Kurz vor Mittag ging Adira in die Küche. Dort ließ sie sich ein spätes Frühstück bereiten. Dann sah sie nach Egeria. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die junge Mutter gut versorgt war, wollte sie zu ihrem Pferd. Im Hof hockte ihr Bruder hohlwangig auf dem Brunnenrand und lauschte mit finsterer Miene dem Bericht seiner Soldaten. Sie kamen gerade zum Ende.
"Ich will ihn sehen", verlangt Ragilo und erhob sich.
Die Männer führten ihn zu einem Kellerraum. Bis auf die Leiche war er leer. Aus der Brust ragten vier abgebrochene Pfeilschäfte. Adira war neugierig mitgegangen. Ja, das war Tazo. Sie hatte den Mann nicht besonders gemocht, aber so einen Tod hätte sie ihm nicht gewünscht. Ragilo wandte sich wortlos ab und ging die Stufen hinauf.
"Am Gang vor meinem Zimmer liegt noch eine Leiche in einer Truhe", sagte sie. "Sieh sie dir doch einmal an. Ich möchte wissen, wer das ist."
"Was sagst du da?" Seine Augen quollen ein wenig aus ihren Höhlen. "Noch eine Leiche?" Ein wenig von der gestrigen Nähe war wieder geschwunden, doch nicht alles.
"Mhm." Sie führte ihn die Treppe hinauf. Der Tote lag noch genauso da wie sie ihn verlassen hatte. Den blutigen Dolch noch immer in der erstarrten Hand, stank er nach Blut und Tod.
"Das ist Thrax, Tulgas Gehilfe!", rief Ragilo aus. "Wie kam er in die Burg?"
"Das solltest du vielleicht die Männer fragen, die den Wein mit dem Aetoli getrunken haben."
"Ihr Götter! Warum muss alles auf einmal passieren!" Ragilo rang die Hände. "Ich bin seit knapp drei Monaten Graf, du verprügelst meine Soldaten, zwei Tote, Aetoli im Wein und meine Frau wird vielleicht sterben ... Ich weiß nicht, was ich zuerst tun soll!"
"Wie geht es Egeria?", fragte Adira.
"Schlecht!", jammerte Ragilo. "Vielleicht stirbt sie und ich bin Schuld!"
Adira wandte sich von der Truhe ab. Einem Diener befahl sie, den toten Thrax zu der anderen Leiche zu bringen.
Die Tür zu ihrem Zimmer stand einen Spalt offen. Ragilo warf einen Blick hinein. Da fiel sein Blick auf ein schillerndes Tuch auf ihrem Bett. "Was ist das?" Bewundernd sah er es an.
"Spinnenseide", antwortete sie kurz angebunden.
"Ich habe noch nie so etwas Großes aus Spinnenseide gesehen", wunderte er sich. "Woher hast du es?"
"Es ist ein Geschenk." Abweisend presste sie die Lippen zusammen.
"Ein Geschenk?", wiederholte er. "Willst du noch immer behaupten, dass dich niemand in Partiene angerührt hat?"
"Du irrst, Ragilo", sagte sie traurig.
"Wofür solltest du sonst so ein kostbares Geschenk bekommen?" Ragilo lachte kalt.
"Gibt es für dich nur diese eine Möglichkeit, Bruder?", fragte sie. "Wenn das alles ist, das du dir vorstellen kannst, tust du mir Leid."
Nun flackerte Unsicherheit in seinem Blick. Er murmelte etwas Unverständliches und wandte sich ab.
"Hol mir Walemer!", befahl er einem Diener. "Ich bin im Erkerzimmer."
Zusammen machten sie sich auf den Weg. Als sie eintraten, drehte er sich um. Er schien zu einem Entschluss gekommen zu sein.
"Eines muss dir klar sein", begann er hart. "Ich bin der Graf. Du wirst mir die Herrschaft nicht aus der Hand nehmen."
"Das war niemals meine Absicht, Bruder", beteuerte sie und sah ihm fest in die Augen. Sie waren braun und erinnerten sie sehr an die ihres Vaters.
"Das wollte ich nur klarstellen", meinte er ein wenig freundlicher.
Adira nahm neben ihrem Bruder Platz. Wenig später trat der Mann ein, den sie am Vortag verprügelt hatte. Er stierte sie aus einem verschwollenen Gesicht an.
"Gestehe, woher ihr den Wein hattet!", forderte der junge Graf streng. "Hast du ihn aus dem Keller gestohlen?" Dabei richtete er sich stolz auf und bedachte Adira mit einem Blick, der sagte: Ich gebe hier den Ton an! Vergiss das nicht.
Der Mann scharrte mit dem Stiefel am Boden. Sein Blick war gesenkt. Adira holte ihren Dolch aus der Scheide. Geschickt balancierte sie ihn mit dem Griff auf der Spitze ihres Zeigefingers. Dann, eine winzige Handbewegung und die Waffe überschlug sich in der Luft. Sicher landet sie wieder auf der Fingerspitze.
Walemer verfolgte fasziniert das Spiel. Wieder wirbelte der Dolch durch die Luft. Doch jetzt blieb er im Tisch stecken, genau vor dem Mann.
Der sog erschrocken die Luft ein und sprang einen Schritt zurück. "Thrax gab ihn uns!", rief er. "Er wollte dich überraschen, sagte er. Wo ist denn Thrax? Er kann es bestätigen." Nun hob er bittend die Hände. "Du musst mir glauben, Herr! Schütze mich vor der Lady, ich bitte dich!"
Wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre, hätte Adira laut gelacht. Ragilo schickte den Krieger zurück an seinen Platz.
"Warum hat Thrax meinen Kriegern vergifteten Wein gegeben?", brummte er. "Und wer hat ihn getötet?" Er musterte seine Schwester nachdenklich.
"Er wollte mich töten. Du hast doch den Dolch in seiner Hand gesehen." Adira schob ihren Ärmel hoch und wickelte den Verband von dem Arm. Die Wunde war trocken und verkrustet. "Seine Überraschung sollte wohl mein Tod sein."
"Du bist eine gefährliche Frau, Schwester!", sagte er bedächtig.
"Nur wenn man mir an die Wäsche oder ans Leben geht", gab sie zurück. "Wo ist der Weinkeller?"
Ragilo zog einen Schlüssel aus der Tasche. "Was willst du dort?"
"Ich will mir den Wein ansehen, den du dort lagerst."
"Denkst du, dass er auch vergiftet ist? Welch ein Unsinn!" Ragilo lachte spöttisch.
"Es schadet doch nicht, wenn wir nachsehen", versuchte sie ihren Bruder zu überzeugen. "Wenn der Wein in Ordnung ist, nun gut, dann habe ich mich eben geirrt."
Gemeinsam gingen sie in den Keller. Ragilo sperrte eine eisenbeschlagene Tür auf und trat hinter Adira ein. Hier lagerten an die zwanzig Weinfässer. Sie trugen alle den Falken Arvanes eingraviert. Auf einem Regal standen leere Krüge. Ragilo zapfte ein wenig Wein aus einem Fass und hielt ihn Adira hin.
"Koste!", forderte er sie auf.
Die junge Frau roch nur daran. Ja, da war dieser stechende Geruch. Das reichte ihr. Ihr Verdacht war damit bestätigt. "Nein, der Wein ist mit einer geringen Menge Aetoli versetzt", erklärte sie fest. "Wenn Egeria auch davon getrunken hat, wundert mich nichts mehr."
"Wie kannst du so etwas behaupten?", fuhr er auf. "Das ist bester Wein aus Arvane! Er stammt direkt aus den Weingütern des Herzogs. Kannst du dir vorstellen, was der gekostet hat?"
"Ich würde ihn an deiner Stelle trotzdem wegschütten", empfahl Adira.
Zögernd schnupperte er an dem Wein. "Er ist in Ordnung", behauptete er.
"Trink einen Schluck", forderte sie ihn auf. "Zum Essen schmeckt er anders als pur."
Stirnrunzelnd nahm er einen kleinen Schluck. Er behielt den Wein eine Zeitlang im Mund und lauschte hinein. Dann spuckte er ihn auf den Boden. "Jetzt merke ich es auch", knurrte er betroffen. "Und was soll ich nun trinken? Vielleicht Bier wie ein gewöhnlicher Krieger? Oder gar das grässliche Gebräu, das ich gestern bekam?"
Sie hob die Schultern. "Wenn du mir nicht glaubst .... Vielleicht schlägst du das nächste Mal Egeria den Schädel ein."
Die Erinnerung an seine Frau ließ den jungen Grafen zusammen sacken. "Du denkst, der Wein ist Schuld ....?"
"Zum Teil", schränkte sie ein. "Vater hatte ein aufbrausendes Temperament. Das hast du wohl von ihm geerbt. Das Aetoli verstärkt dies nur."
"Ich werde den Wein von einem Priester prüfen lassen", erklärte er. "Dafür muss einer zahlen. Zuerst einmal schicke ich aber einen Boten an Sesuald. Ich will Vergeltung für Tazo."
"Nein, Ragilo!", rief sie. "Warte noch!" Aber er war schon zur Tür hinaus. Vielleicht wollte er sie auch gar nicht hören.
"Ich hab's satt! Nein, ich will nicht mehr!" Hildrich rannte aus dem Arbeitszimmer geradewegs in seinen Bruder Gisulf.
"Was ist los?", fragte dieser und musterte den Älteren.
Hildrich hatte sich, seit er heimgekehrt war, verändert. Leider nicht zum Guten. In nur zehn Tagen war noch hagerer geworden. Sein Gesicht war bleich, der Blick seines einen Auges unstet. Seine Hand zitterte und wenn er durch die Gänge der Burg ging, sah er sich immer wieder nach einem vermeintlichen Verfolger um. Bei wichtigen Besprechungen geschah es oft, dass er einschlief. Gisulf beobachtete diese Entwicklung mit zunehmender Sorge. Wenn das so weiter ging, musste er noch sehr lange in Partiene bleiben. Oh Adira! Wie sehnte er sich doch nach ihr!
"Es ist zuviel auf einmal", sagte Hildrich jedes Mal. "Ich bin das nicht gewöhnt." Dann ging er zu einer der Frauen, die Gisulf als willig bezeichnet hatte. Niemals ließ er eine davon in seine Gemächer.
