STORIES


DAS KINDERMÄDCHEN

von Fred H. Schütz



"Nun, Mrs. Fairfield," sagte der Mann, der sich als Inspektor Cowper von der Sun City-Polizei vorgestellt hatte, "Erzählen Sie mir nochmal alles, von Anfang an!"
Mrs. Fairfield warf einen ängstlichen Blick nach oben und senkte ihn gleich wieder auf ihre Hände, die nervös mit dem zerknüllten, tränenfeuchten Taschentuch spielten. Wie er so dastand, breitbeinig, hoch aufgerichtet, war der Inspektor eine furchteinflößende Gestalt, und er wußte es. Zusammen mit dem eiskalten Blick aus wasserblauen Augen hatte diese Haltung schon so manchen Gesetzesbrecher weich gekocht.
Die Frau kauerte mehr als sie saß in einer Ecke des Sofas und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Das hell tapezierte Zimmer war mit gutem Geschmack eingerichtet, mit Möbeln aus blondem Holz. Der Inspektor haßte blondes Holz. Jalousien aus gelbem Leinen milderten das Sonnenlicht, das durch die breiten Fenster hereinströmte. Der Teppich allein mußte ein Vermögen wert sein. Nun machte sie eine fahrige Bewegung mit der Hand. "Sie hat sie mitgenommen!"
Die Erklärung löste einen neuen Weinkrampf bei ihr aus. Cowper wartete, bis sie sich beruhigte, dann sagte er: "Sie meinen, das Kindermädchen hat Ihre Tochter entführt?"
"Ja!" schluchzte Mrs. Fairfield, "Ja! Inspektor, finden Sie sie! Ich flehe Sie an!"
"Wir tun unser Bestes, Mrs. Fairfield, darauf können Sie Gift nehmen!" Was sagt man einer Mutter, wenn man genau weiß, daß ihr Kind längst tot ist? Die Kinder waren immer tot, das war das einzig Sichere an dem Fall.
"Das Kindermädchen hat doch einen Namen," sagte er, "wie heißt sie?"
"Na - Nanette," sagte sie zögernd. "Nanette Cau - Cau ... Es war ein französischer Name."
"Hatte sie denn keine Papiere? Da muß ihr Name doch draufstehen. Holen Sie sie!"
"Nein." Die Frau schüttelte den Kopf. "Nein. Keine Papiere ..." Sie weinte wieder.
"Was denn! Sie haben sie ohne Referenzen eingestellt?" knurrte er unwirsch.
"Sie - sie machte einen so vertrauenswürdigen Eindruck."
"Beschreiben Sie sie!"
"Blond," sagte sie zögernd. "Blond, Mitte vierzig, klein und pummelig."
Der Inspektor sah schräg auf sie hinab, sein Gesicht ausdruckslos. Warum das Mitleid zeigen, das er für sie verspürte? Von Polizisten erwartet man keine Gefühle. Blond, Mitte vierzig, klein und pummelig, das paßte genau auf die Hausfrau. Wenn das Kindermädchen aussah wie sie, mußte sie ihr vertrauensvoll begegnen.
"Will!" sagte er kurz.
"Schon notiert, Inspektor!" Sein Assistent saß ungelenk auf der vordersten Kante seines Stuhls, den Notizblock offen auf den Knien. In den USA benutzen Polizisten Notizblöcke, die man nach oben aufschlägt; das funktioniert leichter und schneller. Den Stift hielt er in der halb erhobenen Hand, für weitere Eintragungen bereit.
Will Saunders war ein junger Mann frisch von der Polizeiakademie, mit von der brutalen Wüstensonne gerötetem Gesicht unter streng zurückgekämmten sandigblonden Haar. Er pflegte den Kopf leicht gesenkt zu halten; das verbarg den scharfen Blick seiner grauen Augen. Er trug einen billigen Kaufhausanzug und seine Schuhspitzen waren verschrammt.
Einen guten Polizisten erkennt man an seinen verschrammten Schuhspitzen. Cowper schmunzelte über dem Gedanken. Er hatte Will unter vierzehn Rookies ausgewählt, und er täuschte sich nie. Nicht, wenn es galt, aus einem Neuling einen tüchtigen Assistenten zu machen, der eines Tages seine Position übernehmen sollte ...
