STORIES


IN DIE SCHATTEN

Folge 10

von Thomas Kager



Was bisher geschah:
Sven wurde von Unbekannten entführt und mußte Schaukämpfe austragen. Als er ge-meinsam mit Wildfire und Moonshadow end-lich frei kommt, stehen sie in Seattle ohne Habe und Identität praktisch vor dem Nichts. Durch die Vermittlung von Ghost, dem Anfüh-rer einer Straßengang, erhalten sie den Auf-trag einen Transport zu bewachen. Nach ein paar kleineren Zwischenfällen haben sie die Fracht abgeliefert und sind nun auf der Rück-reise.

Wildfire musterte bereits seit mehreren Mi-nuten eingehend die Landkarte auf dem Ter-minal.
"Tinkerbell?" fragte sie schließlich. "Wie eng ist eigentlich der Zeitplan für diese Liefe-rung?"
Die kleine Elfe unterbrach ihr Gespräch mit Sven. "Gar nicht eng. Ob wir den ... das Zeug nun ein paar Tage früher oder später ablie-fern, spielt keine Rolle." Ganz bewußt ver-mied sie das Wort "Dünger", um nicht schon wieder an diese entwürdigende Fracht erin-nert zu werden. "Warum fragst du?"
Wildfire warf noch einmal einen Blick auf die Karte. "Wenn wir nun sowieso schon einen Umweg machen mußten, wäre es dann viel-leicht möglich, daß wir noch einen kurzen Abstecher hierher machen?"
Sie tippte auf einen Ort abseits der Strecke. Tinkerbell ließ sich vom Navigationssystem die neue Route und die daraus resultierenden Änderungen anzeigen und verglich sie mit den Transportvorgaben.
"Ist gar kein Problem. Das schaffen wir lo-cker."
"Danke dir, Tinkerbell." Wildfire lächelte der kleinen Elfe zu, dann lehnte sich entspannt im Beifahrersitz zurück.
"Was ist denn das für eine Stadt?" wollte Sven wissen.
"Ich kenne sie - von früher", entgegnete Wildfire ausweichend und blickte aus dem Fenster.