"Geh mir aus dem Weg, Gisulf!", schrie Hildrich. "Ich bin in Eile. Atto soll mein Pferd satteln!" Damit stürmte er an seinem Bruder vorbei die Treppe hinunter.
In der Tür zum Arbeitszimmer stand Anduin. Der rundliche Verwalter machte ein denkbar unglückliches Gesicht. "Vielleicht sollte der Graf zuerst einmal gesund werden", meinte er. "Er bemüht sich sehr, scheint aber von all dem überfordert."
Ja, Anduin hatte Recht. Hildrich sah krank aus.
"Ich habe ihn schon oft gebeten, zu unserem Heiler zu gehen", antwortete Gisulf verdrossen. "Aber er geht Rogin regelrecht aus dem Weg. Das Einzige, das er bisher gelernt hat, ist das Reiten. Pferde und Frauen, mehr interessiert ihn nicht."
Anduin biss sich auf die Lippen. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten zugestimmt hätte. Statt dessen machte er einen Schritt zur Seite und ließ Gisulf eintreten. "Was soll nur aus Partiene werden?", seufzte er. "Der Graf kann nicht einmal seinen Namen schreiben."
Gisulf erblickte auf dem Tisch ein Blatt Papier mit unleserlichem Gekritzel. In seiner Erinnerung tauchte ein Bild auf. Sie waren beide noch Knaben und Anduin, der auch ihr Lehrer war, schalt Gisulf wegen seiner krakeligen Schrift. "Nimm dir ein Beispiel an Hildrich!", hatte er gesagt. Was hatte Taifalen nur aus seinem Bruder gemacht? Nein, nicht Taifalen, korrigierte er sich, es war der alte Ragilo.
"Er ist Rechtshänder", murmelte er.
"Bitte, Herr", kam Anduin nun zum Geschäft. "Hier habe ich die Listen der abgelieferten Spinnenseide. Es ist einfach unmöglich, dass einer der Weber einen Teil seiner Produktion unter der Hand verkauft hat. Er hätte Tag und Nacht arbeiten müssen. Abgesehen davon, dass die Spinnen auch nur eine begrenzte Leistung haben."
"Das ist eine gute Nachricht", kommentierte Gisulf. "Woher kann Tulga dann die Spinnenseide gehabt haben? Glaubst du, Vater hat vielleicht doch den Spion bezahlt?"
"Ich führe die Bücher seit mehr als dreißig Jahren", erklärte Anduin stolz. "Das hätte er vor mir nicht verbergen können."
"Woher hatte Tulga dann die Spinnenseide?"
"Von einem der Herrscher, denen wir sie verkaufen", sprach Anduin Gisulf Befürchtung aus. "Wir liefern Spinnenseide als Steuer direkt an den Königshof. Das sind 10% unserer Produktion. Arvane hat bis jetzt ebenfalls 10% bekommen, als Entgelt für die Kontrolle des Waffenstillstands. 25% bleiben im eigenen Land und den Rest haben wir nach Anfrage verkauft."
"Wer hat in den letzten Jahren die größten Kontingente übernommen?"
Anduin runzelte die Stirn. "Ich kann eine Aufstellung machen", meinte er. "Über alle zwanzig Jahre?"
"Ja, ich ...."
Schritte trampelten über den Gang, dann stürzte Hildrich in den Raum, gefolgt von einem arg zerzausten Soldaten. "Es gibt Krieg!", keuchte er atemlos.
"Was?" Gisulf sprang auf. "Warum Krieg? Mit wem?"
"Mit Taifalen natürlich." Hildrich ließ sich in einen Stuhl fallen und kicherte in sich hinein. "Frage ihn!"
"Wir haben doch eben erst Frieden geschlossen!", rief Gisulf und wandte sich an den Soldaten. "Was ist geschehen?"
Der Mann schwankte vor Erschöpfung. Er trug einen Arm in der Schlinge und seine Kleidung war arg zerrissen. "Ich bin Hauptmann Duran von der Grenztruppe. Wir waren auf Patrouille als wir aus dem Hinterhalt angegriffen wurden. Meine drei Kameraden waren sofort tot. Ich bekam einen Pfeil in den Arm und stürzte vom Pferd. Ich war von dem Sturz benommen und blieb liegen. Das rettete mir das Leben. Denn die Taifaler kamen aus dem Gebüsch und raubten uns aus. Mich hielten sie für tot. Sobald sie weg waren, fing ich eins der Pferde ein und ritt hierher." Der Bericht hatte offenbar seine letzte Kraft gekostet, denn er taumelte gegen die Wand und rutschte daran herunter.
"Wie konntest du erkennen, dass es taifalische Soldaten waren? Es könnten doch auch Räuber gewesen sein"; wollte Gisulf wissen.
"Sie trugen die taifalische Muschel auf ihren Helmen, Herr", war die Antwort.
"Wir erklären ihnen den Krieg!", rief Hildrich. "Endlich kann ich mich rächen für alles, was sie mir angetan haben!" Dabei schüttelte er seinen rechten Arm.
"Nein, Bruder!", sagte Gisulf hart. "Wir haben einen Friedensvertrag unterschrieben."
"Ich habe ihn nicht unterschrieben"; wandte Hildrich ein. "Außerdem haben sie ihn gebrochen."
"Ich habe den Vertrag in deinem Namen unterschrieben", erklärte der Jüngere. "Er ist für dich genauso bindend. Und darin steht, dass jede Vertragsverletzung dem König oder einer autorisierten Person gemeldet werden muss. Wir werden Herzog Sesuald benachrichtigen und ein Treffen mit Taifalen verlangen." Sehr ernst schüttelte er den Kopf. "Acht Jahre lang herrschte Krieg und dann zweiundzwanzig Jahre Waffenstillstand. Wenn jetzt ein Krieg ausbricht, verlieren wir alles, was wir errungen haben."
"Wir sind stärker als Taifalen", behauptete Hildrich.
"Darauf kommt es nicht an." Gisulf seufzte. "Hast du den Vertrag nicht gelesen? Wenn wieder ein Krieg ausbricht, nimmt der König das Lehen zurück, Partiene genauso wie Taifalen. Bis zur neuerlichen Vergabe wird eine Interimsverwaltung eingesetzt. Willst du uns zu vogelfreien Bettlern machen?"
Hildrichs Kinnlade war herunter gefallen. "Das hast du unterschrieben? Bist du verrückt?"
"Ganz sicher nicht!", knirschte Gisulf. "Ich wollte endlich Frieden. Das war auch Ragilos Wille."
"Wenn Taifalen denselben Vertrag unterschrieben hat, warum haben sie uns dann überfallen? Sie müssten das doch auch wissen!"
"Wir müssen Sesuald benachrichtigen", erklärte Gisulf. "Es ist nun deine Aufgabe, Hildrich, einen Bericht zu verfassen."
"Ich kann das nicht!", rief der Ältere weinerlich. "Mach du es doch. Ich kann nicht schreiben. Mein Kopf ist ganz wirr von all diesen Ereignissen. Ich brauche Ruhe." Bevor ihn jemand aufhalten konnte, rannte er hinaus und wenig später hörten sie Hufgetrappel im Hof. Duran hockte noch immer am Boden und starrte dumpf vor sich hin. Gisulf half ihm auf die Beine und führte ihn zu Rogin.
Dann ging er zu Anduin und ließ sich eine alte Chronik aushändigen. Der Verwalter war auch der Chronist Partienes, der alle besonderen Vorkommnisse festhielt. Damit zog er sich in seine Gemächer zurück. Was er darin fand, bestätigte einen Verdacht, der schon eine Weile in seinem Hinterkopf gelauert hatte. Gisulf seufzte. Jetzt hatte er das dringende Bedürfnis, mit Adira zu sprechen. Den Bericht an Sesuald konnte er später verfassen. Der angekündigte Bote war auch noch nicht erschienen. Es gab eine Menge mit ihr zu besprechen. Sorgenschwer holte er den Spiegel hervor.
"Adira!", bat er. "Ich muss dringend mit dir sprechen!" Lange sah er nur sein eigenes Gesicht. Dann zog sich ein Schleier darüber und Adiras Antlitz erschien.
"Ich habe vor kurzem versucht, dich zu erreichen", begrüßte sie ihn. "Gisulf, es ist soviel geschehen!"
Obwohl ihm einiges auf der Zunge brannte, forderte er sie auf, zuerst zu erzählen. Mit wachsender Erregung lauschte er ihrem Bericht.
"Es ist tatsächlich ein Komplott", meinte er düster und fügte nun die letzten Ereignisse in Partiene hinzu. Nur über Tillas Schicksal verlor er kein Wort. "Warum sollten wir einen Boten mit einer weißen Fahne töten?", fragte er abschließend.
"Aus dem gleichen Grund, warum wir Schießübungen auf partienische Soldaten machen", brummte sie. "Hast du nicht die neuesten Nachrichten aus Kenosha gehört? Zwischen Arvane und Caerona kriselt es und in Nieder-Baudion treiben Räuber ihr Unwesen. Vielleicht ist unser Problem nur ein Teil einer großen Intrige, die ganz Baudion betrifft."
"Das wäre möglich", gab Gisulf zu. "Aber wir müssen uns um unsere eigenen Probleme kümmern. Vergifteter Wein", sinnierte er. "Vielleicht sollte ich unsere Vorräte auch überprüfen lassen. Soviel ich mich erinnere haben auch wir Wein aus Arvane in unserem Keller. Es fällt mir nur schwer zu glauben, dass der Herzog ..." Er brach ab und ließ den Rest ungesagt. Es war zu ungeheuerlich.
"Sesuald hätte einen Vorteil", überlegte sie. "Er kassierte immerhin seit 22 Jahren 10% unserer Perlen. Mit dem Friedensschluss hat das ein Ende."
"Er bekam auch 10% unserer Spinnenseide", fügte Gisulf hinzu. "Ich habe ihn sechsmal bei den Verhandlungen erlebt. Er hat sich wirklich bemüht, einen Weg zu finden, mit dem wir beide leben können. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber dein Vater war wahrlich nicht kooperativ. Der Herzog postierte immer zwei Krieger an seine Seite um zu verhindern, dass er mir an die Kehle ging. Und das versuchte er in den ersten drei Jahren mit all seinen Kräften, obwohl es ihm schon damals schlecht ging. Später war er zu schwach, aber der Wille dazu war nicht gebrochen."
"Ich weiß, mein Vater war ein Mann, dessen Zorn rasch entflammte. Woran litt er, weißt du es?"