Cowper war nach Sun City gezogen, weil er die letzten Jahre seiner Dienstzeit ruhig angehen wollte. Die Hatz der Polizeiarbeit in der Großstadt war mit den Jahren zuviel geworden. Sun City war ein ruhiges Städtchen, wo nicht viel passierte - zumindest keine Gewaltverbrechen.
Er betrachtete die Frau vor ihm. Sun City war als Paradies für betuchte Pensionäre angelegt, da war eine junge Mutter mit Kleinkind fehl am Platz. Aber Mrs. Fairfield war die Frau des Vizedirektors der Sun City Trust & Savings Bank. Einer Lösegeldforderung würde sie jedoch vergeblich harren, des war Cowper sicher.
Er räusperte sich. "Irgendwelche Kennzeichen?"
Die Frau schreckte zusammen, sah auf. "Wie bitte?"
"Ist Ihnen nichts an ihr aufgefallen?" drängte er. "Hatte sie vielleicht besondere Merkmale?" Die üblichen Fragen, die meistens zu nichts führen. Reine Routine. Aber man muß sie stellen, weil - na ja, gelegentlich bringen sie auch was.
"N-nein," erwiderte sie zögerlich. "Sie sah ganz normal aus. Eine Blondine eben, nicht mehr jung, noch nicht alt, untersetzt ..." Ihre Stimme verebbte.
Der Inspektor sah auf sie hinunter, die Brauen gefurcht, und unterdrückte einen Seufzer. Was soll's, er hatte nichts anderes erwartet. Zeugen liefern selten verwertbare Beobachtungen, und diese Frau, aus ihrem beschaulichen Dasein gerissen, war keine Ausnahme. Er verspürte eine Regung, die an Mitleid grenzte. Wie sie dasaß, jeder Zoll ihrer kleinen Gestalt der Ausdruck ihrer Angst um ihr Kind, konnte sie Mitleid erregen ...
Sie hob den Kopf, den Blick ins Leere gerichtet. "Vielleicht ..."
"Ja?" Sein Jagdhundinstinkt war im nu hellwach.
Beim scharfen Klang seiner Stimme zuckte sie zusammen, als hätte er sie geschlagen. Dann blickte sie wieder hoch, sah mit gerunzelten Augenbrauen ins Leere. "Na ja, sie hatte diese Sommersprossen ..."
"Was für Sommersprossen?" fragte er eindringlich und Will grinste. Sommersprossen sind Sommersprossen. Viele Leute haben Sommersprossen. Was sollte daran besonderes sein ...
"Das ist es ja!" sagte Mrs. Fairfield und sah dem Inspektor ins Gesicht. Es war das erste Mal seit er hier war, daß sie Cowper voll anblickte. Mein Gott, dachte er, sie hat Augen wie Märzveilchen!
"Es waren genau drei," sagte Mrs. Fairfield. "Hoch auf der linken Wange und in einem regelmäßigen Dreieck angeordnet." Sie nahm einen tiefen Atemzug, und als sie den Atem wieder ausstieß, klang es wie eine kleine Explosion. "Wie aufgemalt."
"Na, diesen Fall werden wir rasch gelöst haben!" sagte Will Saunders heiter, als er sich hinter das Steuer schwang. Er griff nach dem Zündschlüssel, der wie üblich im Schloß steckte. In Sun City nahmen Polizisten den Zündschlüssel nicht mit, wenn sie ihr Fahrzeug verließen. "Bei der Beschreibung ..."
"Die Beschreibung ist wertlos!" knurrte der Inspektor. Er kauerte zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und kaute auf dem Mundstück seiner alten Pfeife herum. Die Pfeife hatte einen schwarz verschmorten Kopf, ein Zeichen langjähriger Benutzung. Jetzt diente sie ihm nur noch als Mittel zur Konzentration. Er brütete vor sich hin, den Blick ins Leere gerichtet.
Sein Assistent warf ihm einen erstaunten Blick zu. "Wieso, Ed? Sie war doch recht präzise!"
Edwin Cowper nahm die Pfeife aus dem Mund. "Die Frau war schon blond, braun und rothaarig. Sie war hochgewachsen oder klein, schlank oder mollig."
