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SPINNENSEIDE

Folge 3

von Susanne Stahr



Eine Woche später erreichten sie den Donnacona-See. Bei erster Gelegenheit hatte Adira eine Flöte erstanden, mit deren Hilfe und Ragilos Gesang sie sich so manches Mittagessen oder Nachtlager verschafften. Ihre Kenntnis der Heilkräuter brachte ihr ein Zaumzeug und einen warmen Umhang mit Kapuze. Der Herbst war ins Land gezogen und die Nächte wurden empfindlich kalt. Nun fehlte nur noch ein Sattel.
Ragilos anfängliche Begeisterung für ein Gauklerdasein war nach einem heftigen Regenguss weitgehend geschwunden. Immer öfter legte sich ein bitterer Zug um seinen Mund. Jeden Abend richtete sich sein Blick nach Nordwesten, wo er Egeria und seine kleine Tochter wusste, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.
Adira hätte ihn gern getröstet. Was sollte sie sagen? Wie schon so oft, fehlten ihr die Worte. So legte sie nur eine Hand auf seinen Arm um ihm so ihre Anteilnahme zu bekunden.

Der See lag eingebettet in einem Tal der arvanischen Berge. Hohe Tannen und Buchen umgaben ihn. Der Einsiedler hatte sich ein Baumhaus auf einer der Buchen gebaut. Ein gutes Dutzend Pilger, Männer und Frauen lagerten um den Baum und warteten darauf, dass der heilige Mann sie zu sich rief. Niemand musste sich bei ihm anmelden, denn seine seherischen Fähigkeiten, verrieten ihm die Namen der Hilfesuchenden. Da es oft Tage dauerte, bis ein Pilger aufgerufen wurde, hatte sich so mancher eine notdürftige Hütte aus Laub und Zweigen gebaut. So waren eine Reihe von Notunterkünften entstanden, die von nachfolgenden Pilgern verwendet wurden.
Auch Gisulf hatte sich in so einer Hütte eingerichtet. Er freute sich, Adira endlich im Arm halten zu können, wenn gleich ein wenig Bitterkeit seine Züge verdüsterte. Neben der Laubhütte wuchs saftiges Gras, über das sich die Pferde gleich her machten. Adira band den Zügel Seidenwolkes an den Pflock, an dem auch Gisulfs Fuchsstute hing während Ragilo sich daran machte, seinen Braunen abzusatteln. Inzwischen gingen Gisulf und Adira am Seeufer spazieren.
Gisulf suchte ihren Blick. "Was auch geschieht, nichts und niemand soll uns je trennen", sagte er ernst. "Ich schwöre dir bei meiner Ehre, dass ich nie eine andere Frau lieben werde." Dabei hielt er ihre Hand und sah ihr tief in die Augen.
"Auch ich will keinen anderen Mann lieben", versprach sie. "Überall hin werde ich dir folgen, auch in den Tod."
Da nahm er sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Ihre Lippen fanden sich und die Welt um sie herum versank. Für kurze Zeit vergaßen sie all ihre Sorgen.
"Wenn wir Tulga gefangen und unsere Unschuld bewiesen haben, kehren wir nach Partiene zurück und heiraten", bestimmte Gisulf als sie sich endlich von ihm löste.
"Hab ich da nicht auch noch ein Wörtchen mit zu reden?", fragte Ragilo, bevor Adira sich äußern konnte. Unbemerkt hatte er sich den Beiden genähert. Sein Wallach graste in einiger Entfernung der beiden Stuten. "Außerdem gibt es da noch deinen zweiten Liebhaber, Schwester. Den musst du zuerst einmal los werden."
"Was?!", schrie Gisulf. "Adira! Du hast ....?"
"Nein, nein, nicht das, was du denkst. ", beschwichtigte sie ihn. "Ich habe versehentlich einen Dazbog beschworen." Hilflos zuckte sie mit den Achseln.
