SCHWERPUNKTTHEMA


ZEIT


PERSÖNLICHE ZEITWAHRNEHMUNG

von Eva Kalvoda



Als ich ein kleines Kind war, hatte ich den Eindruck, dass Zeit etwas ist, über das die Erwachsenen gebieten. Woher nur nahmen sie die Gewissheit, dass es für mich Zeit war Schlafen zu gehen? Endgültig überzeugt von der Macht der Erwachsenen war ich dann wegen dem Christkind. "Noch drei Mal schlafen, dann kommt das Christkind!" Wow, sogar dem Christkind konnten die Großen befehlen!
Dann kam die Phase, in der ich die Uhr lesen lernte, und prompt hatte ich eine neue Autorität auf dem Gebiet der Zeit gefunden. Die Sache mit den Schlafens- und Essenszeiten war also nicht von den Erwachsenen vorgegeben, sondern von der Uhr. Und egal wie oft ich der Uhr sagte, ich fände es noch nicht an der Zeit schlafen zu Gehen, sie ignorierte mich, und zeigte unbeirrt Bettzeit an.
Als ich dann auch noch den Kalender lesen lernte, war es endgültig vorbei mit dem Glauben an die Macht der Großen. Nicht nur die Uhr hatte mehr zu befehlen, nein, die oberste Instanz war offensichtlich der Kalender, der über Christkind und Osterhase die Befehlsgewalt hatte. Und die Uhr war sozusagen nur ein Abteilungsleiter des Kalenders.
Je älter ich wurde, desto mehr verschob sich meine Zeitwahrnehmung. In der Volksschule wurde meine Zeit vom Fernsehprogramm bestimmt, das ich zum Erstaunen aller auswendig konnte. Musste ich aber ein Diktat schreiben, versagte ich kläglich. Die Lehrer nannten es selektives Lerninteresse und steckten mich in den Förderkurs. Und schon war ich wieder bei der Zeit der Erwachsenen angelangt, denn der Förderkurs begann um 7:15 Uhr, womit mir quasi Schlafzeit geklaut wurde. Es ist übrigens bis heute so, dass ich zwar abends nicht ins Bett finde (der Weg scheint sich in ein Labyrinth zu verwandeln), morgens jedoch finde ich nicht aus den Federn hinaus.
Mit den Kindertagen schwand auch die Macht des Kalenders, und Zeit wurde zu einer Handelsware. "Dafür habe ich keine Zeit!" Meist wenn ich nervte. "Vielleicht kann ich mir die Zeit nehmen!" Wenn ich zwar nervte, aber es doch irgendwie psychologisch wichtig für mich war. "Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt!" Wenn man mein Anliegen nicht brutal abschmettern wollte, es jedoch illusorisch war. Und später dann: "Du hast um diese Zeit zurück zu sein!" Der unangenehmste Satz in meiner Pubertät, der mich oft in Schwierigkeiten brachte, da mein Vater offensichtlich noch an die Macht der Uhr glaubte, während ich schon zur Theorie der Handelsware übergegangen war, und Handel bekanntlich aus Angebot und Nachfrage bestand.
Dabei war doch völlig klar, dass etwas, das ich mir nehmen konnte, oder auch nicht; etwas, das ich haben konnte, etwas das ich vergessen konnte, ja dass so etwas ganz klar eine Ware sein musste. Also versuchte ich mit meinem Vater um Zeit zu dealen. Um meine Zeit natürlich. Und gestand er mich nicht mehr von meiner Zeit zu, verbrauchte ich eben seine.
Das konnte entweder durch Entlehnung geschehen (was mächtig Ärger brachte), oder durch stehlen, indem ich ihn verfolgte und mit Fragen bombardierte ( brachte eine andere Art von Ärger). Mein Vater hatte allerdings eine unfehlbare Gegenmaßnahme gefunden. Versuchte ich seine Zeit zu stehlen, oder hatte mir Zeit geliehen, ignorierte er mich, so dass sich die Zeit endlos dehnte, bis ich aufgab. (Der Witz dabei ist, dass er dadurch mir Zeit geklaut hat, wo ich doch gerade mitten im Versuch feststeckte, seine Zeit zu stehlen.)
Hüllen wir den Mantel des Schweigens über die weiteren Ereignisse, denn ich bin sicher, zu jener Zeit hätte mein Vater noch drei Söhne seiner einzigen Tochter allemal vorgezogen. Vermutlich hätten ihn die weniger schmerzhafte Zeit gekostet. Und wie wir da schon merkten, Zeit ist ein kostbares Handelsgut.
Als ich mit der Schule fertig war, und meine Lehrzeit begann, bemerkte ich eine erneute Wandlung der Zeit. Plötzlich gab es keine endlos scheinenden Ferien mehr, keine freien Nachmittage, und schon gar kein Schwänzen mehr. Dadurch begann die Zeit erstaunlich schnell zu vergehen. Musste ich als Kind noch Zeit verbummeln, strich sie nun schnell an mir vorbei.
Plötzlich musste ich mir selber Zeit nehmen, für Dinge die ich wichtig fand. Und, was noch schrecklicher war, ich musste mir auch Zeit nehmen für Dinge, die ich überhaupt nicht mochte, wie den Zahnarzt zum Beispiel. Dort herrscht übrigens auch heute noch eine ganz andere Zeitzone. Nirgends auf der Welt dauern fünf Minuten so lange wie beim Zahnarzt. (Hätte ich nicht so ein gespaltenes Verhältnis zum Zahnarzt, hätte ich schon lange versucht, mir diese Zeitdehnung anzueignen, da sie hin und wieder sicher ganz praktisch wäre.)
Mit Erschrecken stellte ich fest, dass ich ganz offensichtlich nun Erwachsen war, denn plötzlich war ich diejenige, die an die von Uhr und Kalender vorgegebenen Zeiten festhielt. Dieser Schlag der Erkenntnis warf mich sozusagen ins Kleinkindalter zurück. Zum Glück habe ich mich davon erholt. Besser gesagt, ich musste, denn ich hatte dafür einfach keine Zeit.
Mein Leben begann noch rascher zu verlaufen, die Zeit raste nur so dahin, und ich bemerkte die Relativität von Zeit. Ob ich da mit Einstein konform ging, wage ich zu bezweifeln, aber trotzdem passte ich seine Theorie meinen persönlichen Einsichten an.
Da gab es Zeiten, die ich lieber vergessen hätte, und Zeiten, die ich gerne zurückdrehen würde. Zeiten, die besser nicht besprochen werden, und Zeiten, die immer mal wieder aufleben. Eben alles relativ.
Als ich die Firma übernahm, glaubte ich Herrn Einstein alles, denn nun war auch für mich klar: Zeit ist Energie! Manchmal kann man die beiden beliebig austauschen, und manchmal kommen sie als siamesische Zwillinge daher. Meistens habe ich keinen der beiden in Griffweite, sonst hätte ich dieser unheiligen Allianz wohl schon den Hals umgedreht.
Im Moment stehle ich mir etwas Arbeitszeit, was belegt, dass ich im Grunde meines Herzen nicht mehr von der Theorie der Handelsware abgekommen bin, auch wenn es heute dabei eher wie auf einem arabischen Basar zugeht. Vielleicht kann ich ja irgendwo ein Trinkgeld abstauben? Nein, wohl nicht, der nächste Termin sitzt schon draußen, die Deadline rückt näher, und ich hätte heute doch noch so viel erledigen wollen. Ich fürchte, ich habe irgendjemand zuviel Trinkgeld gegeben, denn mir fehlt definitiv schon wieder einiges an Zeit.


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