"Eine Meisterin der Verkleidung!" sagte Will und pfiff durch die Zähne.
"Nein!" sagte der Inspektor entschieden. "Man kann sein Aussehen verändern, aber nicht seine Statur! Man kann nicht heute hochgewachsen sein und morgen wieder klein. Da steckt etwas anderes dahinter, ich weiß nur noch nicht, was."
Will starrte ihn betroffen an. "Du hast wohl schon öfter mit ihr zu tun gehabt?"
"Neunzehn Mal in zehn Jahren," sagte sein Vorgesetzter grimmig. "Ich habe die Spur ihrer Tätigkeit quer durch die Staaten verfolgt - von Massachusetts bis hier zum Pazifik. Aber was mir Sorge macht, ist, daß sie in letzter Zeit öfter zuschlägt. In diesem Jahr ist dies bereits der zweite Fall."
Saunders spitzte die Lippen zu einem nahezu lautlosen Pfiff, ließ die Luft in einem auf- und abschwellenden Doppelton entströmen. Cowper kannte diesen Pfiff bereits; Will ließ ihn immer dann hören, wenn er besonders beeindruckt war.
"Aber," sagte der Inspektor im Tonfall grimmiger Befriedigung und verstaute seine Pfeife. "Diesmal habe ich einen Hinweis, mit dem ich was anfangen kann! Fahr schon los!"
Will steuerte den Dienstwagen auf die Straße. Es herrschte wenig Verkehr und so konnte er seine Gedanken dem kleinen Mädchen zuwenden, dessen Foto jetzt in Cowpers Tasche ruhte. Der Inspektor hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er nicht damit rechnete, das Kind noch lebend zu finden. Was für ein Ungeheuer war das, das kleine Kinder in seiner Obhut umbrachte? Die Fairfields hatten der Frau vertraut und geglaubt, die Kleine sei bei ihr in guten Händen. Und das war die Quittung für ihr Vertrauen!
Seine Gedanken nahmen eine andere Richtung. Was hatte der Inspektor gemeint, als er von einem Hinweis sprach, mit dem er was anfangen konnte? Bei aller Vertraulichkeit unter Kollegen, einen Vorgesetzten direkt fragen war nicht statthaft. Er würde seine Ungeduld zügeln müssen und warten, bis es dem Inspektor paßte, darüber zu reden.
Zum Glück war der Weg nicht lang und keine zehn Minuten, nachdem sie das Landhaus der Fairfields verlassen hatten, erreichten sie die Polizeistation.
Sun City war zwar großräumig angelegt, mit vielen ausgedehnten Grünanlagen, aber dennoch war sie keine große Stadt. Da reichte eine Polizeistation vollkommen aus, und die befand sich in einem Flügel der zentral gelegenen Gemeindeverwaltung.
Die Straße vor dem Gebäude war voller Pressefotographen und Ü-Wagen der lokalen und überregionalen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Uniformierte Polizisten waren eifrig bemüht, den Ü-Wagen ordentliche Stehplätze zuzuweisen, damit sie den Verkehr nicht mehr als nötig behinderten. "Auch das noch!" sagte der Inspektor verbittert. "Will, mach die Sirene an. Los!" Er nahm das Rotlicht aus der Nische und setzte es auf das Fahrzeugdach, wo es mit seinem Magnetfuß haftete. Der Wagen raste los.
Presseleute sprangen fluchend aus dem Weg, als Will die Blockade geschickt umfuhr. Dann bog er in die Seitenstraße ein und stellte die Sirene ab. Er fuhr zum Hintereingang der Behörde und hielt in der Feuerwehrzufahrt.
Das Detektivbüro lag im dritten Stock. Ein halbes Dutzend Detektive arbeiteten hier, aber nur drei waren zur Zeit anwesend. "Jack," bellte Cowper, "hol meinen Wagen aus der Parkverbotszone und fahre ihn in die Tiefgarage! Wenn die Presseleute dich überfallen - und das werden sie! - erzählst du ihnen ein Märchen!"
Jack Preston grinste breit. "Wir sind zuversichtlich, daß wir den Fall in naher Zukunft lösen werden! Um was geht es?"
