SCHWERPUNKTTHEMA


ZEIT


DIE UHR

von Fred H. Schütz



Hilde war nicht zu bremsen. Sie konnte sich für die allerunmöglichsten Dinge begeistern, und dann wurde sie ungestüm und war kaum zu zügeln. Oder sie wurde sanft und anschmiegsam und suchte Zärtlichkeit. Das war keine Launenhaftigkeit, sondern einzig ihr überschäumendes Temperament, das unablässig Auslaß für ihre stetig sprudelnden Ideen suchte. Aber man soll nicht denken, daß sie nicht eine vorzügliche Hausfrau war; das bewiesen der Zustand der mit erlesenem Geschmack und unerschöpflichem Geldbeutel eingerichteten großen Wohnung, ebenso wie das von ihrer verführerischen Kochkunst zeugende beginnende Pölsterchen an Piets Leibesmitte.
Einer ihrer großartigsten Einfälle, eben jener der ihren Piet immer wieder von neuem begeisterte, obwohl doch gerade er stets darauf hereinfiel und den sie wohl deshalb immer wieder in die Tat umsetzte, war kurz vor Piets alltäglicher Heimkehr sämtliche Kleider abzulegen und sich in der Wohnung zu verstecken. Und wenn ihr Piet hereinkam und sich nach seinem Schätzchen umblickte - und sie natürlich nicht vorfand und sich deshalb daranmachte, sie überall zu suchen - und er ahnungslos an ihrem neuesten Versteck vorübertrottete, dann sprang sie ihm mit einem wilden Schrei wie eine Pantherkatze auf den Rücken, und dann wälzten sie sich über das glänzende Parkett oder den samtigen Teppich (sogar auf dem Bett) oder wo sonst sie ihn anfiel und - und ... man kann es sich ja ausmalen.
Barfuß bis zum Scheitel, aller Kleidung entledigt, nackt und bloß, bot unser Hildchen einen Anblick der Götter begeistern konnte (nicht, daß irgend jemandem außer Piet dieser Anblick auch wirklich vergönnt gewesen wäre, da sei Gott vor!) Ein Figürchen wie eine jener Statuetten aus köstlichem und kostbarem Elfenbein, oder - je nachdem, wie das Licht durch die breiten Fenster strömte - durchscheinender Jade, vielleicht auch zerschmelzendem Bernstein, an strategischen Stellen farbüberhaucht wie von herabrieselnden Rosenblüten, wie eben jetzt die zarten Lippen zu einem rosigen Zuckerkringel gerundet, suchte sie nach einem geeigneten Versteck.
Mal sehen ... da war - da hatte sie sich erst vor drei Tagen versteckt! Oder der Schrank? Gott, da würde er sie sofort finden! Also wo? Hm ... ihr Blick fiel auf die große Standuhr im Wohnzimmer.
Die Standuhr war ein Erbstück das Piet mit in die Ehe gebracht hatte. Über hundert Jahre sollte sie schon alt sein und man sah es ihr an. Groß und wuchtig stand sie vor der Wand, mit breit ausladendem barocken Bauch, das blonde Holz seidig glänzend, dank ihrer sorgsamen Pflege ohne einen Hauch von Patina. Die schweren Messinggewichte schimmerten schwach jenseits der dicken Kristallglasscheibe im Bug des Gehäuses. Langsam und bedächtig, mit leisem "Tick-tock" die Zeit messend, schwang die gewichtige, elaborat verzierte Scheibe des Perpendikels ohne Unterlaß hin und her, her und hin, und bei jedem Schwung sanken die Gewichte, die die Uhr in Gang hielten, um ein winziges Stückchen tiefer.
Hildes nackte Füßchen patschten über das Parkett als sie sich dem Prachtstück näherte, nur hatte sie diesmal kein Auge für die Schönheit der Uhr. Ihr volles seidiges Haar fiel über ihre Schulter als sie sich vorbeugte, um ins Innere zu sehen; aber die spiegelnde Glasfläche verwehrte den neugierigen Blick. Sie seufzte. Warum nur war alles so schwer! Die Tür ließ sich nur mit Mühe öffnen. Sie knarrte leise als Holz über Holz rieb, und dann lag das geräumige Unterfach des Gehäuses ungeschützt vor ihren Augen. Ja!
