Magd kam mit einer Schüssel heißen Wassers und sauberen Tüchern aus der Küche. Adira nahm ihr Schüssel und Tücher ab.

"Führe den Grafen in seine Gemächer", befahl sie. "Er soll viel trinken, aber keinen Wein aus Arvane." Das war eine Eingebung, die aus dem Wasser gekommen war.

"Wir haben nur Wein aus Arvane", erklärte die Frau. "Es ist der Beste."

"Dann bekommt er nur Awenta oder besser noch Tee, Kräutertee." Sie zählte ein paar Kräuter auf, die der Koch nehmen sollte, Kamille, Melisse, Minze und Salbei ....

Bis jetzt hatte Adira sich gehütet Befehle auszuteilen. Es war die Situation, die sie nun so handeln ließ. Dabei strahlte sie soviel Autorität aus, dass die Magd widerspruchslos gehorchte. Adira ging zurück zu Egeria.

"Kämpfe nicht dagegen", riet Swintha gerade der jungen Frau. "Du machst es dir nur schwerer."

Die Gräfin wirkte mehr als sonst wie ein Kind. Ihre Hände krallten sich in das Tuch, das über ihrem nackten Körper lag und sie stieß kurze Schreie aus. Mit jedem Schrei kam ein Schwall Blut aus ihrem Leib. Swintha untersuchte sie mit kundigen Fingern.

"Der Kopf ist schon zu fühlen", sagte sie leise. "Wenn sie sich aber weiterhin so wehrt, wird sie verbluten. Und das Kind wird es auch nicht überleben."

"Was ist geschehen?", fragte Adira.

"Sie hatte Streit mit Ragilo, wie schon so oft. Er brüllte sie an, sie brüllte zurück. Da schlug er sie so heftig auf den Mund, dass sie über einen Stuhl stürzte und mit dem Kopf gegen die Kante eines Schranks krachte." Swintha schüttelte bedauernd den Kopf. "Unmittelbar darauf begannen die Blutungen. Ihre Zeit war fast gekommen. Nun hoffe ich, dass das Kind keinen Schaden gelitten hat."

Neben dem Bett stand auf einem niederen Tischchen ein Krug mit Wasser. Adira steckte eine Hand in den Krug und spritzte Egeria Wasser ins Gesicht. Dazu summte sie. Die junge Frau entspannte sich sichtlich. Nun tauchte Adira ein Tuch ins Wasser und wusch damit den Schweiß von Egerias Gesicht. Sie hörte nicht auf zu summen. Die nächste Wehe kam. Egerias Körper spannte sich, aber unter Adiras Summen gab sie nach. Dieser Vorgang wiederholte sich wieder und wieder. Nur einmal legte sie eine kleine Pause ein um etwas zu essen.

Es wurde dunkel und Swintha entzündete Öllampen. Die Nacht war fast vorüber als Egerias erstes Kind die Welt mit einem hustenden Schrei begrüßte. Es war ein gesundes Mädchen. Eine Magd wusch das Baby während Swintha und Adira die Mutter versorgten.

Jetzt sank Adira auf das Fußende des Bettes. Hunger und Schlafentzug machten sich endlich bemerkbar.

"Leg dich zur Ruhe", sagte Swintha besorgt. "Ich werde bei ihr wachen."

So bleich, dass sie fast durchsichtig wirkte, lag Egeria da. Ihr Blick war stumpf. Als Ragilo das Zimmer betrat, sah sie nur kurz auf. Swintha legte ihm seine Tochter in den Arm. Das Köpfchen war mit fingerlangen, schwarzen Haaren bedeckt. Gähnend zeigte das Kind einen zahnlosen Kiefer.

"Wie schön sie ist. Sie soll Swana heißen wie meine Mutter." Ragilo legte sie in die Wiege und wandte sich seiner Frau zu. "Es tut mir so Leid, Egeria, mein Herz. Verzeih mir. Ich liebe dich so sehr."

Egerias Lider hoben sich nur halb. "Ich weiß, du verdammter Mistkerl. Ich liebe dich doch auch." Ihre Lider sanken wieder herunter.

"Egeria!" Er packte sie an der Schulter. "Egeria! Bleib bei mir! Nein, du darfst mich jetzt nicht verlassen!"

"Wenn sie sich erholen soll, dann lass sie jetzt schlafen", sagte Swintha streng. "Bete für sie. Wenn sie die nächsten Tage überlebt, könnte sie es schaffen."

"Ja, ich werde beten", versprach er. "Und ich werde auch den scheußlichen Tee trinken, den der Koch mir statt Wein brachte. Wenn nur Egeria wieder gesund wird."