"Die Kindesentführung bei den Fairfields."
Jack nickte. "Geht klar. Sobald wir das Kind seinen Eltern zurückgeben, werden wir eine Pressebesprechung abhalten und alle umfassend informieren!"
Der Inspektor grinste humorlos, als der neu ernannte Pressesprecher in Richtung der Aufzüge verschwand. Den beiden verbliebenen Detektiven befahl er eine umfassende Suchaktion einzuleiten - "und wenn Ihr dazu den letzten Uniformierten von der Straße holen müßt!"
Will mußte sich an den Computer setzen, um "alle verfügbare Information über eine Frau zu herauszufinden, die drei in einem regelmäßigen Dreieck auf der linken Wange angeordneten Punkte trägt."
Dann ging er in sein Büro und schloß die Tür. Als Will etwas später von seiner Arbeit aufschaute, konnte er durch das Fenster in der Trennwand sehen, wie der Inspektor in sein Telefon redete.
Als Saunders eine halbe Stunde später das Büro betrat, saß der Inspektor an seinem Schreibtisch und malte Trudel zwischen die Notizen auf seinem Block. Seine Zähne mahlten auf dem Mundstück seiner Pfeife, ein Zeichen daß er angestrengt nachdachte.
Will legte ein dünnes Bündel Computerausdrucke vor ihn auf den Tisch. "Schau mal, Ed, was uns Interpol geschickt hat," sagte er und seine Stimme war heiser vor Erregung. "Das Weib hat in Europa über hundert Kinder geschlachtet! Aber," setzte er hinzu, "was ich nicht verstehe: die Fälle gehen bis ins vorige Jahrhundert zurück!"
"Wieso," sagte Cowper und beugte sich über die Papiere. "Das vorige Jahrhundert ging doch erst vor wenigen Jahren zu Ende." Er runzelte die Brauen als er die Seiten überflog und stieß dann einen Pfiff der Überraschung aus. "Im neunzehnten Jahrhundert! Das liegt über hundert Jahre zurück!"
"So alt wird kein Mensch," sagte sein Assistent. "Haben wir es hier mit einer Nachahmungstäterin zu tun?"
Cowper sah zu ihm hoch. "Aber welche zwei Menschen haben die gleichen Merkmale? Dieselben Markierungen ..." Er beugte sich wieder über die Papiere. "Rituelle Stammesnarben ... Will, das Weib stammt aus Afrika!"
Will Saunders nickte grimmig. "Aber das ist noch nicht das Schlimmste! Das Schlimmste ist, daß uns das FBI einen Agenten schickt!"
"Verdammt!" Der Inspektor stieß die Luft explosionsartig durch die Nase. "Ich hatte gehofft, die würden uns etwas mehr Zeit lassen!" Er sah zu dem jungen Mann auf. "Will, wir müssen uns ranhalten und den Fall knacken, ehe der Mann eintrifft!"
Aber tief im Inneren wußte er, daß er auf verlorenem Posten kämpfte; er brauchte sich auch keinerlei Illusionen hinzugeben, das Kind überhaupt noch lebend vorzufinden.
Dasselbe dachte auch sein Assistent, als er zu seinem Schreibtisch zurückging. "Wie eine Schneeflocke in der Hölle!" brummte er und meinte damit ihre Chancen.
Die Wüste um Sun City ist keineswegs so eben wie ein Blick auf die Landkarte vermuten läßt. Sie ist faltig wie ein altes Gesicht, von langen tiefen Senken durchzogen, ebenso wie von niederen Anhöhen, und daher ist der Blick auf die Tehachapiberge hoch im Norden von hier aus gar nicht möglich; man sieht sie bestenfalls als verwaschene Linie am Horizont.
Die Wüste bietet sich in einem eintönigen gelbbraungrauen Farbton dar. Farben sieht man höchstens nach einem schweren Platzregen, wenn die Wüste plötzlich aufblüht; aber das ist selten. Daher ist auch das hier "Chaparral" genannte Buschwerk einfarbig grau.