"Als ob wir nicht schon genug Ärger hätten", brummte ihr Bruder. "Wir sind heimatlos und ihr zwei denkt nur ans Turteln!"
"Nun, hack nicht auf mir rum!", fuhr sie ihn an. "Das Scheusal will schließlich meine Seele!"
"Vielleicht kann dir der Einsiedler raten", meinte Gisulf. Beruhigend legte er einen Arm um ihre Schulter.


"Daran habe ich auch gedacht", stimmte sie zu.
"Du hast noch nicht offiziell um die Hand meiner Schwester angehalten", grollte Ragilo und zog Adira von ihrem Liebsten weg. "Ich bin als Graf von Taifalen das Oberhaupt der Familie." Herausfordernd drückte er die Brust heraus.
"Wir haben eine Soldatenehe geschlossen. Dazu braucht Adira deine Erlaubnis nicht", schnappte Gisulf. "Außerdem sitzt du nicht mehr auf deinem Lehen und bist auch kein Graf mehr. Du hast doch selbst gesagt, dass wir heimatlos sind."
Für eine Soldatenehe wurde kein Priester gebraucht. Mann und Frau leisteten einen Treueschwur und besiegelten diesen mit einem Kuss.
"Ich bin Graf!", keifte Ragilo zurück. "Was man von dir nicht behaupten kann. Was hast du denn meiner Schwester zu bieten? Eine Soldatenehe ist unter der Würde meines edlen Geschlechts." All seine aufgestauten Gefühle entluden sich nun.
"Wenn ihr euch die Köpfe einschlagt, ist das Problem gelöst", mischte sich nun Adira ein. "Dann muss ich nur noch den Dazbog los werden." Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zu der Laubhütte.
Vor dem Eingang bezeichnete ein Kreis aus Steinen die Feuerstelle. Adira brach ein paar dürre Äste von einem nahen Baum und bald prasselten Flammen unter dem Kochtopf. Als das Wasser heiß war, warf sie getrocknetes Fleisch und Salz hinein. Den Teekessel stellte sie auf einen flachen Stein, der ein wenig in den Feuerkreis ragte. Schon nach kurzer Zeit verbreitete sich der Duft von gekochtem Fleisch und Kräutertee.
Das lockte auch die Männer an. Ihre Stimmen kamen näher, aber Adira beachtete sie nicht. Ruhig kontrollierte sie die Schilflager in der Hütte und breitete auf einem ihre Decke aus.
"... ist doch schon der Ordnung halber notwendig", hörte sie Gisulf sagen. "Wenn wir unsere Unschuld bewiesen haben, können alle Förmlichkeiten nachgeholt werden."
"Es ist doch widersinnig, um eine Frau anzuhalten, mit der du schon wer weiß wie lange durch eine Soldatenehe verbunden bist", erklang nun Ragilos Organ. "Diese Verbindung ist ungültig, weil du mich übergangen hast."
"Adira hat den Schwur geleistet", widersprach nun der Partiener. "Dadurch ist die Ehe gültig. Sie braucht nur noch vollzogen werden."
"Eine Soldatenehe ist nur gültig, wenn kein Priester und kein Verwandter zur Hand ist." Der junge Graf schüttelte energisch den Kopf. "Ohne meine Einwilligung wird es dir schwer fallen, die Ehe zu vollziehen."
"Das wird sich erweisen ....Oh Adira! Du bist ein Engel!" Gisulf setzte sich ans Feuer und streckte die Hände den Flammen entgegen. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden und es wurde rasch kalt.
Auch Ragilo suchte die Wärme. Allerdings setzte er sich gegenüber seinem Kontrahenten.
"Ist das Essen schon fertig, Schwester?", fragte er unschuldig.
"Wie kommst du auf die Idee, dass ich für euch mit gekocht habe?", gab sie mit gespielter Verwunderung zurück. "Ich habe fest damit gerechnet, dass ihr euch gegenseitig umbringt."