Die Hand an den Türrahmen gelegt, das schlanke Bein bereits zum Sprung angezogen, maß sie mit den Augen den bedächtigen Schwung des Perpendikels, und als dieses den äußersten Punkt seines kurzen Weges erreicht hatte und möglicherweise eine winzige Ewigkeit dort hängen blieb, gerade so als ob es an dieser Stelle außer Raum und Zeit geraten sei, genügte ein schneller geschmeidiger Satz und ihre schmale Gestalt kauerte tief im Gehäuse. Wuusch! rauschte die schwere Scheibe dicht über ihrem Kopf.
Die schwergängige Tür war ihrer Hand entglitten und stand offen. Verdammt! Sie mußte geschlossen sein, denn sonst würde Piet sofort sehen wo sie sich versteckt hatte! Schnell beugte sie sich vor, des Schmerzes nicht achtend als sich ihre zarte Brust gegen die scharfe Gehäusekante preßte, faßte den Türrahmen und zog mit aller Kraft. Die Tür war widerspenstig und folgte nur langsam. Hilde mußte alle Kraft aufwenden. Im Innern des Uhrgehäuses war der Schall des Knarrens zehnfach verstärkt. Hilde überhörte das Wuschen des Perpendikels.
Der Schlüssel klirrte im Schloß als Piet die Wohnungstür öffnete. Mit leisem Klappen fiel sie wieder zu. "Ich bin zuhause, mein Schatz!" sang der verliebte Ehemann mit heller Stimme.
Keine Antwort. Wieso auch? Sein kleines Kuschelkätzchen spielte wieder ihr verwirrendes Spiel. Er lachte leise. Würde sie jemals erwachsen werden? Aber nein, das war ungerecht! Sein Schmusemäuschen hatte schon den Kopf auf dem rechten Fleck. Nur ihr Temperament bereitete manchmal Schwierigkeiten. Aber, was soll's! Gerade deswegen liebte er sie ja so sehr. Er machte sich ans Suchen.
Zuerst die Schränke. Aber nein, das war zu leicht. Sie war zu schlau, um sich an einem Ort zu verstecken wo er sie sofort finden würde. Aber wo dann? Er durchsuchte die ganze Wohnung, ohne Erfolg. Selbst die große unterste Schublade der spanischen Kommode öffnete er. Einmal hatte sie sich darin versteckt und war eingeschlafen. Mein Gott, sie hätte ersticken können! Heißkalte Schauer rannen über seinen Rücken als er daran dachte.
"Hilde, verdammt, wo bist du?" So lange hatte es bisher noch nie gedauert. Erschöpft gab er die Suche auf. Die Wohnung sah aus wie ein Trümmerfeld. Überall lagen Kleidungsstücke und Wäsche verstreut auf dem Fußboden. Alle Schranktüren standen weit offen. Sogar alle Schubladen, selbst die allerkleinsten, hatte er herausgerissen und liegen lassen wo sie fielen. Da war nichts, kein Winkel in den sie hineingepaßt hätte, den er nicht schon mindestens dreimal untersucht hatte. Sie war nicht da!
Ob sie ausgegangen war und selbstvergessen die Zeit verbummelt hatte? Das war gelegentlich vorgekommen, und wenn sie dann nach Hause kam, ganz aufgeregt und atemlos vom Laufen, war sie völlig zerknirscht in seine Arme gesunken und hatte sinnloses Zeug gestammelt. Aber er hatte sie doch gebeten, einen Zettel auf den Fußboden im Flur zu legen wo er ihn gleich finden würde, und sie hatte gehorcht. Jedes Mal wenn sie ausging hatte sie in ihrer großen, krakeligen Handschrift aufgeschrieben wo er sie finden konnte. Und heute hatte kein Zettel dagelegen!