***


Mit einem kurzen Blubbern verstummten die Motore des Lastwagenzuges. Der Wart trat zögernd aus der Tür und starrte mit ungläubi-gem Blick auf das Riesengefährt, das in seine Tankstelle eingefahren war.
"Einmal voll machen und die Scheiben put-zen", grinste ihn Tinkerbell von ihrem Führer-stand herab an. Den günstigen Spritpreis mußte sie einfach ausnutzen. Hinten spran-gen Wildfire und Sven von ihrer Kabine auf den rissigen Asphalt.
"Paßt auf euch auf", brummte Frank und streckte sich ausgiebig. "Und meldet euch, falls es Probleme geben sollte."
Sven winkte kurz mit dem kleinen Funkge-rät, dann machten sie sich auf dem Weg in die Stadt.
Es war eine typische Kleinstadt im provinz-amerikanischen Stil, die von den Amerindia-nern übernommen worden war, nachdem die Native American Nations die Angloamerikaner verdrängt hatten. Es war sehr ruhig und die beiden trafen nur auf wenige Einwohner. Es wirkte fast schon ein wenig verlassen.
Wildfire sah sich die ganze Zeit aufmerksam um und Sven betrachtete dabei interessiert ihr Mienenspiel.
"Hat sich viel verändert?" wollte er schließ-lich wissen.
"Was?" fragte Wildfire etwas abwesend, dann nickte sie. "Ja, einiges. Aber nicht so sehr, als daß ich es nicht wieder erkennen würde."
"Ist es schon lange her?"
"In einem früheren Leben", murmelte sie vor sich hin.
Sven lächelte verstehend und folgte Wildfire weiter durch die Straßen. Vor einem Ge-mischtwarenladen blieb sie stehen und blickte durch die Schaufenster. Auf ihrem Gesicht zeichneten sich sehr widerstrebende Gefühle ab.
"Es hieß zwar früher anders, aber hier gab es einmal den besten Kaugummi mit Wildbee-rengeschmack", sagte sie leise.
"Dann laß uns nachsehen, ob es immer noch so ist", meinte Sven, nahm sie bei den Schultern und bugsierte sie schnell durch die Tür. Ein wenig ärgerlich schüttelte sie seine Hände ab und schaute ihn giftig an, aber wo sie schon einmal hier war, konnte sie auch weiter machen. Zielsicher schritt sie durch die Regale, schnappte sich eine der Kaugummi-packungen, riß sie auf und schob sich einen Streifen in den Mund. Etwas zaghaft begann sie zu kauen, doch mit jedem mal wurde ihr Grinsen breiter.
"Und, wie ist er?" wollte Sven wissen.
"Prima", urteilte Wildfire und kaute genüss-lich weiter. Während sie ihren Blick durch den Laden schweifen lies, legte sich ein etwas wehmütiger Ausdruck auf ihr Gesicht.
Sven wollte sie schon fragen, woran sie dachte, doch plötzlich weiteten sich ihre Au-gen und ihre Kiefer stellten die Bewegung ein. Er folgte ihrem starren Blick und sah eine alte Amerindianerin mit tiefen Runzeln und grau-em Haar. Auf einen Stock gestützt schlurfte sie zwischen den Regalen herum, dabei den Blick fest auf einen kleinen Einkaufszettel gerichtet.
"Was ist?" fragte Sven leise, doch Wildfire schien ihn nicht zu bemerken. Sie wechselte in den nächsten Gang und schaute der alten Frau ungläubig entgegen. Diese blieb stehen, als sie merkte, daß jemand in ihrem Weg stand und blickte hoch. Einen Augenblick sa-hen sich die beiden Frauen fragend an.
"Wurde aber auch höchste Zeit, daß du dich wieder einmal blicken läßt", keifte die Alte mit heiserer Stimme, doch das Lächeln in ihren Augen strafte ihren Tonfall Lügen.
"Du ... ", begann Wildfire stockend. "Du kennst mich noch?"
Sven überraschte die Frage nicht. Hatte er doch selbst erleben müssen, daß ihn nicht einmal mehr seine eigene Chefin wieder er-kannt hatte. Doch die Alte zog verwundert die Augenbrauen hoch, dann fragte sie sanft. "Aber warum sollte ich dich nicht mehr ken-nen, Kleiner Puma?"