Gisulf zögerte. "Es hieß, er litt an einer schwärenden Wunde. Deshalb trank er wohl auch soviel. Das lindere den Schmerz, sagte er einmal. Er hatte immer ein Fässchen Wein dabei, wenn er zu den Verhandlungen kam."
"Wein aus Arvane." Adira rieb nachdenklich ihre Schläfen. Was hatte Rogin über die Wirkung von Aetoli gesagt? Die Berauschten kämpften wie Berserker und sie fühlten keinen Schmerz. "Wenn es nicht Sesuald war, wer könnte noch Interesse daran haben, dass es keinen Frieden zwischen Partiene und Taifalen gibt?"
Gisulf beugte sich vor. Die Narbe in seinem Gesicht war gerötet, weil er die ganze Zeit daran gerieben hatte. Immer, wenn er an einem Problem knabberte, musste seine Narbe herhalten. "Vielleicht ist es jemand in seiner Umgebung", vermutete er.
"Einer aus seiner Familie?" Adira legte überlegend den Kopf schief.
"Sesuald hat drei Söhne", erklärte Gisulf. "Rikimer, der Älteste, wird nach ihm Herzog. Aber Dumias und Orsines, die Zwillinge? Eine Zeitlang haben sie am Hof gedient. Dumias war einige Jahre Botschafter auf den Südinseln. Jetzt begleiten sie ihren Vater zu diplomatischen Missionen. Man sagt, sie streben ein höheres Amt in der Nähe des Königs an. Nun ja, wir sollten das im Hinterkopf behalten. Nun aber etwas Anderes. Nach unseren Chroniken gab es keinen Grenzzwischenfall vor zwanzig Jahren. Vater fiel aus allen Wolken als der Bote die Hand meines Bruders brachte. Natürlich hat er nach dem Grund für so eine grausame Maßnahme geforscht. Er befragte eine Reihe von Soldaten, die an der Grenze dienten. Alle haben geschworen, dass seit dem Waffenstillstand alles ruhig war. Das Land war verwüstet. Die wenigen Bauern sind ins Landesinnere gezogen. Und für Räuberbanden ist eine verwüstete Ebene mit vergifteten Brunnen ein denkbar schlechter Unterschlupf."
"Noch ein Rätsel", stellte Adira fest. "Gisulf, wir werden uns bald wiedersehen. Es tut mir nur Leid, dass der Anlass dazu so ernst ist. Herzog Sesuald hat Ragilo zu einem Treffen befohlen und er will auch mich dabei haben. Er wird wohl auch dich und deinen Bruder zu sich zitieren."
"Vielleicht können wir dann endlich alles klarstellen, mein Liebes." Gisulf küsste das Gesicht im Spiegel. Als er die Hand wieder senkte, zeigte das Glas nur sein eigenes Gesicht. Er verbarg den Spiegel, weil es an der Tür klopfte. Ein Diener meldete ihm die Ankunft eines arvanischen Boten. Gisulf lief in das kleine Erkerzimmer gleich neben der Eingangshalle. Es war üblich, Boten dort zu empfangen.
Ein schlaksiger Jüngling, kaum dem Knabenalter entwachsen, wartete dort auf ihn. Als Gisulf eintrat, verbeugte er sich respektvoll.
"Ich bin Valmein, Bote der arvanischen Friedenstruppen zwischen Partiene und Taifalen. Baron Thulun sendet mich", stellte er sich vor.
"Welche Nachricht bringst du mir?", begrüßte ihn Gisulf.
"Die Nachricht ist für Graf Hildrich bestimmt", sagte der Junge unsicher.
"Der Graf ist in dringenden Geschäften unterwegs", erklärte Gisulf. "In seiner Abwesenheit nehme ich seine Pflichten wahr. Ich habe dies ja auch in den letzten sechs Jahren getan."
"Äh, ja ..." Mit einer Verbeugung überreichte ihm der Bursche eine versiegelte Schriftrolle.
Der rote Lack zeigte den Falken Arvanes. Der Herzog hatte schnell reagiert. Gisulf brach das Siegel. Zwei beschriebene Bögen lagen hintereinander. Einer war ein Befehl. Er und sein Bruder wurden unverzüglich zu einer Unterredung an der Grenze zwischen Partiene und Taifalen beordert. Der andere berichtete über den Tod von vier partienischen Soldaten durch eine Gruppe taifalischer Krieger. Vier Tote? Interessant, dachte Gisulf.
Er klingelte einem Diener. "Ich werde eine Antwort verfassen", versprach er. "Inzwischen wird dich mein Diener in die Küche führen, damit du dich erfrischen kannst." Schnell lief er zu Anduin. Nun konnte der Arvaner seine Botschaft mitnehmen, eine andere Botschaft als ursprünglich geplant.
Der Himmel war von tief hängenden, dunklen Wolken bedeckt. Ein scharfer Wind ließ die Reiter frösteln. Es roch nach Regen und Herbstbeginn.
Wieder näherte sich Adira der Grenze Taifalens. Diesmal von der anderen Seite und an ihrer Seite ritt ihr Bruder Ragilo. Adiras Haar hing in einem dicken Zopf bis weit über ihren Rücken. Der junge Graf ließ das seine offen hinter sich her wehen. Es war ja auch nur schulterlang. Vier Soldaten waren ihre Eskorte.
Als sie des Lagers ansichtig wurden, zügelten sie überrascht ihre Pferde. Weithin sichtbar flatterte das Delphinbanner König Jorgans über dem größten Zelt. Knapp darunter bauschte sich das Falkenbanner Arvanes im Wind. Daneben, in kleinerer Ausführung, winkte die Spinne von Partiene auf grünem Grund.
Adiras Herz schlug höher als sie das sah. Ein erwartungsvolles Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Als sie Ragilos Blick auf sich gerichtet fühlte, wurde sie wieder ernst.
"Freust du dich auf das Wiedersehen mit den Partienern?", fragte er erstaunt. In seiner Stimme schwang auch ein Funken Eifersucht mit.
"Sie haben mich nie schlecht behandelt. Vielleicht glaubst du mir endlich!", schnappte sie, denn sie fühlte sich ertappt.
"Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll", brummte er erstaunlich friedlich. Seit er keinen Wein mehr trank, hatte sich sein heißes Temperament sichtlich abgekühlt. Allerdings war er jetzt griesgrämig, denn die Lieferung aus Caerona, einem Weingebiet, das im Südwesten an Taifalen, grenzte, ließ auf sich warten.
"Gisulf ist ein guter Gesprächspartner", sagte sie möglichst beiläufig.
"Ich habe ihn nur einmal gesehen", gab Ragilo zu. "Da machte er auf mich einen vernünftigen Eindruck. Ich möchte nur wissen, warum der König hier ist."
Darüber machte sich auch Adira Gedanken. Während sie sprachen hatten sie das Zeltlager erreicht und saßen ab. Ein Krieger mit dem arvanischen Falken auf dem Helm wies ihnen einen Platz an, wo sie ihr Zelt aufschlagen sollten. Er war in angemessener Entfernung von dem Lager der Partiener. Arvanische Soldaten hatten den Befehl, über die Einhaltung des Friedensvertrags noch ein Jahr zu wachen.
Adira sah die Brüder im Gespräch beisammen stehen. Sie wirkten beide müde, Hildrichs Gesicht war krankhaft bleich. Bald kam ein Diener und bat sie in das Beratungszelt.
Der König saß in einem Klappstuhl an der schmalen Seite eines rechteckigen Tisches. Er war ein großer, breiter Mann um die Sechzig. Bart und Haare waren grau und dicht. Trotz seines Alters strahlte er Kraft und Macht aus. Seine Kampfkraft mochte in den Jahren nachgelassen haben, aber er schien noch durchaus ein gefährlicher Gegner zu sein. Um seinen linken Ringfinger wand sich der silberne Delphin, ein magischer Ring, der ihn vor jedem Angriff, sei es durch Waffen oder Magie, schützte.
Hinter ihm stand eine schwarz gekleidete Gestalt, sein Hofmagier Dengor. Aus der Kapuze seines Umhangs leuchtete das bleiche Gesicht mit den roten Augen wie eine Ankündigung drohenden Unheils. Niemand wusste, woher er kam. Doch der König vertraute ihm offenbar. Nach anfänglichen Widerständen hatte sich auch der Rat der Edlen mit ihm arrangiert, schon weil Dengor ein mächtiger Magier war.
Neben dem König hatte Herzog Sesualds Platz genommen. Sein Gesicht war gelblich und unter seinen Augen dunkle Ringe. Trotzdem hielt er sich gerade. Was war ihm widerfahren? Noch vor wenigen Wochen hatte er gesund und kräftig gewirkt.
Gisulf und Hildrich hatten bereits an einer der langen Seite Platz genommen. Die Taifaler setzten sich ihnen gegenüber. Auch sie wirkten verwirrt über die Anwesenheit des Königs. Gern hätte Adira ein paar Worte mit Gisulf gewechselt, doch das war jetzt nicht möglich. So blieb es bei einem Blick. So wandte sie sich dem König zu. Da sah sie, dass Sesualds Söhne ebenfalls anwesend waren. Sie saßen im Hintergrund des Zeltes neben einander. Einer von ihnen hatte etwas in der Hand, was es war, konnte die Wassermagierin nicht erkennen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sie unterscheiden konnte, so ähnlich sahen sie einander, zumal sie auch noch gleich gekleidet waren.
Jorgan räusperte sich und alle Gesichter wandten sich ihm zu. "Ich hielt in Estorz Hof als mich die Nachricht von neuerlichen Kriegshandlungen zwischen Partiene und Taifalen erreichten. So habe ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Eure Väter haben mir den Großteil meiner Herrschaft mir ihren Streitereien vermiest. Nun scheint es, dass ihr diese üble Tradition fortführen wollt. Hier und jetzt werde ich über die Zukunft der Grafschaften Partiene und Taifalen entscheiden." Sein Blick ruhte zuerst kurz auf Gisulf, dann auf Ragilo. Beide senkten den Kopf und der König wandte sich mit einem zornigen Schnauben den Papieren zu, die vor ihm auf dem Tisch lagen. "Ich habe derzeit wahrlich genug Ärgernisse", brummte er, mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden.
