STORIES


Einleitung zum Fantasyroman
Die zweite Welt

von Peter Horn



Für LeserInnen ab ca. 10 Jahren
Umfang: knapp 400 Seiten

Das Buch erzählt die Geschichte des 14-jährigen Florian, der nach dem Unfalltod seines Vaters gemeinsam mit seiner Mutter bei den Großeltern lebt. Für Florian ist die Welt, in der er lebte und in der er sich sicher und geborgen fühlte, gekippt. Er fühlt sich verzweifelt, verloren und traurig. Er kann seine Gefühle nicht einordnen und zieht sich meist in den hinteren Teil des Gartens der Großeltern zurück. Dort befindet sich ein altes steinernes Kreuz. Eines Tages schläft Florian bei dem Kreuz ein, und als er abends wieder aufwacht, hat sich die Welt um ihn herum auch im wahrsten Sinne des Wortes völlig verändert.
Das Haus der Großeltern ist zu einem alten Wirtshaus geworden, die kleine Stadt rundum zu einer finsteren Moorlandschaft. Im Wirtshaus wird der verwirrte Florian freundlich aufgenommen. Er macht die Bekanntschaft von Quassel, einem grünen, gummiballähnlichen Wesen, vom kleinen Zwiderwurz, einem zwergenartigen uralten Männlein, das seinem Namen alle Ehre macht, und nicht zuletzt von Lisa, einem Mädchen in seinem Alter, das so wie Florian seine Eltern verloren hat. Der Friede wird jedoch jäh durch den Überfall der Moorreiter unterbrochen, die Jonas entführen, einen Jungen, der im Wirtshaus zu Besuch war. Da Florian weder weiß, wo er sich befindet, noch, wie er eigentlich zu dem Haus im Moor gelangt ist, beschließt er, sich seinen neuen Freunden anzuschließen und auf die Suche nach Jonas und seinen Entführern zu machen ......

