STORIES


FLITZ

von Fred H. Schütz



In der vergangenen Nacht habe ich, so scheint mir, seinen Ruf vernommen - schwach, wie aus weiter Ferne von einem sanften Wind hergeweht, der hier immer um die Ecke streicht: "Wiiih," wie der Schrei eines Raubvogels ...
Aber welchen Raubvogel hört man in der Nacht? Es kann nur Flitz gewesen sein! Zudem hat Catherine mir berichtet, daß Onyx ihn getroffen hat. Er hat auch gesagt, daß Flitz' goldenes Kleid einen grünen Schimmer aufweist. Ich schließe daraus, daß er auf Verdigris gewesen ist, jener Welt nahe dem Zentrum des Universums, wo Mister Ed und ich seinerzeit Wanda zurückgelassen hatten - was mich wiederum Tanas Freundschaft kostete. Aber darüber erzähle ich - vielleicht - ein andermal.
Auf Verdigris ist alles was der Luft ausgesetzt ist mit einem grünspanartigen Pilzbewuchs überzogen, und die Leute dort lassen den Dingen ihren Lauf. Als wir zurückkamen war Mister Ed auch davon befallen und ich hatte eine Heidenarbeit, das Zeug herunter zu bekommen. Nicht daß er es mir gedankt hätte, aber, na ja. Vergeben und vergessen - ich habe ihn ja nie wiedergesehen.
Seinem Schrei mehr als seinem Aussehen verdankt Flitz seinen deutschen Artnamen; man nennt ihn und seine Artgenossen "Vogel Greif." Zum Teil kann ich das auch verstehen, denn er sieht von vorne gesehen wirklich wie ein riesiger Adler aus - von hinten betrachtet gleicht er allerdings einem Löwen. Er ist aber dennoch kein Zwitterwesen, sondern er ist einfach so gebaut. Der Urvogel Archeopteryx hatte ja auch gleichermaßen ein Federkleid wie Fell, und Dinosaurier mit Haarkleid statt Schuppen hat es vorher auch schon gegeben ...
Für mich ist Flitz aber allzeit ein Griffin.
Ich habe ihn Flitz getauft, weil er so wahnsinnig schnell ist. Von hier bis zu seinen Jagdgründen jenseits des Ural brauchte er keine halbe Stunde; das soll ihm mal ein Düsenjäger nachmachen!
Seine Flügelspannweite beträgt ja auch weit mehr als die eines Düsenjägers, obwohl er niemals bei all seiner Schnelligkeit einen Überschallknall wie dieser verursachen würde. Wie er das zuwege bringt, kann ich allerdings nicht erklären. Er hat mich nie auf seine Ausflüge mitgenommen ...
Wenn du bei gutem Wetter ins Freie gehst und plötzlich verdunkelt sich der Himmel, obwohl kein Wölkchen am Himmel steht, kann du davon ausgehen, daß Flitz über dir schwebt. Wenn du ihn dennoch nicht siehst, so liegt es daran, daß er so schwer auszumachen ist. Am besten siehst du ihn wenn du nicht hinguckst.
Aber die Leute sind kaum so aufmerksam. Vielleicht hören sie den Schrei, den er ausstößt wenn er mich erspäht, und vielleicht bleiben sie sogar stehen und schauen in die Höhe. Natürlich sehen sie ihn nicht, und dann gehen sie achselzuckend weiter; man hat ja schließlich wichtigeres zu tun als nach irgendeinem Vogel Ausschau zu halten ...
Ich habe ihn von Everrest heruntergeholt als er noch ein Baby war. Oh, ich meine nicht den Berg im Hymalaya den alle kennen - der schreibt sich mit nur einem R und im Vergleich zum wahren Everrest (mit zwei R, bitteschön) ist er ein Maulwurfshügel - der wahre Everrest stellt in punkto Höhe sogar den Mount Olympus auf dem Mars in den Schatten. Entsprechend war meine Mühe hinaufzukommen (trotzdem ich damals noch nicht behindert war) und unterwegs stellte sich mir auch noch ein zotteliger Yeti in den Weg und forderte seinen Zoll. Na ja, ich habe ihn mit einer Flasche Schampoo besänftigt, die er auf einen Zug austrank, wovon sein Fell augenblicklich schneeweiß wurde - er wurde davon aber auch so besoffen, daß er mir auf dem Rückweg, einhändig an einer Felsnase zwanzig Kilometer über freiem Fall schwingend nur fröhlich zuwinkte.
Etliche Handbreit - genau genommen, eine gute Manneshöhe - über der höchsten Felsspitze saß einer mitten im Garnichts, dem du nicht bei Nacht begegnen möchtest, den ich Fhafhrd nennen mußte und der sich als mein Stiefonkel ausgab. Ich hatte bis dahin allerdings nicht geahnt, daß ich auch außerirdische Verwandte habe. Der übergab mir ein bernhardinergroßes und ebenso schweres Bündel warmen goldschimmernden Fells und gerade sprießender Federn und bedeutete mir, daß ich mich gefälligst bestens um das Kerlchen zu kümmern hätte.