Dann wandte er sich an Adira, die mit hängenden Schultern dasaß. "Ich danke dir, Schwester." Seine Hand legte sich kurz auf ihre Schulter. Die Kluft zwischen den Beiden war deutlich kleiner geworden.

"Ich bin todmüde", sagte Adira und mühte sich auf die Füße.

Adira war schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer als der Hahn krähte. Sie hatte von ihrem Fenster aus einen guten Ausblick auf den Fluss. Die aufgehende Sonne färbte das Wasser des Velleju rot und orange. Das Treppensteigen hatte sie wieder ein wenig munterer gemacht.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein leises Schaben und fuhr herum.

Das rettete ihr das Leben. Durch die plötzliche Bewegung fuhr das Messer, das für ihr Herz bestimmt war, über ihren Arm. Sie nahm alle Kraft zusammen und wandte sich dem Attentäter zu.

Es war ein dünner Mann mit einem Mausgesicht. Wieder hob er den Arm mit dem Dolch. Adira fing den Arm auf. Nun lag der knochige Körper auf ihr und die Klinge drohte eine Handbreit über ihrer Brust.

Sie war müde und abgeschlafft nach der durchwachten Nacht und zwei übergangenen Mahlzeiten. Langsam sank die Klinge tiefer. Verzweifelt sah sie sich um. Wenn sie um Hilfe schrie? Ihr Zimmer war so abgelegen, dass sie sicher niemand hören würde. Aber der Krug auf dem Tisch. Sie wusste, dass er noch fast voll war. In einem erstickten Schrei entlud sich ihre Magie. Das Wasser stieg aus dem Krug auf und gefror zu einem Dutzend spitzer Eiszapfen, die mit ungeheurer Gewalt in den Rücken des Mannes stachen. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch es kam nur Blut heraus. Röchelnd brach er zusammen. Adira wand sich unter dem erschlaffenden Körper hervor.

"Warum wolltest du mich töten?", herrschte sie ihn an, aber er war schon tot.

Sie musterte sein Gesicht. Nein, diesen Mann hatte sie noch nie gesehen. Bei allen Göttern, war sie müde! Jetzt nur noch ins Bett. Zuerst aber, wohin mit der Leiche? Am Gang gab es leere Truhen. Fluchend zerrte sie den schlaffen Körper auf den Gang hinaus. Dort stopfte sie ihn in eine große Truhe. Dieser Besucher lief ihr sicher nicht davon.

Sie hatte sich gerade hingelegt, da klopfte es an ihrer Tür.

"Lady Adira!", hörte sie die Stimme eines Dieners. "Kommt, bitte! Der Graf schläft so fest, wir können ihn nicht wecken."

Nun entschlüpften ihr richtig böse Worte. Noch einmal quälte sie sich aus dem Bett und setzte sich auf die Bank vor dem Fenster. Zwei taifalische Soldaten stolperten müde herein. "Wo ist der Graf?", fragte einer der Männer.

Adira stierte ihn an. "Der Graf schläft, die Gräfin hat entbunden und ist halb tot. Wenn du etwas zu melden hast, dann sag es mir schnell, bevor ich aus den Stiefeln kippe, denn ich bin auch todmüde."

Zuerst zögerte der Krieger. Dann berichtete er. "Unser Bote, der Unterführer Tazo, wurde von partienischen Soldaten ermordet, obwohl er eine weiße Fahne geschwenkt hat. Sie haben gelacht, als er zusammenbrach und ließen ihn einfach verrecken." Abwartend sah er sie an. "Das muss dem Grafen gemeldet werden."

"Der Graf hat einen Schlaftrunk genommen. Den kriegst du jetzt nicht wach", wandte Adira ein. "Wo ist der Tote?"

"Im Hof."

Adira öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Unten stand ein Gaul über dessen Sattel eine Gestalt gebunden war. Nach dem Geruch, der von ihr ausging, war sie schon eine Weile tot. Es war in den letzten Tagen ziemlich warm gewesen.

"Bringt die Leiche an einen kühlen Ort und legt euch aufs Ohr. Vor Mittag ist hier nichts zu machen." Damit entließ sie die Beiden und ging zu Bett. Die Wunde am Arm war nur ein harmloser Kratzer, der nicht einmal mehr blutete. Sie wickelte ein sauberes Tuch darum. Ohne sich zu entkleiden ließ sie sich dann aufs Bett fallen und schlief sofort ein.



Fortsetzung folgt


zurück