Das Gerüst

Das Kreuz bestand aus grobem hellgrauen Stein und befand sich in der hintersten Ecke des Gartens, auf einer kleinen Kuppe über dem Fluss. Es gab hier keinen Zaun, der Fluss begrenzte das Grundstück. Wie die meiste Zeit während der letzten Tage saß Florian auch heute im Gras. Er lehnte mit dem Rücken am Kreuz, er spürte den rauen Stein durch den dünnen Stoff des Shirts. Er las in dem Gruselwälzer, den er eine Woche vorher in der Bücherei der kleinen Stadt entlehnt hatte. Er war aber noch im ersten Drittel des Buches. Einem Spaziergänger am Fluss wäre wohl nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Er wäre nicht auf die Idee gekommen, dass Florian den Sinn dessen, was er las, gar nicht mitbekam; aus der Entfernung hätte er auch nicht gesehen, dass dem Jungen immer wieder die Buchstaben vor den Augen verschwammen.
Ab und zu ließ Florian das Buch in seinen Schoß sinken. Dann starrte er in den Himmel oder einfach vor sich hin; oder er streckte sich und strich gedankenverloren über das tropfenartige Symbol im Teil des Kreuzes, der über seinen Kopf ragte.
Manchmal döste Florian auch ein, aber nicht für lang. Denn auf einmal fuhr er auf, als hätte er im Traum etwas gesehen, vor dem er blitzartig die Flucht zu ergreifen versuchte. Es war immer dieselbe Szene, die Florian miterlebte, untertags oder in der Nacht. Sobald er die Augen schloss, sah er seinen Vater vom Gerüst auf der Baustelle fallen. Es war, als wäre er an einen Stuhl vor dem riesigen Bildschirm in einer Folterkammer gebunden; und sein Finger auf der Replay-Taste festgeklebt, sodass er diese Szene, diesen Traum, immer und immer wieder miterleben musste. Darin rückte sein Vater den gelben Helm auf seinem Kopf zurecht. Er lachte dabei und machte über die Schulter eine Bemerkung zu einem der Arbeiter. Der stand aber so weit abseits, dass Florian nur seine rechte Hand sehen konnte. Sie hielt einen schweren Hammer. Von der zerschundenen Oberfläche dieses Hammers in Großaufnahme ein schneller Schnitt zu Florians Vater, der die Leiter an der Seite des Gerüsts hochkletterte. Es war ein heißer Tag, die Sonne knallte direkt auf diesen Teil der Baustelle. Der Vater kletterte in gleißendem Licht. Plötzlich hielt er mitten auf der Leiter an. Er senkte den Kopf, er schüttelte ihn zweimal, dreimal. Sein Griff an der Leiter verkrampfte sich.
Doch gleich darauf war dieser Moment der Unsicherheit auch schon wieder vorüber. Florians Vater kletterte weiter, war auch schon ganz oben auf dem Gerüst. Er war es gewohnt, sich in dieser Höhe zu bewegen. Seine Schritte waren genauso fest und bestimmt wie auf dem Erdboden. Es waren diese Schritte, diese kraftvollen Bewegungen, die Florian schon als kleines Kind die Gewissheit gegeben hatten, dass sein Vater jemand war, der genau wusste, wo es lang ging. Einer, dem Florian vertrauen, in dessen Nähe ihm nichts passieren konnte.
In Florians Vorstellung war dieser Film nur zu dem einen Zweck gedreht worden, nämlich um ihm den Schlaf zu rauben, um ihn verschwitzt und mit einem Schrei hochschrecken zu lassen, wann immer er ihn träumte. Wann immer er dabei zu diesen beruhigenden Gedanken über seinen Vater gekommen war, kippte die Handlung. Der Verlauf steigerte sich ins rasend Schnelle; gleichzeitig war dabei nichts Verwischtes. Florian sah alles so quälend deutlich, so superzeitlupenartig langsam und ins schier Endlose gedehnt. Es waren genau fünf kraftvolle, federnde, beruhigend sichere Schritte, die der Vater hoch oben auf dem Gerüst ging. Dann das Einknicken des linken Knies, völlig unvermittelt. Der Griff zum Geländer des Gerüsts. Die Finger, die daran abglitten, die keinen Halt fanden. Diese marionettenhafte Drehung des Körpers. Das Krachen, das die totale Lautlosigkeit der Bilder davor und danach wie ein Riss durchschnitt. Die zwei Stangen des Geländers, die eigentlich fix miteinander verbunden sein sollten. Die trotzdem auseinander brachen, als der Körper des Vaters gegen sie prallte.
Das Straucheln des Vaters, sein hilfloses Rudern mit den Armen in der heißen hellen Luft.
Der Moment, als seine Füße den Kontakt mit den Gerüstplanken verloren, er zur Seite fiel. Und der Film vor Florians Augen kippte ...
kippte ...
kippte ...
...und Florian das Gefühl für die Wirklichkeit verlor, als sein Vater auf dem Boden aufschlug.