In den Senken gedeihen Salbei- und Kreosotbüsche, sperrige Mesquitesträucher und der gefährliche Ocotillostrauch, dessen fingerlange spitzige Stacheln dem Unvorsichtigen tiefe Wunden reißen können. Auf den Höhen zeichnen sich gelegentlich die skelettartigen Silhouetten bizarrer Joshuabäume, die ihre Äste wie die Arme um Hilfe flehender alter Männer zum Himmel recken.
Der Inspektor tat einen tiefen Seufzer als er den Blick von der Karte an der Wand wandte. Er wußte, daß er das Menschenmögliche getan hatte, aber das gab ihm keine Gewißheit. Wie sollte er in diesem unermesslich weiten, lebensfeindlichen Gebiet eine einzelne Frau und ein kleines vierjähriges Mädchen finden? Waren sie überhaupt noch in der Gegend? Wenn es ihr gelungen war, die Bundesstraße 66 zu erreichen, konnte sie bereits den halben Weg bis zur Ostküste zurückgelegt haben; mit dem Daumen als Fahrkarte zu reisen ist zwar mühsam aber billig. Doch irgendwie - er hätte keinen Grund nennen können, dieses Gefühl zu untermauern - spürte er, daß die beiden noch in der Gegend waren.
Sein Bauchgefühl betrog ihn nie.
Wenn abends das blutigrote Tagesgestirn unter den Horizont versinkt weht ein meistens nur leichter Wind von den Bergen herunter, der die Gluthitze des Tages mildern will. Vom Grund aufsteigende Thermen lassen die Sterne tanzen, die wie achtlos auf das samtschwarze Tuch des Nachthimmels hingestreut ihr schwaches Licht verbreiten - ein mysteriöses Licht, das die Nacht in eine Zeit der Geister verwandelt. Dazu trägt auch das gelegentlich erschallende geisterhafte "Hut, Hut" des Kapuzenkauzes bei, der, ebenso wie der gewandte Cacomistle oder Katzenfrett - ein etwa katzengroßer langgeschwänzter Kleinbär - auf der Jagd nach Känguruhratten und anderem Kleingetier die Nacht durchstreift.
In einer schluchtartigen Senke, die einen knappen Tagesmarsch von Sun City entfernt wie eine Seitenwinderklapperschlange durch die Wüste kringelt, schien ein Stern vom Himmel gefallen zu sein. Der Lichtschein des kleinen wohlgehüteten Lagerfeuers flickerte über dunkle Haut, die dem Beobachter bei Tageslicht blauschwarz erschienen wäre. Diese Hautfarbe gibt es nur in einem eng begrenzten Gebiet Ostafrikas, genauer gesagt, im Quellbereich des Nils.
Diese Haut gehörte einer hochgewachsenen, hageren Gestalt, deren schlauchartig herabhängende Brüste sie als Frau auswiesen. Bis auf einen knappen Lendenschurz aus speckig-schmutzigem Leder war die Frau nackt und ihre Haut glänzte von dem ranzigen Fett mit dem sie sich eingerieben hatte, und das einen widerwärtigen Geruch nach Ziegenbock verbreitete.
Sie hockte dicht neben dem Feuer und stieß mit gedämpfter Stimme einen eintönig klingenden Gesang aus, in dem sich unverständliche Laute aneinanderreihten wie in einer Perlenkette. Wenn sie sich gelegentlich vorbeugte und ihr Gesicht näher an den Feuerschein brachte, ließ sie die drei Narben auf ihrer linken Wange sehen. Wann immer sich ihr schmallippiger Mund öffnete, erschienen darin schmutziggelbe spitzgefeilte Zähne, die dem aufmerksamen Beobachter verrieten, was sie war.
Zu ihren Füßen war eine eigenartig verschnörkelte Zeichnung in den Boden geritzt, die sich dunkel gegen den hellen Sand abhob. Die Rinnen dieser Zeichnung waren mit einer jetzt in der Nacht schwarz erscheinenden, bereits halb eingetrockneten Flüssigkeit gefüllt, die aus einer Wunde im rechten Bein des kleinen Kindskörpers troff, der regungslos mitten auf dem grotesken Muster lag. Das Mädchen war völlig nackt und seine Haut schimmerte weiß, wo sie nicht von bizarren, mit seinem eigenen Blut aufgetragenen Sigyllen bedeckt war. Der kleine Kindskopf war zur Seite geneigt und sein Gesicht lag im tiefen Schatten der Nacht.