"Großmutter Wachiwi!" rief Wildfire und warf sich der Alten an den Hals. Diese war von dem Gefühlsausbruch so überrascht, daß ihr Stock und Einkaufszettel aus den Händen fielen, doch dann schloß sie Wildfire freudig in die Arme. Sie sagte ein paar sanfte Worte in einer Sprache, die Sven nicht verstand und strich Wildfire sanft über die Haare. Diese antwortet schluchzend in der gleichen Spra-che.
Schließlich trennten sie sich wieder zöger-lich. Verlegen wischte sich Wildfire ein paar Tränen aus dem Gesicht und drückte der Al-ten Stock und Zettel wieder in die Hände.
"Großmutter, ich muß dir unbedingt jeman-den vorstellen." Sie griff Sven am Arm und zog ihn vor die alte Indianerin. "Großmutter, das ist Sven. Sven, das ist meine über alles geliebte Großmutter Wachiwi."
"Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen", sagte Sven, der die ganze Szene etwas ver-dutzt verfolgt hatte und reichte Wildfires Großmutter die Hand. Diese schüttelte sie herzlich und mit überraschend festem Druck, während sie ihn eingehend musterte. Sie be-saß die gleichen tiefdunklen Augen, wie ihre Enkelin.
"Ah", machte sie schließlich. "Gute Medizin ist in dem Mann der Tochter meines Sohnes."
"Ähm, wir sind nicht verheiratet, Großmut-ter", korrigierte Wildfire etwas verlegen und auch Sven winkte ab.
"Nicht? Das ist schade", meinte sie mit ei-nem enttäuschten Blick auf die beiden. "Auch wenn er kein Mann unseres Stammes ist."
"Großmutter", begann Wildfire entrüstet, doch die Alte winkte ab. "Ja ja, ich sage schon nichts mehr. Wenn schon mein Sohn nicht auf mich gehört hatte, warum sollte es dann die Tochter meines Sohnes machen?" Sie rollte wild mit den Augen, doch dann hak-te sie sich bei Wildfire unter. "Du mußt mir unbedingt erzählen, wie es dir seit deinem letzten Besuch ergangen ist und was du er-lebt hast."
"Aber natürlich, Großmutter", versicherte Wildfire und legte lächelnd eine Hand auf die ihre.
"Zuvor brauche ich aber noch Joseph. Jo-seph!" krächzte die Alte laut und sofort eilte der Ladeninhaber herbei. "Joseph, hier ist eine Liste der Sachen, die draußen noch feh-len. Sorge bitte dafür, daß sie auf den Fest-platz kommen, bevor Schwarzer Bär noch alles absagen muß, um die Geister nicht zu erzürnen."
"Aber natürlich, Großmutter Wachiwi", versi-cherte er eifrig und nahm den Zettel in Emp-fang. "Ich werde mich sofort darum kümmern. Ihr könnt Euch auf mich verlassen." Ge-schwind huscht er davon und Wildfire führte ihre Großmutter nach draußen.
"Ein Fest?" fragte sie dabei.
"Ja ja", versicherte Großmutter Wachiwi ni-ckend. "Und meine Schülerinnen werden sich dabei wieder bis auf die Knochen blamieren", jammert sie. Doch Wildfire lachte nur. "Groß-mutter, noch keine einzige deiner Schülerin-nen hat sich jemals blamiert." Zu Sven ge-wandt erklärte sie: "Großmutter Wachiwi ist die beste Lehrerin unserer Tänze und Bewah-rerin der alten Traditionen, die es in den Sioux Nations gibt."
Großmutter Wachiwi grummelte unwirsch, doch Sven konnte den Stolz über das Lob in ihren Augen sehen.
"Ihr bleibt natürlich und feiert mit. Besonders du", dabei rammte sie Wildfire ihren Ellbogen in die Seite. "Kleiner Puma hat schon viel zu lange an keinem Fest ihres Stammes mehr teilgenommen."
"Aber Großmutter, ich kann das doch gar nicht mehr", meinte Wildfire, aber die Alte schnaubte nur verächtlich. "Was ich einem Mädchen beibringe, das vergisst sie nicht mehr."
"Wir bleiben natürlich mit großer Freude zu dem Fest", erklärte Sven, bevor Wildfire noch einmal protestieren konnte. Das brachte ihm von Großmutter Wachiwi ein dankbares Lä-cheln ein. Von seiner Freundin allerdings ein banges Stirnrunzeln.