Mit dem nicht unbedeutenden Gewicht auf den Schultern fünfundzwanzig Kilometer senkrechte Wand hinunter zu kommen war ein Alptraum - ich bekam damals zum ersten Mal zu spüren, welch gefährliche Klauen Flitz hat - aber zum Glück ließ mich der Yeti unbehelligt. Ich hatte ihn übrigens seiner roten Nase wegen Rudolph getauft und der Name schien im zu gefallen.
Flitz gedieh prächtig. Man mußte sich allerdings vorsehen, ihn zu berühren, denn seine Federn sind scharf wie Rasierklingen. Seine gesamte Vorderseite vom adlerähnlichen Schnabel bis zu den Klauen seiner Vorderfüße ist goldgefiedert, nur seine Schwingen gleißen im Licht in allen Farben des Regenbogens. Der Rest von ihm ist mit einem seidigweichen feinen Goldfell bedeckt, sodaß man ihn von hinten für einen Löwen halten könnte - obwohl kein Löwe jemals diesen satten Goldton aufweist.
Wer seine Augen sieht und ihn nicht kennt (und daher nicht weiß, welch lieber Kerl mein Flitz ist) erfährt einen Schauer kalter Furcht. Seine Augen sind klar wie Aquamarine - durchsichtig weiß wie Diamanten mit einer Spur von Blau - und sein Blick ist, na ja, adlerartig; man muß sich daran gewöhnen, wenn man sich nicht schon vorher zu Tode fürchtet ...
Aus dieser begeisterten Schilderung kannst du ersehen, wie lieb mir mein Flitz geworden ist!
Seine Lieblingsbeschäftigung - das heißt, wenn er nicht gerade mit der Jagd und dem Vertilgen seiner Beute mit anschließender ausgiebiger Reinigung ganz nach Katzenart beschäftigt war, war sich auf seine Keulen hinter mich zu setzen und über meine Schulter zu schauen, was ich gerade las. Ich besaß damals noch keinen Computer und mußte alle meine Post mit der Schreibmaschine erledigen. Die Briefe, die ich damals aus aller Welt bekam hat er alle mitgelesen - na ja, zumindest tat er so als ob er lesen könnte. Ich kraulte ihm dann unter dem Kinn und er streckte mir seinen Kopf her während ihn Wonneschauer überliefen ...
Nachdem das Mörchen, die ihn übrigens geflissentlich übersieht und überhaupt nicht wahrnimmt, daß er existiert, ihm einmal schmerzhaft auf den Schwanz getreten war, kringelte er ihn ganz wie ein Kätzchen um sich wenn er so dasaß. Dem Aussehen nach ist der ein Löwenschwanz, aber ich weiß, der er die Kraft und Geschmeidigkeit eines Python besitzt - Flitz könnte damit einen Bären erschlagen wenn er wollte. Soweit ich weiß, hat er so etwas jedoch nie getan; außer seiner Beute gegenüber hat er sich niemals mordlüstern gezeigt.
Bis er auf Sinister Sister traf.
Ob sie einen Namen hat, auf den sie hört, weiß ich nicht; Stiefonkel Fhafhrd hat sie Sinister Sister genannt und so habe ich sie in Erinnerung. Wer glaubt, Hexen seien eigentlich recht nette Leute, die sich nur einer alten Religion verschrieben hätten, irrt gewaltig. Hexen sind von Natur aus böse und sie halten sich nur deshalb von allem fern, weil sie fürchten, man könne ihnen Gleiches mit Gleichem vergelten - der Spruch "Ein Schelm wer Schlechtes denkt" hat auch eine negative Bedeutung. So hat sie zum Beispiel Stiefonkel Fhafhrd verhext, sodaß er nicht mehr normal sprechen kann. Er muß flüstern wenn er etwas sagen will, denn jedesmal wenn er seine Stimme erhebt geht eine Steinlawine ab, die alles auf ihrem Wege unter Tonnen von Geröll begräbt.
Seitdem hat er ein einziges Mal seine Stimme zum Schaden eines anderen erhoben. Einem britischen Herausgeber der sich mit Catherine angelegt hatte ließ er eine Ladung Kieselsteine auf's Dach prasseln und der Kerl starb vor Schreck. Das war eine Lehre für den Stiefonkel, aus der er die Konsequenz zog, sich von allem zurückzuziehen. Seitdem lebt er im Nichts über Everrest.