Sekundenlang herrschte Stille. Dann redeten beide zugleich auf sie ein. Es war kein Wort zu verstehen. Schließlich zog Adira ihren Löffel über den Boden des Kochtopfs, dass das Metall kreischte und brüllte: "Ruhe!"
Die Männer hielten sich die Ohren zu und verstummten wieder.
"Ich liebe euch beide", begann sie. "Und ich will keinen von euch verlieren. Gisulf ist mein Schwurgatte, und zwar so lange, bis unsere Sache entschieden ist. Dann sehen wir weiter."
"Aber, Adira ...", setzte Ragilo zum Sprechen an.
"Wie können wir mit Erfolg rechnen, wenn ihr euch dauernd in den Haaren liegt?", unterbrach sie ihn.
"Er wird dich nicht anrühren", versprach ihr Bruder.
"Sie hat sich für mich entschieden", wandte Gisulf ein. "Was hast du nur gegen mich?"
"Wir können es nicht riskieren, dass Adira schwanger wird", gab sich Ragilo nun besorgt. "Denk nur an die Strapazen, die uns auf unserer Mission erwarten. Außerdem sind schwangere Frauen launisch und streitsüchtig. Unsere Sache ist zu wichtig, um sie durch dumme Streitereien zu gefährden."
"Das sagst gerade du!" Adira brach in schallendes Gelächter aus.



Auch Gisulf grinste. Nicht lange. Es verging ihm als Adira ihn auf seine Unnachgiebigkeit hinwies.
"Da es ja um mich geht, werde ich nun einmal meine Meinung sagen. Ich denke, ihr habt beide Recht. Ich habe Gisulf Treue geschworen und will diesen Schwur auch gar nicht widerrufen. Damit hat er seine Gültigkeit. Dennoch kann ich den Vorwurf eines Formfehlers nicht zurück weisen. Es ist nun mal eine Tatsache, dass Ragilo das Oberhaupt meiner Familie ist."
Gisulf hatte zum ersten Teil ihrer Rede genickt während Ragilos Brauen sich finster zusammen zogen. Nun tauschten sie die Rollen.
Unbeirrt fuhr Adira fort: "Es braucht sich auch keiner von euch Sorgen zu machen, dass ich schwanger werden könnte. Rogin hat mich mehrere Möglichkeiten gelehrt, dies zu verhindern." Sie hob ihre Stimme. "Und jetzt will ich, dass ihr aufhört zu streiten, sonst esse ich den ganzen Topf leer, auch wenn mir davon übel wird."
Grummelnd und brummend versprachen die beiden Ruhe zu bewahren. Gisulf beschäftigte sich mit seiner Laute, die er auf Adiras Anraten mitgebracht hatte.

Sie mussten drei Tage warten. Die beiden Männer vertrieben sich die Zeit mit Waffenübungen. Was Gisulf an Erfahrung mitbrachte, machte Ragilo durch Geschicklichkeit und ein flinkes Auge wett. Einen Teil Ihres Haders verarbeiteten sie auf diese Weise.
Jeden Tag rief der Eremit Pilger zu sich, manchmal nur einen, der mehrere Stunden in dem Baumhaus verbrachte, ehe er wieder erschien. An einem anderen Tag rief er sechs der Wartenden in kurzen Abständen zu sich. Wie er die Leute rief, erfuhr Adira erst als sie selbst betroffen war.
Eine Stimme flüsterte in ihrem Kopf: "Adira von Taifalen, tritt ein."
Mit gemischten Gefühlen kletterte sie die Leiter zum Eingang des Hauses hoch. Statt der Tür gab es eine Matte aus kunstvoll geflochtenen Binsen. Adira schob den Vorhang zur Seite und trat ein. Auch am Fußboden lag ein geflochtener Teppich.
Inmitten eines Berges aus Kissen und Decken saß ein uralter Mann. Auch seine Kleidung, ein lockeres Hemd, das sich um seinen mageren Körper bauschte, bestand aus geflochtenen Grasfasern. Sein runder Kopf war vollkommen kahl. Lachfalten hatten sich tief um seinen Mund eingegraben.