Vor der Tür des Ladens blieb Wildfire so ab-rupt stehen, daß Sven fast gegen sie gelaufen wäre. Der hoch gewachsene Amerindianer und sie sahen sich überrascht an. Fast so wie vorhin Wildfire und ihre Großmutter.
"Puma", sagte der uniformierte Mann schließlich und nickte grüßend.
"Tatanka", antwortete Wildfire mit belegter Stimme und erwiderte das Nicken.
"Großmutter Wachiwi", grüßte er auch die Alte, die die beiden aufmerksam beobachtete. Dann sah er Sven prüfend an.
"Das ist Sven", erklärte Wildfire rasch. "M - ein Freund. Sven, das ist Tatanka. - ein alter Freund." Tatanka warf ihr kurz einen abschät-zenden Blick zu.
"Willkommen in unserer Stadt", grüßte er dann Sven kühl. Sven war die leichte Beto-nung auf "unserer" ebenso wenig entgangen, wie das Polizeiabzeichen auf der Brust des Mannes. Es beunruhigte Sven, daß ihn der Gesetzeshüter mit merklicher Ablehnung musterte. Dabei konnte er aber nicht sagen, ob es mehr an seiner angloamerikanischen Abstammung oder an dem kurzen Zögern bei Wildfires Worten lag.
"Tatanka streicht doch sicherlich nicht zufäl-lig hier herum, oder?" sagte Großmutter Wa-chiwi zu dem Stammespolizisten.
"Mir wurde gesagt, daß Ihr noch fehlende Sachen für das Fest besorgt und da wollte ich nachsehen, ob Ihr vielleicht meine Hilfe braucht."
"Nein, nein, es ist schon alles erledigt. Aber wenn du schon mal da bist, kannst du mich, Kleiner Puma und ihren Freund wieder zum Festplatz fahren."
"Aber natürlich, Großmutter Wachiwi", nickte Tatanka und öffnete die Beifahrertür seines Streifenwagens. Nachdem die alte Indianerin es sich bequem gemacht hatte, setzte er sich hinter das Steuer.
"Großmutter?" fragte Sven leise bevor sie einstiegen und deutete mit dem Augen in Richtung Tatanka.
"Nein, wir sind nicht verwandt", raunte Wild-fire ihm schnell zu. "Alle unseres Stammes nennen sie Großmutter. Aber meine ist sie tatsächlich."
Kurz darauf saßen sie alle vier im Streifen-wagen. Sven konnte durch das Gitter zwi-schen den Vorder- und Hintersitzen sehen, wie Tatanka Wildfire und ihm immer wieder Blicke durch den Rückspiegel zuwarf.
"Bist du mit diesen Riesen LKW gekommen, Puma?" wollte der Polizist wissen.
"Ja", bestätigte Wildfire. "Wir haben einen Transportauftrag zurück nach Seattle, der uns in der Nähe vorbeibrachte. Da wollte ich Großmutter besuchen."
"Seattle", brummte Tatanka. "Wohnst du jetzt dort?"
"Kann man so sagen, ja."
"Gar nicht mehr unten bei den Südstaat-lern?" Das Missfallen, das in dieser Frage mitschwang, war nicht zu überhören.
"Nein, es hat da - ein Problem gegeben."
"Aha", meinte Tatanka nur. "Du hast lange nichts von dir hören lassen. Ich hatte schon befürchtet, dir sei etwas passiert."
"Ich weiß. Es tut mir leid und ich wollte schon lange wieder herkommen, aber ich war - verhindert."
Der Polizist brummte etwas Unverständli-ches darüber, daß sie ihm erneut auswich. "Werdet ihr lange hier bleiben?"
"Wir haben ..."
"Ich habe Kleiner Puma und ihre Freunde zu dem Fest eingeladen", unterbrach Großmutter Wachiwi die Befragung und Tatanka warf ihr einen unerfreuten Blick zu. "Ich hoffe, der Polizeichef unserer Stadt hat nichts dagegen", fuhr sie mit treuherzigen Augen fort.
"Aber nein, Großmutter Wachiwi", erwiderte Tatanka merklich bemüht. "Was sollte ich schon dagegen haben, solange sie sich an die Gesetze halten." Auch diese verstecke Warnung entging Sven nicht. Auch nicht den grimmigen Blick durch den Rückspiegel. Pein-lich berührt blickte Wildfire aus dem Seiten-fenster. Nur Großmutter Wachiwi machte ei-nen unbekümmerten Eindruck und redete munter weiter.

