SCHWERPUNKTTHEMA


ZEIT


ABSCHIED

von Thomas Kager



Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Nun war Frank wirklich allein. Seit dem Tod seiner Frau vor fast 16 Jahren, hatte er sich vor diesem Tag gefürchtet. Nun war er da und ihm blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren. Wie schwer es ihm auch fiel. Lange hatte er den Gedanken daran verdrängt, ihn einfach nicht wahrhaben wollen. Doch jetzt war es eine Tatsache. Sonja, seine Tochter, war auf dem Weg in ihr eigenes Leben. Eine gut bezahlte, viel versprechende Anstellung und eine hübsche, sonnige Wohnung warteten auf sie. Aber warum fast 400 km entfernt?
Die Schlusslichter des Zuges verschwanden schließlich in der Dunkelheit, doch Frank wartete noch eine Weile. Dann drehte er sich um und ging in Richtung des Ausganges.
"Es ist das Beste so", sagte Eva, die dort geduldig auf ihn gewartet hatte.
"Ja, ich weiß", nickte Frank. "Aber trotzdem tut es weh."
"Das ist nun einmal der Lauf der Dinge", versuchte sie Frank zu trösten und hakte sich bei ihm unter. "Die Kinder werden erwachsen und verlassen das heimische Nest, um selber Nester zu bauen. Sonja muss nun ihr eigenes Leben leben."
Frank nickte noch einmal schweren Herzens, dann verließen sie gemeinsam das Bahnhofsgebäude.
"Wo soll ich dich absetzen?" fragte Frank, als sie in seinen Wagen eingestiegen waren.
"Meine Schicht im Meckis ist noch nicht vorüber. Ich habe nur eine Pause rausschinden können", erklärte Eva und Frank lenkte den Wagen durch die dunklen Straßen zu der Kneipe, in der Eva als Kellnerin arbeitete.
"Willst Du nicht noch auf ein Bier mit hineinkommen?" fragte sie. "Es geht aufs Haus."
"Nein, besser nicht", winkte Frank ab. "Ich bin müde und fahre gleich heim."
"Wie du willst", sagte Eva etwas enttäuscht, sah aber ein, dass sie ihn nicht aufheitern konnte. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und stieg aus. Frank wartete noch, bis sie die Kneipe betreten hatte, dann fuhr er weiter.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, die kleine Wohnung im dritten Stock des Mietshauses zu betreten, in der er die letzten Jahre gelebt hatte.
"Ich bin zurück", sagte Frank ganz automatisch, als er die Tür hinter sich schloss. Doch niemand antwortete ihm. Eine eigentümlich Stille herrschte in der Wohnung. Frank seufzte. Er zog seine Jacke aus und hängte sie in die kleine Garderobe, die nun ungewöhnlich leer war. Ansonsten hatte Sonja immer mindesten drei Jacken und Mäntel untergebracht. Wie oft hatte er sich dann beschwert, dass er keinen Platz mehr hatte? Nun hing seine Jacke ganz alleine.
Einen kurzen Moment blieb er vor Sonjas Zimmertür stehen, doch dann überlegte er es sich anders und ging weiter. Er mochte jetzt nicht den verlassenen Raum sehen.
Freudlos wusch er sein Gesicht und putzte sich die Zähne. Dabei bemerkte er, wie kahl es jetzt hier war. All die Fläschchen, Tiegelchen, Tuben und Schminkzeug, die sonst immer den ganzen Platz belegten und ihn oft genug zur Verzweiflung gebracht hatten, waren verschwunden. Der kleine Spiegelschrank war so gut wie verwaist. Als Frank jedoch nach seinem Kamm griff, entdeckte er einen vertrauten Gegenstand, den er nicht erwartet hatte. Es war Sonjas Haarbürste. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie melancholisch. Sollte er sie Sonja nachsenden? Sie würde sie doch brauchen. Aber nein, sie hatte ja noch zwei andere.
Behutsam legte er die Büste wieder zurück in die Lade.
Frank löschte das Licht in der Wohnung und legte sich ins Bett. Die ungewohnte Stille war nun viel deutlicher zu spüren als zuvor. Nur die Geräusche der nächtlichen Stadt drangen gedämpft durch das Fenster. Kein Musikgedudel aus dem Nebenzimmer war zu hören, kein Klappern der Computertastatur, kein Kichern wenn die Freundin anrief.
Frank war müde, doch der ersehnte Schlaf wollte sich nicht einstellen. Gedankenverloren lag er in seinem Bett und starrte an die Decke, während in seinem Kopf einige Ereignisse der letzten Jahre noch einmal abliefen.
War er Sonja ein guter Vater gewesen? Hatte er sie ausreichend auf das Leben vorbereitet? Hätte er nicht vieles besser machen können?
Viele quälende Fragen, auf die Frank keine Antworten wusste. Vielleicht würde die Zukunft sie ihm eines Tages geben.


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