Jetzt begriff Adira. In letzter Zeit hatten sich die beunruhigenden Nachrichten gehäuft. Räuberbanden in Nieder-Baudion, eine obskure Sekte, die die Wirtschaft in Kenosha lahm zu legen drohte, Grenzstreitigkeiten zwischen Caerona und Arvane. Vermutlich war er wegen Letzterem in Estorz, der Hauptstadt Arvanes, gewesen.
"Zwei Beschwerden sind in der letzten Woche fast gleichzeitig zu mir gekommen", fuhr Jorgan fort. "Graf Hildrich von Partiene meldete den Tod von vier Soldaten durch einen hinterhältigen Überfall Taifalens. Graf Ragilo von Taifalen klagt über den Tod eines Friedensboten durch partienische Soldaten. Graf Hildrich, was hast du zu der Klage Taifalens zu sagen?"
"Ich ... ich weiß nicht", stotterte dieser. "Mein Bruder gibt die Befehle. Ich bin ja erst seit wenigen Wochen in Partiene." Dann streckte er seinen verstümmelten Arm dem König entgegen. "Sieh, was sie mir angetan haben! Habe ich dafür nicht Rache verdient?"
"Darüber haben wir schon gesprochen", schaltete sich der Herzog nach einem kurzen Blickwechsel mit Jorgan ein. Seine Stimme klirrte schier vor Kälte.
"Sprich, Gisulf!", forderte Jorgan den Partiener auf.
"Unsere Soldaten haben Befehl, alle Personen, die von Taifalen kommen anzuhalten und nach ihrem Begehr zu fragen", erklärte nun Gisulf. "Falls jemand ins Land reisen will, wird er zur Burg eskortiert. Sie dürfen einen Angriff abwehren, aber es ist ihnen strikt untersagt, selbst anzugreifen."
Jorgan drehte sich zu Sesualds Söhnen um. "Bringt den Zeugen."
Einer der Männer erhob sich und verließ das Zelt. Schon bald kam er wieder mit einem alten Mann. Eine Laute hing über der ausgemergelten Schulter. "Das ist Kabo, der Sänger", sagte er.
"Was hast du gesehen?", forderte ihn der König auf.
Der Mann warf einen Blick auf Dumias, oder war es Orsines? "Ich kam durch das tote Land zwischen Taifalen und Partiene", begann er mit volltönender Stimme, die seinen gebrechlichen Körper Lügen strafte. "Partienische Soldaten begleiteten mich bis zur Grenze nach Arvane. Als wir rasteten, schloss ich die Augen, weil die Sonne mich blendete. Da wähnten sie mich schlafend und sprachen frei. Es ging um ein Kopfgeld für jeden getöteten Taifaler, das der Graf ausgesetzt hatte. Sie waren begierig, es zu verdienen."
"Das ist eine Lüge!", rief Gisulf aufgebracht. "So einen Befehl habe ich nie gegeben!"
"Du bist auch nicht der Graf", sagte Jorgan kalt und sah Hildrich an.
Der duckte sich unter dem Blick wie unter Schlägen. "Ich war es nicht, Majestät! Glaube mir!", winselte er
Jorgan wandte sich wieder an Kabo. "Hast du noch mehr gehört, Sänger?"
"Sie sprachen voll Neid von einer Patrouille, die sich diese Prämie schon verdient hatte."
Adira sah Gisulf voll an und er hob in hilflosem Zorn die Schultern. Auf einen Wink Jorgans verließ der Sänger das Zelt. Schwere Tropfen klatschten auf die Leinwand. Das Unwetter brach nun mit Urgewalt über das Lager herein. Der Sänger würde nass werden, sehr nass. Gisulf freute sich mit boshafter Befriedigung darüber, denn er war überzeugt, dass der Mann log.
"Bringt den nächsten Zeugen", befahl der König.
Diesmal wurde ein kleiner, dicker Mann herein geführt.
"Das ist Perk", stellte ihn ein Sohn Sesualds vor. "Ihm gehört die Kneipe in Algoma."
"Was hast du zu sagen?", forderte ihn Jorgan zum Sprechen auf.
"Du musst wissen Herr, dass Partiener oft meine Gäste sind, wenn ihr Dienst es erlaubt. Mein Gasthaus ist das Erste hinter der Grenze." Perk richtete sich stolz auf. "Ich braue das beste Bier von Arvane."
"Sprich endlich. Dein Gesöff interessiert mich nicht", fuhr ihn der König ein.
Perk sank in sich zusammen. "Eine Gruppe Partiener kamen vor kurzem in mein Haus. Sie waren diesmal besonders lustig. Alle Gäste hielten sie frei und prahlten, dass sie die Ersten seien, die sich das Kopfgeld, das für Taifaler ausgesetzt sei, verdient hätten."
"Womit zahlten sie?", fragte Gisulf schnell und erntete damit einen strafenden Blick von dem König.
"Mit Spinnenseide, Herr." Der Wirt langte in sein Hemd und holte eine kleine Rolle Borte heraus. "Ich hatte noch keine Zeit, sie zu Geld zu machen."
Ja, es war Spinnenseide. Obwohl das feine Gespinst etwas verschmuddelt aussah, war der Perlmuttglanz unverkennbar. Gisulf setzte zum Reden an, doch Jorgan gebot ihm Schweigen. Grimmig presste er die Lippen aufeinander. Eine königliche Handbewegung scheuchte den Wirt in den Regen.
"Graf Gisulf, was hast du zu den Vorwürfen an dich zu sagen?", wandte sich Jorgan an den Partiener.
"Vollkommen aus der Luft gegriffen", antwortete er knapp. "Warum sollte ich einen Friedensvertrag unterschreiben und ihn gleich kurz danach brechen?"
"Das frage ich mich auch", kommentierte der König trocken. "Nun hören wir die Zeugen des anderen Vorfalls."
Einer von Sesualds Söhnen öffnete die Zeltklappe und winkte. Ein hochgewachsener Krieger trat ein. Sein Wams schmückte der arvanische Falke. Wasser troff aus seinem schulterlangem Haar. Sein schmales Gesicht war bleich und auf der Stirn hatte er eine halb verheilte Platzwunde.
"Das ist Baron Thulun", stellte ihn der, der ihn gerufen hatte, vor. "Er ist unser Beobachter bei den partienischen Grenztruppen. Seine Aufgabe ist, gelegentlich Patrouillen zu begleiten."
"Sprich, mein Vasall", forderte ihn Sesuald auf.
"Ich habe die Patrouille begleitet, die von Taifalern überfallen wurde. Sie schossen aus dem Hinterhalt. Die vier Partiener waren sofort tot. Ein Pfeil streifte meinen Kopf und ich fiel benommen vom Pferd. Da kamen sie aus dem Gebüsch und raubten die Toten aus. Auch mich, denn sie hielten mich ebenfalls für tot. Das sei die Rache für die geschändete Grafentochter, sagten sie und dass dies erst der Anfang wäre." Anklagend hob er die Hand und wies auf Ragilo. "Der da war ihr Anführer!"
Empört sprang der junge Graf auf. "Das ist gelogen! Ich habe die Burg in den letzten Wochen nicht verlassen. Meine Frau ..."
"Du hast den Toten die Kehlen durchgeschnitten", unterbrach ihn Thulun. "Mit diesem Dolch, den du verlorst als du mit deinen Kumpanen die Flucht ergriffst. Denn arvanische Krieger näherten sich." Er warf einen Dolch auf den Tisch, in dessen Griff eine große Perle eingearbeitet war.
"Ist das dein Dolch?", fragte Jorgan streng.
Ragilo war bleich geworden. "Ja", sagte er tonlos. "Aber ich ..."
"Bringt die Zeugin", unterbrach ihn nun Jorgan.
Der Baron verließ das Zelt und eine Frau in den Vierzigern betrat es dafür. Sie war stark geschminkt, doch konnte sie dadurch nicht die Zeichen des Alters verbergen.
"Das ist Hellonia", wurde sie vorgestellt. "Sie hat ein Hurenhaus nahe der Grenze von Taifalen. Taifalische Soldaten machen den Großteil ihrer Kunden aus."
"Vergnügungsetablissement", verbesserte die Frau.
"Wie auch immer", knurrte der König und seufzte. Neben ihm stützte Sesuald seinen Kopf schwer auf seine Rechte. Adira fand, dass er recht müde wirkte.
"Seit einiger Zeit kommen die Taifaler seltener zu mir", begann sie ihren Bericht. "Aber vor kurzem war eine schöne Gruppe da. Grund zum Feiern, sagten sie. Endlich hätten sie es den Partienern gezeigt. Niemals würden sie vergessen, was diese Hunde ihrer Gräfin angetan haben." Sie sah Ragilo lächelnd an. "Die kleine Wisgarda war ganz begeistert von deinem langen ...."
"So eine Frechheit!", ereiferte sich Ragilo. "Ich bin meiner Frau immer treu gewesen!"
"Damit hast du bezahlt!", schrillte sie und hielt ihm eine Handvoll Perlen unter die Nase.
"Das reicht." Der König wedelte die Frau hinaus. "Der einzige Unterschied zu euren Vätern ist, dass ihr euch nicht gegenseitig beschuldigt. Geht in eure Zelte. Ihr habt bis morgen Zeit, eure Aussagen zu überdenken."
Sofort waren arvanische Soldaten zur Stelle. Jeweils vier umringten eine Partei und führten sie hinaus. Gisulf sah sich nach Adira um, aber die Arvaner schoben ihn energisch zu seinem Zelt. In höchstem Grade unzufrieden setzte er sich auf eins der Lager, die seine Soldaten inzwischen für sie bereitet hatten.
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Es war fast dunkel durch die dichte Wolkendecke und den nahenden Abend.
Auch Hildrich hatte sich gesetzt. Sein Gesicht war ein helles Oval im Dunkel des Zelts.
"Hast du ein Kopfgeld auf Taifaler ausgesetzt?", fragte ihn Gisulf.
"Nein." Hildrich hob seine Hand dem Bruder entgegen. "Sie würden mir doch nie gehorchen. Sieh mich doch an!"
"Du bist der Graf", erinnerte ihn sein Bruder. "Hast du irgendetwas gesagt, das so aufgefasst werden könnte?"
