STORIES


AM STADTRAND

von Andreas Leder



"Irgendwo hört die Stadt auf..." klangen die Worte des Großvaters in seinem Gedächtnis nach, "ich war aber nie dort."
Kein Wunder, dort soll es ja auch ziemlich gefährlich sein, nur die Stadt bot Sicherheit und Schutz vor der seltsamen Physik des fremden Raumes, dessen war er sich sicher.
Jedes Jahr hatte er ein bis zwei Mal seinen Wohnsitz und seine Arbeitsstätte weiter nach außen, Richtung Stadtrand verlegt. Die Häuser waren niedriger geworden, es wohnten nicht mehr so viele Menschen hier. Oftmals reihte sich eine Fabrik an die nächste und man konnte leicht eine Stunde gehen und niemanden antreffen.
In seiner spärlichen Freizeit war er oft zu Fuß unterwegs, denn das Geld für ein Glideboard hatte er sich noch nicht zusammensparen können.
Leute wie ihn nannten sie etwas abfällig "Jobhopper". Einen, der kam, der zwar gute Arbeit leistete, aber auch wieder ging, weil er keine emotionale Bindung zur Firma aufbaute. Arbeitskräfte wie er wurden gerne eingesetzt, um "den Gleiter wieder flott zu machen", wie man so sagte, sie wurden anschließend gerne als Buhmann hingestellt und gingen wieder ihrer Wege.
Es war nicht leicht für ihn, unter den vielfältigen Augen der Staatsgewalt Erkundigungen einzuziehen und nachzuforschen, wo die Stadt aufhörte. Er wusste um die Gefährlichkeit seines Hobbys, das sich schön langsam zu einer Manie auswuchs.
Wieder einmal hatte er seine Schuldigkeit getan, üble Machenschaften des lokalen Managements aufgedeckt und der Firmenleitung die Schuldigen wie auf einem Silbertablett serviert. Wieder einmal hatte er seine Prämie eingesteckt und wieder einmal hatte er die einvernehmliche Auflösung seines Arbeitsverhältnisses unterschrieben. Jetzt hatte er vier Wochen Zeit, seine bisherige Bleibe, eine der üblichen und billigen Einzimmerwohnungen aufzulassen und sich in einigen Stunden Entfernung etwas Neues zu suchen.
Naturgemäß wurden seine Spaziergänge jetzt länger. Innerhalb einer bestimmten Umgebung hatte er keine Chance, einen neuen Job zu finden. Er musste jene Grenze überschreiten, bis zu der sich die Nachricht von seiner Arbeit verbreitet hatte, bis zu der sein Gesicht bekannt geworden war. Dabei hätte ihm ein Glideboard schon sehr geholfen.
Er benötigte mehr als eine Woche, um eine neue Arbeit zu finden. Dieses Mal hatte er besonderes Glück. Mit seinem Arbeitsvertrag unterschrieb er auch eine Mietvereinbarung für eine Zimmer-Küche-Wohnung zu einem sensationell günstigen Preis. Das Glideboard war in greifbare Nähe gerückt.
Der neue Job brachte, wie immer, neue Schwierigkeiten mit sich und schon bald dachte er, dass es ein Fehler gewesen war, auch die Wohnung von der Firma zu mieten. Er war zu sehr im Blickfeld seiner Vorgesetzten, von denen vermutet wurde, sie würden zu ihrem eigenen Vorteil und nicht zum Wohl der Allgemeinheit arbeiten. Doch dann stellte sich heraus, auch er konnte seine Chefs besser und unauffälliger im Auge behalten, wenn er am Firmengelände wohnte und das war dann ausschlaggebend für seinen Erfolg. Nach nicht einmal 8 Wochen - sonst brauchte er dafür 6 Monate - hatte er das künstlich aufgebaute Chaos durchschaut und die Kanäle verfolgt, über die die illegalen Gewinne abgeleitet wurden.
Seinem Bericht folgte die übliche Entfernung der Betriebsleitung und die übliche Auflösung seines Arbeits- und Mietverhältnisses. Wieder einmal saß er buchstäblich auf der Straße, doch diesmal hatte er zusätzlich zur Erfolgsprämie einen kleinen Betrag als Anerkennung für die rasche Lösung des Problems erhalten.
Jetzt musste er nur noch sein Glideboard bestellen und der Weg zum Stadtrand war um einiges leichter geworden.
Das nächste Problem entstand dadurch, dass er seine Firmenwohnung innerhalb von zwei Wochen räumen musste. Doch bereits am nächsten Tag wurde ihm das Glideboard zugestellt und aus einem fünfstündigen Spaziergang wurde eine halbe Stunde rasanter Fahrt.
Im nächsten Industriegebiet hätte er sicher eine Stelle gefunden, doch jetzt wollte er mehr, wollte er weiter hinaus, als bisher und so fuhr er auch weiter - durch die Ansammlung dunkelgrauer Fabrikgebäude, durch die nebenan liegende Wohnsiedlung, weiter, immer weiter.
Entspannt stand er auf dem Glideboard, jetzt wollte er es wissen. Zwei Stunden war er schon gefahren und noch immer war das Ende der Stadt nicht in Sicht.