***


Am Festplatz herrschte rege Betriebsamkeit. Hier fanden sich all die Einwohner, die Sven in der Stadt vermisst hatte.
Großmutter Wachiwi übernahm sofort wie-der das Kommando. Sie gab Anweisungen, ordnete ein Durcheinander, drohte ein paar jungen Burschen, die ihr nicht schnell genug waren, mit ihrem Stock und keifte bissig, als ihr die Ausrichtung eines Zeltes nicht zusagte. Aber sie tröstet auch ein kleines Mädchen, das ihr Kleidchen zerrissen hatte, spornte eine Gruppe Männer beim Aufstellen eines großen Totempfahles an und erklärte ein paar jungen Frauen sicherlich zum wiederholen Male geduldig eine bestimmte Körperhaltung.
Sie war ganz klar die zentrale Person hier auf dem Platz und alle Anwesenden, auch die, die ihren Missfallen zu spüren bekamen, erkannten das vorbehaltlos an und führten ihre Anweisungen so gut und rasch sie konn-ten aus.
Sven sagte beim Lastwagenzug Bescheid, daß sie alle zu dem Fest eingeladen worden waren und daß sich ihre Weiterfahrt deshalb wohl auf morgen früh verschieben würde. Diese Verzögerung lag immer noch innerhalb ihrer Zeittoleranz, daher nahmen auch die anderen das Angebot an.
Großmutter Wachiwi wurde von ihren Auf-gaben so sehr vereinnahmt, daß sie für ihre Enkelin und Sven nun keine Zeit mehr erübri-gen konnte. Sie hatten sonst nichts zu tun, daher halfen sie bei den Vorbereitungen. Vie-le Menschen erkannten "Kleiner Puma" und tauschten ein paar freundliche Worte aus. Sven wurde meist freundlich behandelt, doch selbst wenn einmal jemand etwas vorbehalten und reserviert war, war er niemals so kühl, wie Tatanka.