Schwarze Augen musterten sie so scharf als würden sie auf den Grund ihrer Seele blicken. "Sprich", forderte er sie mit überraschend klarer Stimme auf.
"Ich habe zwei Anliegen", sagte sie und erzählte als Erstes von dem Komplott gegen die Grafen von Partiene und Taifalen. Da er sich dazu nicht äußerte, bat sie ihn um Rat, wie sie den Dazbog los werden könnte.
"Die Sache mit dem Dazbog ist einfach, da du ihn nur sieben Mal zurückweisen musst. Sie ist aber auch schwierig, weil er dir seine Hilfe immer dann anbieten wird, wenn du sie dringend brauchst. Gibst du ihm nur einmal nach, ist deine Seele verloren."
"Das weiß ich, Ehrwürdiger", sagte sie. "Ich danke für diesen Rat."
"Nun dieses Komplott. Ein dunkler Schatten hängt über Baudion. Schon haben die Diener des Erzbösen begonnen, das Land zu destabilisieren. Der Konflikt zwischen Taifalen und Partiene ist nur Teil eines großen Spiels. Dir und deinen Begleitern hat das Schicksal die Aufgabe zugeteilt, dem Einhalt zu gebieten." Der Einsiedler zeichnete mit seinem Zeigefinger einen Kreis in die Luft, etwa so groß wie ein Schild. Eine Gaststube erschien in dem Kreis. Adira hatte das Gefühl durch ein Fenster zu lugen. An einem Tisch saß ein reich gekleideter, älterer Mann. Sein Kopf war nur noch von einem Kranz grauer Haare umgeben und sein linkes Ohr war verstümmelt. "Dieser Mann ist der Schlüssel", sagte der Weise. "Er ist in Arvane. Das Dorf liegt zwanzig Meilen von der taifalischen Grenze entfernt. Es heißt Moeris. Er wird noch eine Woche dort sein. Wenn du mit deinen Begleitern unverzüglich aufbrechen, könnt ihr ihn dort noch antreffen."
"Ich danke dir, Ehrwürdiger", sagte Adira. "Was bin ich dir schuldig?"
"Du hast mich schon bezahlt", lächelte der Alte. "Es kommt selten vor, dass ich Menschen sehe, die wie du vom Licht der Liebe umgeben sind. Geh und nimm meinen Segen mit dir."
Errötend verließ sie die Hütte, nachdem sie dem Eremiten gedankt hatte. Die Sonne war weit über den Zenit gewandert und Adiras Magen verlangte energisch nach Nahrung. Erstaunt stellte sie fest, dass wesentlich mehr Zeit vergangen war als sie gedacht hatte.
Als sie die Leiter hinunter klettern wollte, stockte ihr Fuß. Unten warteten fünf arvanische Soldaten auf sie und weder Gisulf noch Ragilo waren zu sehen. Die Hütte, in der sie die letzten Nächte verbracht hatten, lag leer und verlassen da. Ihr Pferd aber war noch am selben Baum festgebunden, wo sie es verlassen hatte. Und dort befanden sich auch die Reittiere der Arvaner. Ein sechster Soldat hielt ihre Zügel.
"Komm herunter, Lady!", rief einer mit dem Zeichen eines Hauptmanns an seinem Helm. "Graf Orsines erwartet dich." Seine Kameraden nickten beifällig.
Mit aller Würde, deren sie fähig war, stieg sie zu den Männern hinunter. "Ich wünsche Graf Orsines nicht zu sehen", sagte sie hoheitsvoll.
"Wir haben unsere Befehle, Lady", wandte der Hauptmann ein. "Ich bitte dich, leiste keinen Widerstand, sonst müssten wir Gewalt anwenden."