"Ich habe die Taifaler verflucht", gab er zu. "Jedes Mal, wenn ich einen Diener brauchte um meine Kleider zu ordnen, nachdem ich meine Notdurft verrichtet hatte. Aber ich habe niemandem ein Kopfgeld versprochen. Die Krieger und noch andere ... Leute haben mir bestätigt, dass Adira kein Leid geschah. Es war eine elende Intrige. Obwohl mein Herz nach Rache dürstete, wollte ich den Weg unseres Vaters gehen. Er war in den letzten sechs Jahren doch auch der deine. Gisulf, glaube mir, ich will ein guter Graf sein. Ich will alles wieder gutmachen, was ich damals ..." Er ließ sich zurück sinken. "Ich bin so müde, Bruder Einmal ausschlafen, nur ein einziges Mal!"
"Du bist krank, Hildrich", sagte Gisulf. "Rogin könnte dir helfen, wenn du ihn ließest."
"Mir kann keiner helfen", klang es leise aus den Decken. "Lass mich doch schlafen."
"Du hast noch nichts gegessen seit der letzten Mittagsrast."
"Ich will nur schlafen!", greinte Hildrich nun. "Kannst du nicht verstehen, dass ich müde bin?"
Müde? Und wie! Gestern früh waren sie aufgebrochen. Hildrichs neu erworbene Reitkunst hatte einen scharfen Ritt gestattet. So hatten sie drei Viertel der Strecke an einem Tag geschafft. Gisulf war müde auf sein Lager gefallen und gleich eingeschlafen. Nicht so sein Bruder. Seine Decken waren am nächsten Morgen unberührt. Gisulfs Fragen, warum er sich nicht hingelegt habe, wich er beharrlich aus. Als sie die Grenze erreichten, hing er so müde im Sattel, dass Gisulf fürchtete, er könnte jeden Moment herab fallen. Die Zeit, bis die Taifaler erschienen, verbrachte er dösend an seinen Sattel gelehnt. Diese Besprechung hatte offenbar seine letzten Kräfte gekostet. Ein Krieger brachte kalten Braten und Brot nebst einer Kanne Glühwein. Unsicher sah er auf den Schlafenden.
"Der Graf ist sehr müde", sagte Gisulf seufzend und nahm dem Mann die Sachen ab.
Wieder in ihrem Zelt, sah Adira ihren Bruder an. So fern von der Burg und allen ihm vertrauten Menschen, schmolz der Abstand zwischen den Geschwistern. Sie wusste, dass es eine Notgemeinschaft war. Zusammen hatten sie mehr Chancen als jeder allein.
"Was ist mir dem Dolch?", fragte sie.
Ragilo zuckte mit den Schultern. "Ich habe ihn verloren, vor mehr als einem Jahr. Du weißt doch, dass der Kerl gelogen hat. Außerdem, ich war nie in einem Hurenhaus, auch nicht vor meiner Eheschließung mit Egeria."
"Ich glaube dir, Bruder", antwortete sie schlicht. "Wo hast du den Dolch verloren?"
"Ist das so wichtig? Es ist schon so lange her."
"Ragilo, du bist kein alter Mann, der zu Mittag nicht mehr weiß, was er zum Frühstück gegessen hat!", hielt sie ihm vor. "Es ist doch nicht schändlich, etwas zu verlieren."
Der junge Graf starrte angestrengt auf seine Stiefelspitzen. "Doch, es war schändlich. Diesen Dolch hat mir Vater zur Weihe meiner Mannbarkeit geschenkt", flüsterte er. "Jahre später, ich war längst verheiratet, war Jahrmarkt unten am Fluss. Ich ging mit ein paar Kriegern hinunter. Wir spielten und tranken zuviel ..."
"Du hast den Dolch im Spiel verloren? Warum hast du ihn nicht wieder zurück gekauft?", wunderte sich Adira.
"Das war nicht mehr möglich. Der Mann wollte ihn mir für zwanzig Perlen wieder geben." Unglücklich sah er seine Schwester an und senkte dann beschämt den Kopf. "Gleich am nächsten Morgen suchte ich ihn, konnte ihn aber nicht mehr finden. Könnte ich das nur ungeschehen machen! Egeria verweigerte sich mir eine ganze Woche, weil ich betrunken zu ihr gekommen war. Vater machte mir die Hölle heiß wegen des Dolchs und jetzt taucht er bei diesem Arvaner auf."
"Spätestens jetzt wüssten wir, dass es eine von langer Hand geplante Intrige ist", kommentierte Adira trocken. "An wen hast du den Dolch verloren? Doch nicht etwa an Tulga?"
"Nein, nicht Tulga. Er sagte, er sei aus Caerona. Aber Tulga hat an dem Spiel auch teilgenommen." Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. "Es ist eine Schande für mich, ganz gleich, was ich dem König sage."
"Geschickt eingefädelt." Sie zog ein Tablett mit kalten Speisen, das ihre Männer bereit gestellt hatten, näher heran. "Wir können jetzt nichts tun", meinte sie. "Außer essen und danach zur Ruhe gehen."
"Wenn Sesuald erfährt, dass wir jahrelang vergifteten Wein bekommen haben ...", überlegte er.
"...würde er uns nicht glauben. Der Wein kommt direkt von seinen Gütern." Wütend biss sie in eine Hühnerkeule. Da fühlte sie Ragilos Blick auf sich. "Nun, was ist?", fragte sie irritiert.
"Da ist doch etwas zwischen dir und Gisulf", warf er ihr vor. "Wie du ihn angesehen hast, könnte man denken ..."
Glühende Röte schoss ihr ins Gesicht. "Ja", sagte sie leise. "Er hat mir die Spinnenseide geschenkt. Er wirbt seit einem Jahr um mich. Aber ich wollte keine politische Heirat. So verschloss ich meine Gefühle. Erst als ich Partiene verlassen musste, wurde mir klar, was er mir bedeutet." Sie hob um Entschuldigung heischend die Hände.
"Wir könnten dem König sagen, dass du mit Gisulf verlobt bist", überlegte Ragilo. "Ich würde doch meinen zukünftigen Schwager nicht angreifen!"
Aber sie zischte ein scharfes "Nein! So weit sind wir noch nicht." und dabei blieb es.
Im Laufe der Nacht hörte es auf zu regnen. Gisulf wurde immer wieder wach, weil sein Bruder im Schlaf laut sprach oder sich wild hin und her warf. Als der Morgen kam, fühlte er sich alles andere als ausgeschlafen. Hildrich lag mit grauem Gesicht auf seinem Lager und starrte ängstlich zu ihm hin. Seine Unterlippe zitterte als wollte gleich in Tränen ausbrechen.
"Was ist los, Hildrich!", rief Gisulf aus. "Du siehst furchtbar aus!"
"Es ist wieder geschehen", flüsterte der Ältere. "Wir sind so weit weg von der Burg und den Spinnen und doch ist es geschehen."
"Was ist geschehen?", fragte Gisulf leise und sanft.
Zögernd zog Hildrich die Decke von seinem knochigen Körper. Er trug nur sein Unterzeug. Das Hemd, das Lager und seine Hände waren blutbefleckt. "So erwache ich jeden Tag seit ...seit ..." Er brachte es nicht fertig, das Schreckliche auszusprechen.
"Tillas Mutter hat dich verflucht", stellte Gisulf trocken fest. "Sie hat das Zweite Gesicht. Das Blut des Mädchens soll über seinen Mörder kommen, sagte sie. Wie hast du das so lange verborgen?"
"Ich habe die Wäsche weg geworfen", gestand Hildrich zitternd.
"Und ich hielt es für eine Marotte, weil du immer bei den Schweinen schlafen musstest." Nein, auf so einen Gedanken wäre Gisulf nicht gekommen. "Du musst Buße tun für deine Tat, Hildrich", drang er in den Älteren. "Nur so wirst du den Fluch los."
"Aber wie kann ich ... Ich bin doch der Graf. Mein Volk wird mich verachten, wenn sie erfahren ...."
"Es muss niemand erfahren", beruhigte ihn Gisulf. "Die Diener Narbazes sind die besten Ärzte in Partiene und sie sind verschwiegen. Zuerst aber musst du Tillas Eltern die Tat gestehen."
"Nein, Gisulf!", rief der Ältere und hob abwehrend die Hand. "Das kannst du nicht von mir verlangen!"
"Dann wirst du weiterhin in ihrem Blut erwachen."
"Ich will nicht mehr leben. Hilf mir, Bruder. Ich habe schon versucht mir die Kehle durchzuschneiden, aber meine Linke ist so ungeschickt."
"Nein, ein Selbstmord tilgt deine Schuld nicht." Traurig sah er den früh Gealterten an. "Willst du ewig als ruheloser Geist durch die Gänge der Burg wandern?"
"Ich kann es nicht", jammerte Hildrich.
"Du kannst es, weil du musst", widersprach Gisulf. "Ich werde dir beistehen."
Wie ein ängstliches Kind schlang Hildrich seine Arme um den Bruder. "Verlass mich nicht, Gisulf", flüsterte er. "Ich habe doch nur dich auf der Welt."
Draußen waren die Stimmen von Männern zu hören. Pferde schnaubten. Das Lager erwachte.
"Bleib, wo du bist, Hildrich", sagte Gisulf schnell. "Ich sage dem König, dass du krank bist."
Hildrich nickte nur und wickelte sich wieder in seine Decken.
Wieder saßen sie im Beratungszelt. Zur Linken des Königs saß einer der Söhne des Herzogs. Seine Hände lagen locker auf dem Tisch und formten eine kleine Kuppel. Ab und zu hob er die Hände und Adira sah, dass eine kleine, graue Feder darunter verborgen lag. Immer wieder streichelte er den Flaum, zauste ihn und strich ihn wieder glatt.
Der Platz neben Gisulf blieb frei.
"Herzog Sesuald fühlt sich nicht wohl", hob der König nun an. "Sein Sohn Orsines ist bei ihm. Wo ist Graf Hildrich?"
"Mein Bruder ist krank, Majestät", gab Gisulf bekannt. "Ich werde in seinem Namen sprechen."
"Ich habe euch die Gelegenheit gegeben, die Sache zu überschlafen", hob der König nun an. "Wenn ihr jetzt die Wahrheit sagt, so will ich Gnade walten lassen. Sprich, Graf Ragilo!"
"Es ist wahr, dass unser Bote ermordet wurde", sagte der Graf. "Aber ich habe nie eine Rotte zu einem Vergeltungsschlag angeführt. Meine Frau hatte eine sehr schwere Geburt, einen Tag bevor mir der Tod des Boten gemeldet wurde. Ich habe die Burg nicht verlassen, schon gar nicht um in ein Hurenhaus zu gehen, wenn meine Frau mit dem Tode ringt." Seine Stimme war immer lauter geworden. Der Jähzorn seines Vaters flackerte in seinen Augen.