***


Es dämmerte bereits, als das große Feuer am Festplatz entzündet wurde. Viele Leute hatten sich darum versammelt. Den meisten war ihr indianisches Blut auf den ersten Blick anzusehen, vielen erst auf den zweiten oder dritten, einigen jedoch gar nicht. Trotzdem bildeten sie eine Gemeinschaft, in der sich Sven ungeachtet aller Freundlichkeit fremd und ausgegrenzt fühlte.
Hinzu kam noch, daß Moonshadow, Tinker-bell und Frank etwas abseits im Bereich der "Gäste" saßen. Der kleinen Elfe schien es sichtlich Spaß zu machen, denn sie wippte mit dem ganzen Körper im Rhythmus der Trommeln und Gesänge. Frank betrachtet alles über den Rand eines großen Kruges und sah den Tänzerinnen hinterher. Nur Moons-hadow wirkte etwas desinteressiert und ge-langweilt.
Sven wäre gerne bei ihnen geblieben, doch er hatte auf ausdrücklichem Wunsch von Großmutter Wachiwi einen Platz näher am Feuer bekommen. Die alte Indianerin erklärte Sven aufgeregt den Ablauf der Feierlichkei-ten, die Bedeutung der Gesänge und Tänze und er konnte deutlich die ungeheure Leiden-schaft erkennen. Aber auch die stille Wehmut. Wenn ihr gebrechlicher Körper es zugelassen hätte, hätte sie am liebsten mitgetanzt.
Sven konnte Tatanka unter den Teilnehmern erkennen. Mit seinem bloßen Oberkörper und der eindrucksvollen Körperbemalung bot er einen sehr imposanten Anblick und wenn Sven es richtig verstand, kam ihm eine be-deutende Rolle während des Festes zu. Er war also nicht nur Polizeichef der Stadt, son-dern auch sonst ein wichtiges Mitglied des Stammes.
Sven wünschte sich noch weniger als vor-her, mit ihm Probleme zu bekommen.
Ständig waren Svens Augen auf der Suche nach Wildfire. Großmutter Wachiwi hatte ve-hement darauf bestanden, daß sie mittanzte und schließlich hatte sie sich geschlagen ge-geben und eingewilligt.
Endlich trat sie aus einem der Zelte am Rande des Festplatzes. Ihr schwarzes Haar, das die letzte Wochen etwas gewachsen war, wurde von einem schmalen Stirnband ge-schmückt und in dem kunstvoll bestickten Kleid aus weichem Leder, sah sie atembe-raubend aus. Stolz, schön, voller Kraft und Anmut. Viel mehr noch als auf dem Einfüh-rungsritual bei den T-Birds, das Sven immer noch deutlich im Gedächtnis hatte, verkörper-te sie nun ihr indianisches Erbe.
Sprachlos mustert Sven sie bis sich ihre Bli-cke über den Platz hinweg trafen. Wildfire lächelte. Es war ein gelöstes und glückliches Lächeln, das er nur erwidern konnte. Sie winkte ihm kurz zu, dann gliederte sie sich in die Reihen der Tänzer ein.
Sven verstand trotz der vielen Erklärungen von Großmutter Wachiwi nicht viel von dem Hintergrund und eigentlichen Sinn, doch die eindrucksvolle Atmosphäre nahm ihn gefan-gen
Das Feuer tauchte die ganze Umgebung in ein unstetes, aber warmes Licht. Die Trom-meln und Gesänge erfüllten die Luft gemein-sam mit dem harzigen Geruch des brennen-den Holzes und den aromatischen Düften der Steppengräser. Wie eine unaufhaltsame Flut wogten die sich bewegenden Körper der Tän-zer um das prasselnde Feuer. Mal ruhig und langsam, dann wieder aufbrausend und schnellfüßig. Und dazwischen immer wieder Wildfire.
"Kleiner Puma wäre eine erstklassige Tän-zerin geworden", seufzte Großmutter Wachiwi plötzlich leise. "Doch sie hat sich für den Weg der Kriegerin entschieden."
"Wäre es Euch lieber gewesen, sie hätte ih-re Wahl anders getroffen?" fragte Sven.
Großmutter Wachiwi schüttelte ihren Kopf. "Nein, sie wäre nicht glücklich damit gewor-den. Es war besser, daß sie auf ihr Herz ge-hört hatte und nicht auf die Wünsche einer törichten alten Frau."
"Ich denke nicht, daß Ihr töricht seid, Groß-mutter Wachiwi."
Die alte Indianerin lächelte dankbar, winkte dann aber ab. "Doch, ich war töricht. Genauso töricht, wie Tatanka, als er um sie warb. Ta-tanka ist ein sehr guter Wächter und Krieger und wahrscheinlich wird er eines Tages auch ein guter Ältester, aber er ist zu sehr in den alten Traditionen verwurzelt, als daß er Klei-ner Puma die Freiheit und Gleichberechtigung gegeben hätte, die sie braucht. Einen Puma kann man nicht einsperren."
Großmutter Wachiwi musterte Sven ein-dringlich.
"Versuche nicht, sie an dich zu binden. Wenn sie nicht aus ihrem eigenen Willen bei dir bleibt, wirst du sie nie halten können und ihr werdet beide bitter darunter leiden."
"Ich weiß, Großmutter. Auch ein Feuer stirbt, wenn man es zu sehr begrenzt", erwiderte Sven und bezog sich dabei auf ihren Stra-ßennamen. Großmutter Wachiwi lächelte, als sie sah, daß Sven sie verstand.
"Paß aber gut auf meinen kleinen Puma auf. Sie ist nicht immer so stark, wie sie sich gibt."
Sven nickte ernst. "Das werde ich. Sie ist mir sehr wichtig."
Großmutter Wachiwi nahm Svens Kopf in ihre Hände, küsste ihn auf die Stirn und sagte ein paar Worte in ihrer Sprache.