Ein Blick in seine Augen sagte ihr, dass er es ernst meinte, auch wenn er über diesen Befehl alles andere als glücklich war. "Nun gut", sagte sie, scheinbar nachgebend. "Zuerst möchte ich aber etwas essen. Ich hatte eine lange Unterredung mit dem heiligen Mann.
"Wir haben Befehl ...", begann der Soldat und unterbrach sich.
Adira schwankte hin und her und legte stöhnend eine Hand auf ihre Magengegend. "Ich fühle mich so schwach und hungrig", murmelte sie und ließ sich zu Boden sinken.
Die Arvaner sahen einander unschlüssig an. Dann hoben sie sie hoch und trugen sie zu den Pferden. Dort packten sie Brot, Käse und Schinken aus. Zum Trinken gaben sie ihr Henet, ein schwach alkoholisches Gebräu, das sehr kräftigend wirkte. Adira dankte ihnen überschwänglich. Dabei suchte ihr Blick unauffällig nach einem Zeichen ihrer Begleiter. Endlich tauchte unter den tiefen Zweigen eines Busches eine Stiefelspitze auf. Sie wackelte einmal auf und nieder und verschwand wieder. Das war Gisulf, Adira kannte seine Stiefel wie ihre eigenen.
"Lady, wir müssen aufbrechen", drängte der Hauptmann.
"Mit vollem Magen?", fragte sie empört. "Außerdem habe ich keinen Sattel, wie du wohl sehen kannst." Sie sah sich die Sättel der Männer genau an. "Diesen hier will ich!" Ihre Hand zeigte auf den, der am besten passen würde und auch sonst in gutem Zustand war.
"Das ist ..." Wieder unterbrach sich der Hauptmann und sattelte seufzend das Pferd ab. "Ich will ihn wieder haben, wenn wir auf der Burg sind", sagte er und ging auf die Stute zu.
Misstrauisch zeigte das Tier die Zähne.
"Das muss ich machen", meinte Adira. "Seidenwolke lässt sich nur von mir satteln." Im Nu hatte sie den Sattel aufgelegt und fest geschnallt. "Das muss ich mal ausprobieren." Sie stieg auf und setzte sich zurecht. Es war ein guter Sattel.
"Dann können wir ja gleich aufbrechen", meinte der Hauptmann und wandte sich an einen Soldaten. "Gib mir deinen Sattel. Du kannst uns langsamer folgen."
Adira wartete noch bis der Hauptmann mit seinem Pferd beschäftigt war, dann gab sie ihrem Pferd ein geheimes Zeichen und die Stute schlug aus. Ein Soldat ging zu Boden, die anderen brachten sich in Sicherheit. Noch ein Schenkeldruck und Seidenwolke stieg, buckelte, schlug aus als wäre sie verrückt geworden. Vergebens versuchten die Soldaten an sie heran zu kommen. Sie schrien sich gegenseitig Ratschläge zu, was natürlich nichts half.
Adira lenkte Seidenwolke zu den Pferden der Soldaten. Ein Tritt warf den Soldaten, der die Zügel hielt, nieder und die Pferde stoben nach allen Richtungen davon.
"Du kannst deinen Sattel wieder haben, wenn ich mir meinen hole!", rief Adira und jagte im Galopp den Uferpfad entlang. Der Weg führte in den Wald und Adira folgte ihm. Einmal außer Sichtweite der Arvaner sah sie sich nach Gisulf und Ragilo um. Zu rufen wagte sie nicht. Nun drosselte sie ihr Tempo, immer auf ein Zeichen ihrer Begleiter lauschend. Nach einigen Minuten kam sie zu einer Kreuzung. Dort warteten die beiden Männer auf sie.
Gisulf streckte Ragilo eine Hand hin. "Eine Perle. Ich sagte doch, dass sie mit den Arvanern allein fertig wird."
Mit säuerlichem Lächeln ließ der junge Graf eine kleine, schimmernde Kugel in Gisulfs Hand fallen. "Ich werde nie mehr mit dir wetten", versprach er.