Die Pranke

Noch nie zuvor in seinem Leben hatte sich Florian so mutterseelenallein gefühlt wie in diesen Minuten. Er war von der Nacht umgeben, vom kalten Licht des vollen Mondes, von der kahlen Ebene des heimtückischen Moores. Im Lager brannte kein Feuer, keine Lampe. Vielleicht blieben sie auf diese Weise unentdeckt von den Skeletten. Doch auch Florian hatte deshalb keinen Hinweis, welche Richtung er einschlagen sollte. Anscheinend war er den Pixies länger gefolgt und hatte sich weiter vom Lager entfernt, als er geglaubt hatte.
Florian griff sich an den Kopf, er drehte sich im Kreis. Er war ratlos, er wusste nicht weiter. Er schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel: dass dieser Alptraum zu Ende sein würde, wenn er sie wieder öffnete.
Aber nichts. Keine Spur von dem Hügel im Moor, vom Lager, von seinen neuen Freunden.
Also hab ich mich wirklich verirrt!, dachte Florian. Hatte ihn Quassel nicht eindringlich gewarnt, er dürfe das Lager unter keinen Umständen verlassen? Hatte Florian ihn nicht ausgelacht und gemeint, das sei doch ohnehin klar und er sollte ihn nicht wie ein kleines Kind behandeln?
Genauso hatte er sich nun aber verhalten. Er hatte sich vom Zauber der Irrlichter einfach verblenden lassen.
Eine Möglichkeit gab es noch. Er musste versuchen, die anderen auf sich aufmerksam zu machen ...
Florian begann zu rufen. Er rief und rief, er schrie sich die Seele aus dem Leib. Kurz wurde er still und lauschte ins Moor. Aber das Sausen des Windes war seine einzige Antwort. So fing er wieder an mit dem Rufen.
Als er nur noch krächzen konnte, verstummte er. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und trotzdem zitterte er vor Kälte. Seine Knie gaben nach. Er sank zu Boden. Er schlang seine Arme um den Körper, so kauerte er in der Nacht. Er kam sich winzig vor, unbedeutend und verlassen und erschreckend verletzbar. Gleichzeitig wurden ihm Geräusche bewusst, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Das Blubbern und Schmatzen des Schlamms, der sich wie ein lebendiges Wesen bereits auf sein nächstes Opfer freute. Florian wusste, dass er sich nicht mehr lang zusammenreißen konnte. Ihm war klar, dass ihn jetzt gleich wirklich Panik überwältigen würde.
Zumindest beging er nicht den Fehler, weiter im Moor herumzulaufen, in dem irrigen Glauben, das Lager vielleicht doch noch finden zu können. Florian bewegte sich nicht vom Fleck. Sein einziger Gedanke war: Wenn sie aufwachen und ich bin nicht da, machen sie sich auf die Suche nach mir! Dann werden sie mich finden. Ganz sicher ...
Auf einmal berührte etwas Weiches seine Wange. Etwas Flüchtiges, Sanftes. Wie eine Schneeflocke, dachte Florian.
Er schaute auf. Es war Nebel. Ein milchiger Schleier war aufgezogen. Er bedeckte den Boden, war nur dort dicht; weiter oben drifteten nur einige nebelige Finger durch die Nacht. Einer dieser Finger hatte über Florians Wange gestreichelt.
Er bewegte sich langsam, wiegte sich fast wie in einem unhörbaren Rhythmus. Ein Leuchten kam aus dem Nebel. So wie am Tag aus den Wolken am Himmel.
Das Leuchten schien Florian zu locken. Gleichzeitig wurde der Nebel dichter. Wie durch unsichtbare Ventilatoren aufgewühlt, wallten die Schwaden in die Höhe. Wie bei einem Rockkonzert!, fuhr es Florian durch den Kopf. Doch Konzerte waren etwas, das in die Welt gehörte, die er kannte. Mit dem, was er gerade erlebte, hatten sie nichts zu tun.
Vor Florians Augen wuchsen die Nebelschwaden zu einer weißen Wand. Sie umgab den Jungen, sie kreist ihn ein. Und über seinem Kopf schloss sie sich.
Der Nebel war ein Käfig. Und Florian war darin gefangen.
Langsam stand Florian auf. Er streckte einen Arm aus, zog ihn wieder zurück. Sein Gefängnis reagierte auf seine Bewegungen. Je nachdem, was Florian tat, wich der Nebel zurück oder dehnte sich aus. Gerade so, dass er ihn nicht berührte. Was war denn das?, dachte Florian verzweifelt. Hatte er in dieser Nacht nicht schon genug erlebt? Konnten die Schrecken nicht endlich ein Ende haben?
Währenddessen wurde das Licht aus dem Nebel immer intensiver, immer greller. Geblendet kniff Florian die Augen zusammen. War da nicht etwas im Nebel? Unruhige Flecken, dunkle Schatten tanzten um ihn herum. Bildete er sich das nur ein oder ... wurden diese Schatten größer?
Einen Moment später wünschte sich Florian, die Antwort nie erfahren zu haben.
Eine riesige Hand schoss aus dem Nebel, eine Pranke, zweimal so groß wie er selbst. Finger wie uralte Baumstämme, eisern und dicht behaart. Nägel, so dick wie versteinerte Rinde, so spitz wie die Klingen von rostigen Schwertern.
Mit einem Brüllen, das aus ihr zu kommen schien, packte die Pranke Florian.
Umfasste den zappelnden, schreienden Jungen.
Und zog ihn nach unten. Hinunter in den schlammigen, gierigen Schlund des Moores.

***


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