Adira legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm. Mit einem wütenden Zischen wandte er sich ihr zu. Unter ihrem Blick kühlte sich sein Feuer jedoch wieder ab.
Der König bedachte ihn mit einem tadelnden Stirnrunzeln und wandte sich Gisulf zu. "Was sagst du dazu, Graf Gisulf?"
"Eine Patrouille wurde angegriffen", begann dieser. "Es kamen auch einige meiner Männer zu Tode. Doch habe ich nie ein Kopfgeld auf Taifaler ausgesetzt."
"Kannst du beschwören, dass es dein Bruder nicht getan hat?", forschte Jorgan.
Gisulf zögerte keine Sekunde. "Ich bin sicher", bekräftigte er.
"Es ist wie bei ihren Vätern", meinte Dumias. "Der andere wird beschuldigt, die eigene Schuld abgestritten. Und so wird es in alle Ewigkeit weitergehen, bis beide Länder zerstört sind." Bei dieser Rede tanzte die Feder in seiner Hand auf und ab wie ein lebendes Wesen.
Adira erkannte, dass ihr Kiel zugespitzt war wie bei einer Schreibfeder und etwas Dunkles daran klebte. Gleichzeitig wunderte sie sich, dass der Arvaner sich so ohne weiteres in die Verhandlungen einmischte. Ja, er hatte einige Jahre am Hof des Königs verbracht. Stand er so gut mit dem Herrscher, dass er ungefragt seine Meinung äußern durfte?
Jorgan schien das nichts auszumachen. Nur ein schneller Blick aus den graublauen Augen des Königs traf Dumias. "Gisulf, bist du bereit, für den Tod des Friedensboten zehn Rollen Spinnenseide als Buße an die Krone zu zahlen und die Aussetzung des Kopfgeldes zu widerrufen?"
"Ich habe kein Kopfgeld ausgesetzt!", knirschte der Angesprochene.
Dumias zuckte scheinbar erschrocken zusammen. Eine Bewegung mit der Hand ließ die Feder über Jorgans Ärmel streichen.
Der König zögerte kurz und wandte sich an Ragilo. "Graf Ragilo, bist du bereit, für den Mord an vier Partieners vierhundert Perlen erster Güte als Buße an die Krone zu zahlen und der Vergeltung abzuschwören?"
"Es gab keine Vergeltung!", fuhr Ragilo zornig auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Wie oft soll ich das noch sagen!"
"Ihr Uneinsichtigen!", donnerte Jorgan nun. "So soll euch mein Zorn treffen! Die Grafschaften Partiene und Taifalen werden vorübergehend unter die Oberhoheit des Herzogtums Arvane gestellt, bis ich Würdigere gefunden habe. Die ehemaligen Grafen haben ihre Namensburgen samt ihren Familien bis zum nächsten Vollmond zu verlassen. Dieses Urteil fälle ich als rechtmäßiger Herrscher des Reiches Baudion."
Ragilo fuhr wütend hoch, doch seine Schwester drückte ihn wieder auf seinen Sitz. Da senkte er den Kopf und verbarg sein Gesicht in den Händen. Auch Gisulf war betroffen. Mit bleichem Antlitz starrte er den König an. Wie erstarrt saß auch Adira da.
Der Partiener fing sich als Erster. "Majestät, darf ich eine Gunst von dir erbitten?"
Die Miene des Herrschers war unbewegt. "Sprich!"
"Gewährst du mir die Gnade einer privaten Audienz?"
"Gewährt. Geh in dein Zelt. Ich werde dich rufen lassen."
Nun hob auch Ragilo den Kopf. Ein kleiner Hoffnungsschimmer glomm in seinem Blick. "Auch ich erbitte diese Gunst, Majestät."
"Gewährt. Für dich gilt dasselbe wie für Gisulf. Doch lasst jede Hoffnung fallen, mich umstimmen zu können. Das Urteil ist gefällt und bleibt bestehen." Ohne Umschweife stand er auf und verließ das Zelt.
Es dauerte nicht lange, da wurde Gisulf zum König gerufen. "Wir werden einen Spaziergang durch diese Einöde machen", eröffnete er ihm.
Sie entfernten sich von dem Lager. Dengor wollte sich wie selbstverständlich anschließen, doch Jorgan wies ihn mit einer energischen Geste zurück. Endlich außer Hörweite, forderte Jorgan ihn zum Sprechen auf.
"Herr, ich hege keinen Groll gegen Taifalen. Es gibt aber Indizien, die darauf hinweisen, dass eine Intrige im Gange ist, die uns von unserem Lehen vertreiben soll."
"Indizien?", fragte der Herrscher und sah Gisulf ernst an. "Das sind keine Beweise. Langweile mich nicht mit Vermutungen. Ich brauche Tatsachen."
"Baron Thulun hat gelogen, Majestät. Es wurden nur drei Partiener getötet. Der Vierte wurde nur verletzt und stellte sich tot. Dann floh er. Er berichtete von Soldaten, die das taifalische Wappen trugen. Graf Ragilo hat er nicht bei ihnen gesehen. Zwei Stunden nach meinem Mann kam ein arvanischer Bote und brachte mir diese Nachricht noch einmal. Der Brief mit der Botschaft sprach von vier Toten. Und hier wurde auch Ragilos Anwesenheit erwähnt."
"Das klingt tatsächlich nach einer Intrige", gab Jorgan zu. "Heißt das, du verteidigst deinen Feind?", fragte Jorgan nach.
"Ich verteidige die Wahrheit. All die Jahre hat ein Händler namens Tulga dem alten Ragilo weisgemacht, dass seine Tochter geschändet und misshandelt wird. Genau das Gegenteil war der Fall. Adira wurde gut behandelt. Wir wuchsen auf wie Geschwister. Leider glaubte der alte Ragilo dem Schurken und verstümmelte meinen Bruder. Trotzdem ist Hildrich bereit, den Weg des Friedens zu gehen. Ich habe einen Friedensvertrag unterschrieben. Fünfmal war ich bei Verhandlungen, einmal mit dem alten Ragilo. Vier Männer mussten ihn festhalten, damit er mir nicht an die Kehle ging. Sein Sohn ist anders. Obwohl auch sein Blut leicht aufwallt, kann er es doch im Zaum halten."
"Hm, hm", brummte der König. "Das klingt alles sehr phantastisch. Wer garantiert mir, dass du nicht nur Angst um dein Lehen hast?"
"Natürlich strebe ich danach, Partiene für meine Familie zu erhalten!", rief Gisulf aus. "Wenn es mir gelingt, den Intriganten zu entlarven, belehnst du uns wieder mit Partiene? Meine Familie hat der Krone vierhundert Jahre treu gedient." Fragend, bittend sah er den König an.
"Ich weiß, ich weiß", winkte dieser ab. "Halte dich bereit. Wenn ich mit Ragilo gesprochen habe, gebe ich dir meine Entscheidung bekannt."
Halb und halb zufrieden ging er zurück zu seinem Bruder. Hildrich lag eingewickelt auf seinem Lager und sah ihn erwartungsvoll an. Mit knappen Worten erklärte er ihm die Lage. Dann holte er einen Eimer voll Wasser und half dem Älteren, sich zu reinigen.
Ragilo rannte ungeduldig vor dem Zelt auf und ab. Endlich kam ein Gardist und befahl ihn zum König.
"Ich habe deinen Vater gut gekannt", eröffnete dieser das Gespräch. "Er war ein treuer Vasall, ein mächtiger Krieger und starker Trinker. Doch sein heißes Blut war am Ende unberechenbar. Wieviel hast du von ihm geerbt? Überlege dir genau, was du jetzt sagst und tust."
"Gewiss, Majestät." Ragilo senkte demütig den Kopf. "Ich bitte nur um deine Aufmerksamkeit. Ein Komplott hat mich meines Lehens beraubt."
"Ach, wirklich?" Jorgan stemmte die Hände in die Hüften und musterte den jungen Mann mit einem Anflug von Spott. Sie waren etwa gleich groß, aber der König brachte sicher um die Hälfte mehr Gewicht auf die Waage.
Ragilo biss sich auf die Lippen. Der ironische Ton des Herrschers hatte ihn geärgert. "All die Jahre, die Hildrich bei uns als Geisel war, kam ein Händler mit Namen Tulga zu uns. Er berichtete ..."
"Das kommt mir bekannt vor", wurde der junge Graf unterbrochen. "Graf Gisulf hat diesen Tulga auch schon erwähnt."
Verwirrt durch die Unterbrechung trat Ragilo von einem Fuß auf den anderen.
"Sprich weiter!", forderte ihn Jorgan auf.
"Äh..." Ragilo suchte nach dem verlorenen Faden. "Nun, Tulga sprach von Gräueltaten der Partiener gegen meine Schwester Adira. Vater bezahlte ihn, damit er für ihn spionierte. Jedes Mal erzählte er von größeren Schrecknissen. Mein Vater geriet in Wut und Hildrich musste es büßen. Als Adira dann zurück kehrte, bestritt sie, jemals schlecht behandelt worden zu sein. Nur eine Ausnahme gab es, als Vannio ihr den Finger abhackte. Langsam glaube ich ihr das auch. Sie hat Tulga nie in Partiene gesehen. Warum sollte Tulga Lügen erzählen, wenn nicht um uns gegen einander aufzuhetzen? Und warum wurde unser Wein mit Aetoli versetzt?"
"Aetoli im Wein?" Jorgans Miene war eindeutig ungläubig. "Bist du sicher?"
"Ja, Aetoli! Meine Priester haben es bestätigt. Und der Wein kam ausschließlich aus Arvane. Ja, es ist wahr, dass mein Vater ein Heißsporn war, aber das Aetoli machte einen hemmungslosen Wüterich aus ihm. Wir hätten schon viel früher Frieden haben können. Wie viele Perlen hat er an Tulga und Arvane verschwendet!" Ragilo fühlte den Zorn in sich hochsteigen. Er ballte in hilfloser Wut die Fäuste, dass die Knöchel knackten.
"Du beschuldigst den Herzog?", fragte der König streng.
"Ich weiß nicht, wer dahinter steckt. Der Herzog hat sich so sehr bemüht, einen guten Vertrag zu machen. Ich habe ihm geglaubt, dass er es ehrlich meint. Doch nun weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll."