Sie nahmen Adira in die Mitte und ritten weiter. Nun erzählte sie, was der Einsiedler ihr gesagt hatte.
"Welch eine Beruhigung, dass unser Schicksal nur ein kleiner Teil einer großen Sache ist!", ärgerte sich Ragilo.
"Vergeude deinen Atem nicht mit Nörgeln. Vielleicht brauchst du ihn noch, wenn die Arvaner uns erwischen."
Ragilo knurrte etwas Unverständliches und Gisulf fuhr fort: "Moeris liegt östlich des Donnacona-Sees. Diese Straße aber führt uns nach Süden. Ich war schon oft geschäftlich dort."
Bäume und Unterholz standen hier nicht so dicht, deshalb bogen sie bald nach Osten ab. Dabei versuchten sie ihre Spuren so gut als möglich zu verwischen.
Als es dunkel wurde, machten sie an einem klaren Bächlein Rast. Die Arvaner hatten sie kurz, nachdem sie abgebogen waren, im Galopp auf der Straße vorbei preschen sehen. Es konnte nicht lange dauern, bis sie bemerkten, dass sie in die falsche Richtung ritten. Deshalb teilten sie Wachen für die Nacht ein. Adira übernahm ganz selbstverständlich auch eine Wache, was Ragilo zögernd zur Kenntnis nahm. Sie hatte sich für die erste Wache entschieden. Da sie auch ihr Schwert in Taifalen gelassen hatte, schnitt sie einen geraden Ast von einem Baum und schält die Rinde ab. Er war etwa halb so lang wie sie und ergab eine notdürftige Waffe.
Das Henet hatte ihr Kraft gegeben, die sie immer noch spürte. Hellwach umkreiste sie das Lager. Die Pferde standen still beisammen. Ihre Gefährten waren, nachdem das Feuer ausgegangen war, nur dunkle Buckel am Waldboden.
Die Arvaner waren ein zusätzliches Problem. Wie konnten sie sie nur los werden?
"Ich könnte die Soldaten in die Irre führen", bot der Dazbog an. Er saß auf einem Zweig, der über den Bach ragte und ließ die Füße ins Wasser hängen.
Das Angebot war verlockend. Den Arvanern auszuweichen würde sie Zeit kosten. Der Herbst war etwa zur Hälfte vorüber und bald konnte der erste Schnee fallen. Dann würde es für sie schwieriger werden. Warum musste das gerade jetzt passieren? Im Sommer wäre alles viel leichter gewesen. Sie sah den Dazbog an, der schon in Vorfreude grinste.
"Nein", sagte sie, konnte aber ein Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. "Ich brauche dich nicht."
Der Wassergeist ließ sich einfach in den Bach fallen. Eine fahlgrüne Hand zeigte ihr drei Finger, dann war er verschwunden.

Zwei Tage später erreichten sie Moeris. Adira war sehr froh darüber, denn die gereizte Stimmung zwischen den beiden Männern hatte sich zu einem zähnefletschenden Waffenstillstand entwickelt. Oft hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Ragilo holte ab und zu verstohlen ein Medaillon aus seinem Hemd und küsste es. Trotzdem war Adira froh, als sie die Dächer von Moeris sah. Ab und zu kam es jedoch zu verbalen Attacken, So auch nach ihrem letzten Nachtlager vor Moeris.
"Du hast dir den besten Platz zum Schlafen ausgesucht", grummelte Ragilo noch in Gisulfs Richtung. "Ich musste auf abgebrochenen Ästen schlafen."
"Hast du mir deswegen einen Stein ins Kreuz gelegt?", schnappte der Partiener.
Mit einem blitzschnellen Griff fassten Adiras Hände in Ragilos dunkelbraunen und Gisulfs rotbraunen Schopf und schüttelten einmal kräftig. "Wenn jetzt nicht bald Frieden zwischen euch beiden ist, reite ich allein weiter", drohte Adira. "Ihr habt einen Friedensvertrag unterschrieben und jetzt wollt ihr euch wegen eines ungemütlichen Nachtlagers an die Kehle gehen! Ich verstehe das nicht!"