Welchen Grund auch immer Sinister Sister gehabt haben mag, hierher zu kommen, ist mir verborgen geblieben. Sie hat sich hergeschlichen und Flitz, der bereits so groß geworden war daß er nicht mehr ins Haus kommen konnte und es sich deshalb auf meinem Dachfirst bequem machte, hat sie gestellt.
Als ich eines Morgens aus dem Fenster blickte, sah ich die beiden in meinem Garten. Es war Winter und der Schnee fiel in dicken Flocken. Durch das Schneetreiben erschienen sie mir als bizarre Schatten; sie standen einander gegenüber wie Gladiatoren die sich vor dem Kampf gegenseitig taxieren. Flitz stand sprungbereit mit leicht angehobenen Schwingen und vorgerecktem Kopf. Sein Schnabel war etwas geöffnet, woraus ich schloß, daß er drohend fauchte - zu hören war das natürlich nicht. Die hagere Gestalt der Hexe stand geduckt und ihr strähniges Haar und ihr finsteres Gewand flatterten in einem Wind, der nicht hier wehte. Als sie mir ihre abstoßende Visage zuwandte sah ich ihre Augen die wie rote Kohlen glühten, und erschrak vor dem abgrundtiefen Haß der mir daraus entgegenschlug ...
Außer dem Flattern bemerkte ich keine Bewegung an ihnen. Mein alter Vergleich mit dem eigenen Monument wurde mir auf erschreckende Weise vor Augen geführt. Sie standen da wie alte Kämpen, von denen keiner den anderen besiegen kann, die jetzt nur darauf warten, daß einer von ihnen einen Fehler macht. Ich hoffte inständig, daß dies nicht Flitz sein würde ...
Am nächsten Morgen standen sie immer noch da. Es hatte zu Schneien aufgehört und ich konnte sie jetzt deutlich sehen. Kleine Häufchen von Schnee hatten sich auf ihnen gebildet, was bewies, daß sie seit gestern kein Glied gerührt hatten. So blieben sie den ganzen Tag stehen, ohne sich zu rühren oder in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Ich wagte nicht, hinauszugehen, weil ich Flitz unter keinen Umständen ablenken wollte ...
Als die Dämmerung hereinbrach, standen sie immer noch unbeweglich voreinander. Und auch den nächsten Tag und noch sechs weitere ...
Als ich am Morgen des neunten Tages hinausschaute, waren sie verschwunden. Einer der beiden hatte die Trance gebrochen und war geflohen, der andere hinterdrein - aber welcher war geflohen und welcher war der Verfolger?
Ich habe sie nicht wieder gesehen. Gelegentlich erhielt ich irgendeine obskure Nachricht - immer nur von oder über Flitz, nie der Hexe; aber Flitz war es natürlich auch, der mich interessierte - wer will schon was von einer Hexe wissen?
So soll er es irgendwie geschafft haben, dieses Universum zu verlassen. Wenn er es tat, muß es ein Akt höchster Not gewesen sein - ich wußte ja nicht, ob er die Hexe verfolgte oder vor ihr floh. Kurz darauf erhielt ich eine Nachricht von einem Wesen, das sich Sie-Er nannte. Fragt mich lieber nicht, wie die Nachricht zu mir gelangte, denn ich könnte es nicht erklären. Dieses Wesen teilte mir mit, es befände sich in einer Art Taschenuniversum und Flitz sei schwer verletzt zu ihm gekommen; er würde lange Zeit brauchen zu genesen und es - Sie-Er - würde ihn pflegen.
Danach erhielt ich keinerlei Nachricht mehr - jahrelang.
Vor Kurzem teilte mir Catherine mit, Onyx habe Flitz getroffen. Er sei frisch und munter gewesen und guter Dinge. Nur sein goldenes Gefieder, sagte sie, sei von einem grünlichen Schimmer überzogen. Daraus schloß ich, daß er auf Verdigris gewesen sein muß und sich dort diesen scheußlichen Schimmelpilz eingefangen hatte. Das Zeug muß schleunigst behandelt werden, weil es stark juckt. Ich bat sie, ihm durch Onyx mitteilen zu lassen, daß ich sehnlichst auf ihn warte, und Onyx ließ mir ausrichten, daß er das getan hat.
Letzte Nacht habe ich seinen Schrei gehört, aber warum kommt er nicht zu mir herunter? Er müßte doch jetzt wissen, das ich nicht in den Garten komme, weil ich nicht mehr gehen kann! Das wirft die Frage auf, ob Onyx ehrlich gewesen ist - wie weit kann man einem noch viel zu jungen kohlrabenschwarzen Griffin trauen?

ENDE



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