***


Erst sehr spät in der Nacht fand das Fest ein Ende. Langsam zerstreuten sich die Teilneh-mer und Gäste.
"Wo ist denn Frank?" fragte Sven.
"Ach, der hat sich von einer Trollin zu einem - Wetttrinken überreden lassen", meinte Tin-kerbell, wippte immer noch im Rhythmus der verklungenen Musik und summte dabei.
Auch Moonshadow zeigte sich nun von dem Fest ergriffen. "Beeindruckende Magie, die da gewirkt wurde", murmelte sie.
Sven war etwas erstaunt, er hatte nichts da-von bemerkt. Aber er war zu gefangen von der ganzen Atmosphäre gewesen und besaß auch nicht die Fähigkeiten der schwarzhäuti-gen Magierin.
"Wildfire möchte noch ein wenig Zeit mit ih-rer Großmutter verbringen, bevor wir weiter-fahren. Ist das möglich?"
Tinkerbell nickte. "Klar, ihr könnt euch ruhig noch ein paar Stunden nehmen. Wir werden inzwischen versuchen, Frank irgendwo zu finden."

***


In ihrer Wohnung angekommen, machte es sich Großmutter Wachiwi in einem großen gepolsterten Stuhl gemütlich. Wildfire setzte sich zu ihren Füßen und begann zu erzählen. Sven verstand nicht besonders viel, da die beiden Frauen oft in ihre eigene Sprache ver-fielen, doch sie behielt keinerlei Geheimnisse für sich. Sie berichtete offen von ihrer Arbeit bei den Texas Rangern, der Entführung und offiziellen Todeserklärung, den Schaukämp-fen in dem alten Sportstadion, ihrer halb ge-glückten Flucht, dem Eintritt bei den T-Birds und dem Versuch, nun als "unabhängigen Sonderkräfte" Fuß zu fassen. Auch über Sven und ihr Verhältnis zueinander sprach sie ohne Scheu.
Sven selbst schwieg die meiste Zeit und antwortete nur, wenn er gefragt wurde. Er merkte sehr gut, daß diese kostbaren Minuten ganz alleine Wildfire und ihrer Großmutter gehörten. Darum hätte er sie lieber alleine gelassen, weil er meinte, er störe nur, aber sie beiden hatten darauf bestanden, daß er bliebe.
Als Wildfire geendet hatte, lag ihr Kopf auf den Knien ihrer Großmutter und diese strei-chelte sanft ihre Haare. Nun, da sie sich so sehr geöffnet hatte, wirkte Wildfire weicher als sonst, verletzlicher. Fast wie ein Mädchen, das bei ihrer lieben Großmutter Zuflucht vor der bösen Welt gesucht hatte. Es hatte ihr sicherlich sehr gut getan, sich all das vom Herzen geredet zu haben. Auch wenn sie und Sven sich sehr gut verstanden und über alles redeten, war es doch etwas ganz anderes, einer lieben Verwandten das Herz auszu-schütten.

***


Der Morgen graute schon, als sich Wildfire und Sven von Großmutter Wachiwi verab-schiedeten und zu dem großen Lastwagen-zug schlenderten, der sie wieder von hier fort bringen würde. Wildfire trug immer noch das bestickte Lederkleid, das sie beim Tanzen getragen und anschließend geschenkt be-kommen hatte. Das Helfen bei den Vorberei-tungen, das lange begeisterte Tanzen und das emotionale Gespräch mit ihrer Großmut-ter hatten sie sehr ermüdet. Sven hatte daher einen Arm um sie gelegt und stützte sie ein wenig. Normalerweise hätte sie sich gegen solch eine Hilfestellung gewehrt, besonders in der Öffentlichkeit. Doch nun lag ihr Kopf an seiner Schulter und sie ließ sich, schon halb schlafend und dankbar von ihm führen.
Bei ihrem Weg begegneten sie auch Tatan-ka. Der Polizeichef stand mit vor der Brust verschränkten Armen auf der anderen Stra-ßenseite und musterte sie mit unbewegtem Gesicht. Sven fühlte sich nicht wohl dabei und hätte zu gerne gewusst, was hinter der Stirn des Indianers vorging.
War er froh, daß sie die Stadt wieder verlie-ßen? Haßte er Wildfire, weil sie sein Werben nicht erhört hatte? Oder war er nur enttäuscht und traurig über den Verlust? War er eifer-süchtig auf Sven, weil die Frau, die er für sich haben wollte, nun mit ihm zusammen war? Suchte er nach einem Grund, seinem Konkur-renten etwas anzuhängen oder beglück-wünschte er ihn insgeheim? Oder konnte er es kaum erwarten, daß das unerwünschte "Bleichgesicht" wieder von seinem Stammes-gebiet verschwand?
Sven würde es wohl nie erfahren. Als er Ta-tanka grüßend zunickte, drehte sich dieser wortlos um und verschwand in seinem Büro.

Behutsam bugsierte Sven Wildfire in ihre kleine Kabine des Lastwagenzuges und legte sie auf ihre Pritsche. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten.
"Danke, daß du dabei warst, Sven", flüsterte sie und Sven lächelte.
"Danke, daß es dich gibt", erwiderte er und küsste sie sanft. Er hatte in den letzten Stun-den eine neue Seite von ihr kennen gelernt. Eine sehr verletzliche Seite, die seine Zunei-gung zu ihr nur noch vergrößert hatte und die er nicht mehr missen wollte.
Das sanfte Schaukeln des fahrenden Last-wagenzuges und das Brummen der Motoren geleiteten sie hinüber in den Schlaf.

Fortsetzung folgt...

Wachiwi (Tänzerin) Sioux
Tatanka (Büffel)
Igmu (Katze)


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