Der Gesang schien seinen Höhepunkt zu erreichen. Die Frau richtete ihren Körper auf und eine breite Klinge in der erhobenen Hand blitzte im Widerschein des Feuers..
"Polizei!" schrie der Inspektor und stürmte vorwärts. "Ergreift sie!" Rechts und links von ihm brachen schwere Körper durch die Büsche.
Er hätte sich die Mühe sparen können. Die Frau reagierte blitzschnell. Beim ersten Laut aus seinem Mund schaufelte sie beidhändig Sand auf das Feuer, und schon herrschte tiefste Dunkelheit.
Wie einst als Fußballspieler warf sich Cowper vorwärts, landete hart auf dem Boden und seine Hände trafen einen kleinen weichen Körper. Er riß das Kind an sich und richtete sich auf. "Will," schrie er, "wo ..."
Um ihn herum schien das Chaos ausgebrochen zu sein. Seine Männer bahnten sich Wege durch das Gestrüpp und Zweige knackten. Hier und da brach ein Ast ab und das klang jedes Mal wie ein Schuß. Die Männer schrien durcheinander, "Hier ist sie! Nein, verdammt!" Ihre Lampen warfen Lichtkegel hierhin, dorthin, und vertieften in Wahrheit die Dunkelheit. "Ich hab' sie!" schrie einer und der Ruf endete mit einem Fluch. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Will.
"Will, lauf zum Wagen und rufe die Zentrale," knurrte der Inspektor, ohne aufzusehen. Er hatte sich die Buschjacke ungelenk heruntergerissen und war damit beschäftigt, das Kind darin einzuwickeln. "Sie sollen umgehend den Rettungshubschrauber herschicken!"
"Um," sagte der Schatten neben ihm und verschwand.
Cowper blickte sich um, suchte sich zu orientieren, und setzte sich in Bewegung. Er folgte der Neigung des Geländes in der Hoffnung, daß dies ihn zum Wagen zurückführen würde. Die Lichter der Taschenlampen entfernten sich und der Krach seiner Leute wurde schwächer. "Hört auf zu suchen!" schrie er, "wir setzen die Suche morgen bei Tageslicht fort! Henderson, Grimes, hört Ihr mich?"
Er mußte mehrmals rufen, bis seine Leute reagierten. Der Krach erstarb. Er rief: "Alles zum Einsatzwagen zurück!" und vernahm befriedigt, wie sich seine Leute bewegten. Das gab ihm den Hinweis auf die Richtung, den er brauchte. Er fluchte verärgert, weil er beinahe in die falsche Richtung gelaufen wäre.
Schritte näherten sich und eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit. Saunders leuchtete sich kurz ins Gesicht, um sich zu erkennen zu geben. "Ed, bist du in Ordnung? Ich habe dich stürzen gesehen!"
"Ja doch!" gab Cowper zurück. "Wieso bist du so schnell wieder da? Hast du die Zentrale verständigt?"
"Wieso, nein! Du hast mir nichts gesagt. Hast du das Kind?"
"Verdammt!" knurrte der Inspektor grimmig. "Das Weib hat neben mir gestanden und ich habe es ..." Er zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. "Lauf rasch zum Wagen," befahl er. "Sie sollen den Rettungshubschrauber herschicken. Los!"
Er konnte nicht sehen, wie der Schatten vor ihm nickte. "Geht klar!" Der Schatten verschwand und dann vernahm er schnelle Schritte, Rascheln im Gesträuch und einen unterdrückten Fluch. Die Geräusche verklangen.
Cowper hielt das Kind fest an seine Brust gepreßt, suchte es vor den herumschnellenden Zweigen zu schützen, als er sich durch das Gebüsch drängte. Hoch über sich gewahrte er einen schmalen Streifen sternenfunkelnden Nachthimmels. Oh Gott, was sage ich den Eltern wenn das Kind tot ist, dachte er, wenn alles umsonst war ...
Dann vernahm er das schwache Wimmern und dem hartgesottenen alten Verbrecherjäger schossen Tränen in die Augen.

ENDE



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