"Ist dieser Tulga auch ein Arvaner?", wollte der König nun wissen.
"Das weiß ich nicht. Es gab nie eine Gelegenheit, ihn nach seiner Herkunft zu fragen. Wir nahmen an, er komme aus Caerona."
"Geh zurück zu deinem Zelt", befahlt der Herrscher. "Ich werde dich rufen lassen."
"Herr, wirst du mich wieder mit Taifalen belehnen, wenn ich dir den Schuldigen bringe?", rief Ragilo verzweifelt. "Meine Frau liegt noch immer im Kindbett darnieder und ich ..."
Nachdenklich strich der König über seinen Bart. "Du sollst eine Chance haben. Da auch Gisulf von einer Intrige sprach, ist mein Urteil, dass ihr zusammen nach dem Intriganten sucht und ihn zu mir bringt. Gelingt euch das nicht oder stellt sich eure Vermutung als falsch heraus, so sollen beide Familien für immer aus Baudion verbannt sein.
In wenigen Tagen werde ich nach Aditya zurück kehren. Bis zum Fest der Frühlingsgöttin werde ich dort bleiben. Wie ihr sicher wisst, befindet sich der Wahrheitsstein im Tempel der Mondgöttin. Bringt mir diesen Tulga. Auf ihm sollt ihr und auch er Zeugnis ablegen. Nun geh! Ich werde im Beratungszelt anders zu euch sprechen, denn niemand soll von dieser Sache wissen."
"Ich danke dir, Herr!" Ragilo wollte schon auf die Knie fallen, aber der König hielt ihn zurück.
"Lass das! Das halbe Lager sieht zu uns her. Bist du sicher, dass der Verbrecher nicht unter ihnen ist?" Jorgans Kinn deutete auf das Lager, wo die schwarze Gestalt Dengors die meisten Krieger überragte. "Schick mir Gisulf noch einmal."
Aufatmend entfernte sich Ragilo und tat wie geheißen. Der Wahrheitsstein in Aditya war ihre Chance.
Diesmal durften sie sich nicht setzen. Der König hatte hinter dem Tisch im Beratungszelt Platz genommen. An seiner Seite saß Herzog Sesuald. Blass und eingefallen sah er aus als könne er sich kaum am Stuhl halten. Ragilo wie auch Gisulf waren von je zwei arvanischen Kriegern flankiert.
Jorgan räusperte sich. "Ihr Beiden habt meine Geduld über Gebühr strapaziert", begann er in strengem Ton. "Ich habe es satt, ständig nur eure fadenscheinigen Beteuerungen zu hören. Ihr seid es nicht wert, der Krone weiterhin an einem derart verantwortungsvollen Platz zu dienen."
Gisulf setzte zum Sprechen an und die Soldaten neben ihm rückten näher. Die Hand des jungen, taifalischen Grafen zuckte zur Hüfte und fand nichts. Adira hatte ihn überzeugt, unbewaffnet zu der Unterredung zu gehen.
Finster blickend fuhr der Monarch fort: "Da eure Familien der Krone lange Zeit gut gedient haben, biete ich euch einen Posten als Offiziere in meiner Armee. Ihr könnt euch aber auch anders entscheiden. Bis zum Fest der Frühlingsgöttin müsst ihr euch entscheiden. Die beste Lösung wäre wohl, wenn ihr euch gegenseitig umbringt. Und nun befreit mich von eurem Anblick."
Mit Nachdruck wurden die Männer aus dem Zelt geschoben. Die Arvaner sorgten auch dafür, dass jeder unverzüglich zu seinem Zelt ging.
Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten. Ein kühler Wind blies über das tote Land. Gisulf überlegte, wenn sie jetzt aufbrachen, konnten sie bis zum Abend noch das Kloster Narbazes erreichen.
Rote Schatten malte die untergehende Sonne auf die silbernen Beschläge des Klostertores als die Partiener sie erreichten. Gisulf hatte seine Soldaten zur Burg geschickt. Die Probleme seines Bruders waren Familiensache, fand er. Dreimal ließ er den Klopfer gegen das dunkle Holz fallen. Es ergab ein hohles Geräusch. Wenige Minuten später wurde das Tor geöffnet. Ein hochgewachsener Mann im braunen Habit der Diener Narbazes sah sie fragend an.
"Mein Bruder sucht Heilung und Vergebung in euren heiligen Hallen", sagte Gisulf und beugte ein wenig den Kopf.
Wortlos trat der Mönch zur Seite und ließ sie eintreten. Dann führte er sie in einen kleinen Andachtsraum und verschwand. Die Männer setzten sich auf die schmale Steinbank gegenüber der Statue Narbazes und warteten. Der Gott wurde als alter Mann mit einem lächelnden Gesicht dargestellt. In einer Hand hielt er ein Büschel Kräuter, in der anderen eine schimmernde Kugel.
"Sprich du für mich, Gisulf", bat Hildrich. "Ich kann es nicht."
"Mach dir keine Sorgen, Bruder", versuchte ihn Gisulf zu beruhigen.
Es dauerte nicht lange, da betrat ein Priester den Raum, erkennbar an der Borte aus Spinnenseide in Form von Salbeiblättern an seiner braunen Kutte. "Wer sucht die Gnade Narbazes?", fragte er mit sanfter Stimme.
"Mein Bruder ist krank an Körper und Seele", erklärte Gisulf.
"Ich sehe", antwortete der Priester. "Warte vor der Tür." Der Klang seiner Stimme hatte sich nicht verändert, trotzdem lag soviel Nachdruck darin, dass Gisulf sofort aufstand.
Hildrich klammerte sich an ihn. "Verlass mich nicht, Bruder!", bat er.
"Es ist gut." Sanft löste sich Gisulf aus seinem Griff. "Ich gehe nicht fort, nur vor die Tür."
Draußen setzte er sich auf einen hölzernen Hocker, den ihm ein Mönch brachte und wartete. Irgendwann brachte ihm ein anderer Mönch eine Schüssel mit heißem Haferbrei und einen großen Becher saure Ziegenmilch. Es dauerte aber noch bis Mitternacht, dann ging die Tür auf und der Priester bat ihn wieder hinein. Hildrich sah bleich und übermüdet aus. Dennoch wirkte er so ruhig und gefasst wie ihn Gisulf noch nie erlebt hatte. Sogar ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen.
"Ich werde hier bleiben", sagte er. "Es wird mir gut tun."
"Ich werde dich besuchen, so oft ich kann", versprach Gisulf.
Nun kam ein Mönch herein und führte ihn hinaus.
"Dein Bruder hat sich in die Obhut Narbazes begeben", eröffnete der Priester als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. "Er wird hier leben und Buße tun für seine Tat. Für seine Gesundheit können wir aber nicht viel tun. Ich vermute, dass ihm vor zwei Jahren Caibre gegeben wurde."
"Caibre!", rief Gisulf entsetzt aus.
Dieses heimtückische Gift wurde aus dem Harz des Caibara-Strauchs gewonnen. Als Dünger ließ es Pflanzen schneller wachsen, Früchte schneller reifen, ohne dass sich der Wirkstoff in letzteren ablagerte. Ein Mensch, der das Gift zu sich nahm, alterte aber siebenmal schneller als gewöhnlich und nichts konnte diesen Prozess aufhalten oder auch nur bremsen.
"Weiß er es?", fragte Gisulf.
"Noch ist es eine Vermutung", verneinte der Priester. "Deinem Bruder ist großes Unrecht geschehen und auch er hat große Schuld auf sich geladen. Ich bitte dich, den Eltern des Mädchens meine Einladung zu überbringen."
"Das werde ich tun, Priester", versprach Gisulf.
Adira saß in ihrem Zimmer in der Burg Taifalen. Seit einer Woche regierte Graf Orsines die Grafschaft. Sein Zwillingsbruder Dumias hatte sich nach Partiene begeben. Gleich nach ihrer Ankunft hatte Ragilo Egeria und das Baby in den Wagen mit der weichsten Federung gepackt und war mit ihnen zu seinen Schwiegereltern in die Baronie Guymon gefahren. Die junge Mutter war zwar noch schwach auf den Beinen, aber am Wege der Besserung. In ihrer derzeitigen Situation war sie bei ihren Eltern wohl am besten aufgehoben.
Über Adiras Knien lag die Spinnenseide. Sie summte leise und Gisulfs Gesicht erschien auf dem Gespinst.
"Hast du alles erledigt?", fragte sie.
Er nickte. "Mein Bruder ist bei den Dienern Narbazes. Sie werden gut für ihn sorgen. Wie steht es bei dir?"
"Ragilo wird bald wieder hier sein. Dann können wir abreisen."
"Wir müssen uns tarnen", schlug Gisulf vor. "Fahrendes Volk fällt am wenigsten auf und ist überall willkommen. Ich nehme meine Laute mit. Mit deiner Flöte wäre wir doch ein hübsches Duett. Meinst du nicht auch?" Er grinste schief. An langen Winterabenden hatten sie oft zusammen musiziert.
Auch Adira musste lächeln, so ernst die Situation war. "Dann müssen wir nur noch für Ragilo einen Part finden. Ich habe keine Ahnung, ob er musikalisch ist."
"Ich werde heute losreiten", sagte Gisulf. "Wir treffen uns am Donnacona-See."
Dieses Gewässer lag in den arvanischen Bergen, nahe der Grenze zu Partiene. Ein weiser Einsiedler hatte dort seine Klause. Ratsuchende aus dem ganzen Reich pilgerten zu ihm. Gisulf hoffte, dass sie unter den Pilgern nicht auffallen würden.
Adira faltete das Tuch zusammen. Der König hatte ihnen eine Chance gegeben. Aber wo sollten sie ansetzen? Vor ihr stand ein Krug mit Wasser. Gedankenverloren tauchte sie die Finger ein. Ihre Magie ließ das Wasser kreisen. Ein Strudel formte sich. "Jetzt könnte ich jede Menge Hilfe gebrauchen", murmelte sie und starrte in den Krug.
"Das lässt sich machen", sagte eine Stimme hinter ihr, die wie das Plätschern eines Bächleins klang.
Blitzschnell fuhr sie herum. Auf ihrem Nachttisch saß ein Männlein von der Größe eines sechsjährigen Kindes. Seine Kleidung schillerte in allen Blau- und Grüntönen. Helles Haar wie schäumende Gischt umgab das scharf geschnittene Gesicht. Ein Dazbog, erkannte Adira.