"Dort sind die Häuser so klein," hatte ihm sein Großvater erzählt, "dass nur eine einzige Familie darin wohnen kann." Aber das hatte er ihm nie geglaubt. Wer würde schon so viel Platz verschwenden, wenn man dreißig, vierzig oder fünfzig Stockwerke problemlos aufeinander schichten konnte?
Das Viertel, das er jetzt durchquerte, unterschied sich stark von den bisherigen Arbeits- und Wohngegenden, die er hinter sich gelassen hatte. Am stärksten fiel ihm auf, dass hier keine Menschen waren. Nirgendwo waren alle Menschen in den Fabriken, es gab immer Leute, die auf der Straße unterwegs waren, aber nicht hier. Dafür bemerkte er mehr automatische Wächter als üblich, die in Zweier- und Dreierstreifen "für mehr Sicherheit auf der Straße sorgten" - wie es in den Nachrichten immer hieß. Er aber dachte es besser zu wissen.
"Halte dich von den Wächtern fern", hatte ihm sein Großvater geraten, "bei denen hast du immer das Nachsehen. Die Wächter sind nämlich auch die Richter - und die kennen nur eine Strafe: den Tod."
Also verhielt er sich so, als wäre er auf Arbeitssuche. Er fuhr an etlichen Fabriken vorbei, informierte sich über offene Stellen, fuhr aber dann weiter, als gefiele ihm das Angebot nicht.
Als er wieder einmal versuchte in die Ferne zu schauen, gelang ihm das nicht. Die Gebäude am Ende der Strasse wurden diffus, grau in grau, die Konturen verschwammen. War das die Gegend, von der Großvater immer gesprochen hat? Um nicht aufzufallen bog er bei der nächsten Gelegenheit ab, als suche er eine weitere Fabrik. Er versuchte weiterhin entspannt auf seinem Board zu stehen, war sich jedoch ziemlich sicher, dass ihm das nicht gelang. Er hatte aber keine Wahl. Er wollte es jetzt wissen.
Immer näher kam er dem Bereich, in dem die Konturen der Gebäude unscharf wurden. Als er die Infotafel neben dem nächsten Fabrikseingang abfragen wollte, fand er die Aktivierungstaste nicht. Es schien, als wäre alles vorhanden, gleichzeitig aber war es nicht fassbar.
Einem plötzlichen Entschluss folgend, warf er sich auf seinem Board herum, beschleunigte so schnell er konnte und fuhr die Strasse entlang. Die Anzahl der Wächter hatte sichtlich zugenommen, er war sich ganz sicher, dass hier das Ende der Stadt sein musste.
Jetzt kamen ihm die Wächter schon näher, die Konturen der Gebäude waren nicht mehr vorhanden, er nahm nur mehr verschiedenhelle Grautöne wahr. Auch die Strasse schien sich aufzulösen und die Wächter verschwammen in dem ihn umgebenden Grau.
Ein Grau, das plötzlich in ein strahlend helles Blau überging.
Jetzt nahm seine Umgebung auch wieder Gestalt an. Nur mit diesen Formen und Farben konnte er nichts anfangen. Vertraut war ihm lediglich die Gestalt der nahen Wächter.
Hellgrüner, ausgefranster Untergrund, blau-weißer Himmel, ein Licht, zu hell um hineinzusehen, immer wieder braun-grüne Hindernisse, die ihm er umfahren musste, weil sie fest und rau waren. Kleine Gegenstände flitzten über ihn hinweg und gaben dabei schrille Geräusche von sich. Die Luft roch wie .... wie nie zuvor, seltsam herb und zugleich süßlich.
Das sollte das Ende der Stadt sein? Hierher hat es ihn getrieben? Wo alles so fremdartig und beängstigend war, vielleicht sogar lebensgefährlich, wie dieser Geruch in der Luft und das Brennen auf der Haut? Wozu? Damit konnte er nichts anfangen... nein, hier war er fehl am Platz.
Er wendete sein Board, es tat jedoch nicht, was er wollte, sackte plötzlich durch, hob ihn wieder an, stellte seinen Gleichgewichtssinn durch unvermutete Kurvenfahrten auf die Probe. Auch das noch! Wie sollte er ohne Board wieder zurückkommen? Eine dünne Rauchfahne hinter sich ziehend versuchte er den Wächtern auszuweichen, die ihn noch immer verfolgten. Er wollte den Stadtrand wieder erreichen, der unbekannten Farbenvielfalt entkommen, doch das Energiemodul seines Boards nahm zu viel der fremden und starken Strahlung auf.
Er flog den automatischen Wächtern direkt in die Arme.
Als die Maschinen die Stadt wieder erreichten, hatten sie seine biologische Masse bereits in viele, kleine Teile zerlegt und ihren Konvertern zugeführt. Der Stadtrand war eben keine Gegend, in der ein Mensch überleben konnten.

Ende


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