Schwerfällig und todmüde vom langen Suchen ging er ins Wohnzimmer zurück. Sein Blick streifte die Standuhr. Das Perpendikel hing reglos und die Tür war einen spaltbreit geöffnet. Seltsam. Es war ihm entgangen, daß das "Tick-tock" nicht zu hören war als er hereinkam. Womöglich hatte die Uhr einen Schaden und sein Weibchen, das auf den Tod nicht ausstehen konnte wenn etwas kaputt war, hatte, als sie den Uhrmacher nicht telefonisch erreichen konnte, die Wohnung verlassen um ihn aufzusuchen, und in der Aufregung vergessen einen Zettel für ihn hinzulegen. Das war's! So mußte es sein.
Er ließ sich in seinen Sessel sinken und streckte die Hand aus, um das Telefon zu ergreifen das neben ihm auf dem kleinen Tischchen stand. Er würde den Uhrmacher anrufen und dann würde sich alles aufklären. Hilde würde toben, wenn sie nach Hause kam und die Verwüstung entdeckte die er angerichtet hatte. Und dann würde sie lachen weil er sie so verzweifelt gesucht hatte. Seufzend lehnte er sich zurück. Gott, er war ja so müde ...
Wenn einer mit angenehmen Dingen beschäftigt ist, vergeht die Zeit wie im Fluge. Wenn's nicht von der Hand gehen will, ist jede Sekunde eine kleine Ewigkeit. Wenn man schläft, ist mit dem Bewußtsein die Zeit ausgeschaltet. Piet hing in seinem Lieblingssessel und schlief wie ein Toter.
Leises Knarren erfüllte den Raum, genauso, wie wenn Holz über Holz reibt. Die Tür an der Standuhr öffnete sich ein kleines Stück. Dann erschien eine kleine weiße Hand und umklammerte die untere Kante des Türrahmens. Mit protestierendem Kreischen öffnete sich die Tür. In der offenen Uhr stand eine kleine bleiche Gestalt, so nackt und so zierlich wie eine Elfenbeinstatuette. Gar nicht geschmeidig, sondern mühselig und unsicher kletterte Hilde heraus. Sie hielt eine Hand an den Kopf gepreßt. Ihr Kopf schmerzte und dröhnte und erschwerte alles Denken. Dann nahm sie die Hand herunter und betrachtete verwirrt die Schmiere halbgeronnenen Blutes and ihren Fingern.
"Oh Gott!" Sie hatte sich versehen und das Perpendikel hatte sie am Kopf getroffen. Wie lange mochte sie bewußtlos gewesen sein? Wo war Piet? Er mußte doch längst nach Hause gekommen sein! Sicher hatte er sie gesucht und sich Sorgen gemacht, weil er sie nicht fand. Nie wieder würde sie dieses dumme Spiel spielen! Dann entdeckte sie die Unordnung.
Überall waren Schubladen herausgerissen und lagen samt Inhalt verstreut auf dem Fußboden. Piet hatte sie doch nicht etwa in den Schubladen gesucht! Durch die offene Tür gewahrte sie den offenen Dielenschrank, leer, die Kleider herausgerissen und in einem wilden Haufen auf dem Boden davor liegend. Alles war mit einer fingerdicken Staubschicht bedeckt. Selbst die hagere Figur in Piets Lieblingssessel. Hilde trat näher.
Irgend etwas drang in Piets Bewußtsein. Es war, als ob ihn jemand an der Schulter rüttelte. Die Dunkelheit vor seinen Augen wich zögerlich einem nebelschweren, in seinen Ohren summenden Grau, das er vergeblich zu durchdringen suchte. Undeutlich gewahrte er ein verschwimmendes Gesicht, das ihn mit besorgten Augen anstarrte. Dann nahm die Gestalt ihre Hand von seinem Arm. Erinnerung kehrte zurück. Es war Hilde, die sich über ihn beugte, ein hastig aufgelesenes Kleidungsstück züchtig vor den Busen gerafft. Ihr Gesicht war bleich, ihr Haar und ihre Stirn waren von geronnenem Blut verklebt. Und dann öffneten sich ihre Lippen und sprachen die schrecklichen Worte:
"Bist du mein Schwiegerpapa? Endlich kommst du uns besuchen! Bist du mit Piet gekommen? Wo ist Piet?"

Tock!


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