Diese Wassergeister waren eine große Versuchung für Wassermagier. Sie erfüllten jeden erdenklichen Wunsch, insbesondere Herzenswünsche, doch eines Tages, wenn es der Zauberer am wenigsten erwartete, forderten sie ihren Preis. Es war immer derselbe, die Seele des Magiers, denn ein Dazbog hatte selbst keine und sein größter Wunsch war, Unsterblichkeit zu erlangen. Viele waren auf diesen Handel eingegangen, in der Hoffnung, eine Möglichkeit zu finden, sich vor der Bezahlung zu drücken. Es gab nämlich ein Gerücht, dass dies einem Magier gelungen sei. Wie er das geschafft hatte, konnte aber niemand sagen.
"Nun? Was soll ich für dich tun?", fragte der Dazbog. Seine kleinen, nadelspitzen Zähne blitzten als er lächelte.
"Ich brauche deine Hilfe nicht", sagte Adira fest.
"Du hast mich aber gerufen", konterte das Wesen und deutete auf den Krug.
"Verschwinde!", fauchte sie zornig als sie ihren Fehler erkannte. Wie konnte sie nur mit ihrer Magie spielen während sie nach einer Lösung für ihr Problem suchte!
"So leicht wirst du mich nicht los." Kichernd tanzte er über das Bett und streckte seine froschkalte Hand nach der Spinnenseide aus.
Schnell barg Adira das Tuch in ihrem Wams. Wütend setzte sie zum Sprechen an, da ging die Tür auf und Orsines kam herein. Mit einem Hechtsprung sprang der Dazbog in den Krug und verschmolz mit seinem Element.
Der Arvaner lachte. Offenbar bezog er Adiras Zorn auf sein unerlaubtes Eindringen. "Dein Bruder ist zurück gekehrt", sagte er. "Du kannst dich jetzt von ihm verabschieden."
"Verabschieden?" Sie runzelte die Stirn. "Ich gehe mit ihm."
"Das wirst du nicht tun", widersprach Orsines. "Ich habe beschlossen, dich zur Frau zu nehmen. Ab jetzt wirst du dich wie eine Frau kleiden. Ich werde dich Gehorsam lehren."
"Versuche es und du wirst nie wieder eine Frau nehmen", sagte sie kalt.
Orsines lachte wieder, doch klang es ein wenig gekünstelt. "Es wird mir eine Freude sein, dich zu zähmen", grinste er. "Nun komm!" Er öffnete die Tür, trat zur Seite und machte spöttisch eine einladende Geste. "Der Kleine wartet unten in der Halle auf dich."
Hoch erhobenem Hauptes ging sie an ihm vorbei. Dabei trat sie ihm kräftig auf den Fuß. Mit boshafter Befriedigung registrierte sie, dass er scharf die Luft einsog. Ragilo sah sie fragend an als sie in die Halle kam.
"Wie geht es Egeria und deiner Tochter?", fragte sie, den Arvaner ignorierend.
"Sie ist bei ihrer Familie gut untergebracht", antwortete er und bedachte Orsines mit einem misstrauischen Blick.
"Graf Orsines möchte, dass ich hier bleibe", sagte sie und hakte sich bei ihrem Bruder unter. Mit sanftem Druck dirigierte sie ihn hinaus auf den Hof. Orsines folgte dicht auf. Ein schneller Blick zeigte ihr, dass die Tore wie üblich offen standen und die nächsten Arvaner genügend weit entfernt waren. Ragilos Pferd stand gesattelt neben dem Brunnen.
"Wenn du es wünschst", meinte Ragilo nachdem sie ihm den Ellbogen in die Seite gestoßen hatte.
"Nun, ich denke, das ist eine Überlegung wert." Sie musterte den Grafen wie ein Pferd, das zum Kauf angeboten wurde. "Ein wenig zu alt ist er mir schon als Ehemann", sprach sie munter weiter. "Aber ich könnte mir ja einen jungen Liebhaber nehmen, wenn seine Manneskraft erlahmt."
Mit einem wütenden Schrei sprang Orsines auf sie zu, die Hand zum Schlag erhoben. Darauf hatte sie nur gewartet. In Partiene war sie auch in waffenlosem Kampf unterrichtet worden. Blitzschnell duckte sie sich seitlich unter seiner Hand durch und stieß eine Faust in Höhe der Nieren in seine Seite. Ein Tritt in die Kniekehle brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Nach Halt suchend krallte sich seine Hand in ihr Wams. Noch hatte er sich nicht ganz aufgerichtet, da krachte ihr Knie in seine Leisten. Aufheulend ließ er los und fiel zu Boden.
"Haltet sie!", brüllte er halb von Sinnen vor Schmerz und Wut.
Adira sah arvanische Soldaten herbei eilen. Inzwischen rannte Ragilo zu seinem Pferd. Auch Taifaler kamen herbei. Sie rannten aber so konfus durcheinander, dass sie die Arvaner behinderten. Ragilo quittierte dies mit einem grimmigen Grinsen.
Adira kickte Orsines noch ins Gesäß und folgte ihrem Bruder. Ragilo saß schon im Sattel und streckte ihr eine Hand hin. Mit einem Sprung saß sie hinter ihm und im nächsten Moment preschten sie zum Tor hinaus. Hinter ihnen verklangen Orsines' gebrüllte Flüche.
"Zur Koppel!", schrie Adira. "Ich gehe nicht ohne Seidenwolke."
Fluchend ritt Ragilo in die angegebene Richtung. Ein scharfer Pfiff von Adira und die Isabelle-Stute galoppierte auf sie zu. Mit einem mächtigen Sprung setzte sie über den Zaun. Adira dirigierte sie an die Seite von Ragilos Wallach und wechselte auf ihren Rücken. Im gestreckten Galopp jagten sie dahin, obwohl aus der Burg nur lautes Getöse, Schreie und Flüche kamen, aber keine Verfolger.
Bis tief in die Nacht hinein ritten sie. An einer windgeschützten Stelle am Fluss schlugen sie endlich ein Nachtlager auf. Ragilo hatte seine Ausrüstung bei sich. Auch ein Stück gebratenes Wildbret, ein halbes Brot und ein Ziegenfell voll saurem Wein war dabei. Doch Adira hatte außer ihrem Pferd und der Spinnenseide nur das, was sie am Leib trug.
"Ich brauche zumindest einen Sattel und ein Zaumzeug für mein Pferd", sagte sie verdrießlich. "Und ich habe nicht die kleinste Münze bei mir."
Ihr Bruder starrte düster vor sich hin. "Ich bin heimatlos", murmelte er immer wieder als könnte er es nicht glauben.
Schließlich wurde es Adira zu bunt. "Hörst du mir endlich zu!", fuhr sie ihn an. "Ja, du bist jetzt heimatlos. Ich auch, hast du das vergessen? Und jammere ich wie du? Reiß dich zusammen!"
"Du hast ja keine Ahnung", entgegnete er. "Ich war hier Graf und was warst du? Du weißt ja gar nicht, was ich verloren habe!"
Betreten sah sie zu Boden. Ja, er hatte recht. Sie war die meiste Zeit ihres Lebens eine Geisel gewesen, ohne Status, ohne Heimat. Ragilo war aus einer sicheren und angenehmen Existenz vertrieben worden. Dazu kam noch die Sorge um seine Familie. Sie selbst hatte nur für sich zu sorgen. "Es tut mir Leid, Bruder", sagte sie reuig. "Du hast Recht. Aber sieh mich an. So kommen wir nicht weit."
Ragilo zeigte ihr eine Handvoll Perlen. "Ich dachte, das würde eine Weile reichen." Er seufzte. "Wir werden uns wohl schon früher etwas einfallen lassen müssen."
"Ich könnte dir alles bringen, was du brauchst", sagte der Dazbog. Urplötzlich war er neben Adira aufgetaucht. "Nun brauchst du ja doch meine Hilfe."
"Ein Dazbog!", rief Ragilo halb erstaunt, halb erschrocken.
"Schlau erkannt", stimmte der Wassergeist zu. "Sie hat mich gerufen."
"Adira! Was hast du getan?!" Vorwurfsvoll sah Ragilo von seiner Schwester zu dem Dazbog.
"Du weißt doch, dass ich eine Wassermagierin bin. Durch ein Versehen habe ich dieses Scheusal am Hals und weiß nicht, wie ich es wieder los werde." Schuldbewusst zuckte sie mit den Schultern.
"Ein Versehen nennst du das?", fuhr er sie an. "Haben wir denn nicht schon genug Ärger am Hals?"
"Ich werde einen Weg finden ihn los zu werden", erklärte sie entschlossen. "Verlass dich darauf."
Der Dazbog kicherte nur. "Irgendwann wirst du meine Hilfe mit Freuden annehmen", meinte er grinsend.
"Verschwinde, du Missgeburt!", schrie sie ihn an. "Ich brauche dich nicht."
Lachend sprang der Dazbog in den Fluss. Adira aber berichtete ihrem Bruder von dem Gespräch mit Gisulf. Mit dem Treffpunkt war Ragilo sofort einverstanden. Auch dessen Plan, als Fahrendes Volk aufzutreten, griff er eifrig auf. Aus einer Satteltasche holte er ein paar kleine, rote Äpfel. Damit begann er zu jonglieren. Zuerst waren es nur drei, dann nahm er einen vierten, einen fünften und einen sechsten Apfel dazu.
"Vater hat darauf bestanden, dass ich das lerne", erklärte er stolz. "Er meinte, es würde einen besseren Krieger aus mir machen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich damit einmal Geld verdienen würde." Ein kleines Lächeln flog über sein Gesicht. "Ich tanze auch ziemlich gut. Beim Schwertertanz war ich immer der Beste."
Zum Beweis zog er sein Schwert und sprang das Ufer des Flusses entlang. Dazu sang er mit einer kräftiger Bassbaritonstimme: "Ein Schwert zur Ehre Taifalens ...."
"Ragilo! Nicht so laut!", warnte Adira. "Vielleicht sind uns doch Orsines' Männer gefolgt."
Der junge Mann verschluckte die weiteren Worte, stieß sein Schwert wieder in die Scheide und setzte sich zu ihr. "Du hast Recht, Adira", stimmte er ihr zu. "Wir sollten schlafen."
wird fortgesetzt