"Das war doch für die Grafschaft!", riefen die beiden solcherart gemaßregelten Männer empört im Chor.
Ja, die Grafschaft. Betroffene Stille machte sich breit. Wie schon oft, verfielen sie alle in grimmiges Schweigen.

Am Kreuzungspunkt mehrerer Handelsstraßen gelegen, bot sich Moeris als einziger Markt dar. Zwischen Lagerhäusern und Läden machten Gasthäuser und Kneipen ihren Profit. Im Zentrum der Ansiedlung gab es um den Brunnen einen großen freien Platz. Dort hatten die kleineren Händler ihre Buden aufgebaut. Es ging die Rede, dass hier jede Ware über oder unter den Ladentisch ging, je nachdem, ob sie erlaubt oder verboten war.
Gisulf, der Moeris ja schon vor früheren Besuchen kannte, führte seine Gefährten auf kleinen Nebenstraßen um den Ort herum, sodass sie den Markt von Süden her betraten.. Sorgfältig verwischten sie auch ihre Spuren nach jeder Rast. So gelang es ihnen, unbehelligt von ihren arvanischen Verfolgern zu dem Marktflecken zu gelangen.
Um flexibler bei ihrer Suche nach Tulga zu sein, brachten sie ihre Pferde in einen Mietstall. Ein junger Bursche brachte Futter und Wasser für die Pferde. Dort ließen sie auch ihre Rucksäcke, gesichert mit einem Zauber Adiras.
Der Stall gehörte zu einem Gasthaus, in dem man auch übernachten konnte. Am billigsten war ein Schlafplatz in der Gaststube. Für eine Matratze in einem großen Raum im ersten Stock musste man schon mehr bezahlen. Das Teuerste war aber ein Zimmer. Trotzdem ihre Mittel nicht üppig waren, entschlossen sie sich dafür.
Gisulf hatte die erste Herberge an der Südstraße gewählt. Dort hatte er noch nie übernachtet und war ziemlich sicher, dass ihn dort niemand kannte. Die Männer banden sich ihre Halstücher nach Art der Gaukler um den Kopf, dass es wie eine enge Kappe aussah. Adira hatte ihren Zopf geöffnet und ließ ihr Haar mit dem Wind flattern.
Der Wirt, ein hagerer Mann mit grauem Haar und einem schiefen Grinsen, das er einer Narbe auf der linken Wange verdankte, zeigte ihnen ihr Zimmer.
"Seid ihr Gaukler?", fragte er mit einem Blick auf Gisulfs Laute.
"Ja, mein Mann und ich sind Musikanten", antwortete Adira schnell. "Und mein kleiner Bruder singt und tanzt. Er kann auch noch andere Kunststücke."
"Eine Mahlzeit für alle und wir spielen zwei Stunden lang", bot Gisulf an. "Für das Nachtlager spielen wir bis Mitternacht."
"Ich weiß ja gar nicht, wie gut ihr seid", brummelte der Wirt unschlüssig.
"Arvanische Trauben", schlug Gisulf ein bekanntes Lied vor, ergriff sein Instrument und schlug die ersten Akkorde an.
Adira holte ihre Flöte hervor und fiel ein. Dazu sang Ragilo die erste Strophe des Liedes. Der Wirt lauschte mit schief gelegtem Kopf.
"Spielt weiter", verlangte er, als die Strophe zu Ende war.
"So gilt der Handel?", fragte Gisulf und der Wirt schlug ein. "Nach Sonnenuntergang werden wir spielen. Jetzt wollen wir auf den Markt."
"Ich brauche Nadeln und Garn", jammerte nun Adira. "Und einen neuen Kochtopf."
"Seid vorsichtig!", warnte der Wirt. "Unser Herzog ließ eine Warnung vor taifalischen Verbrechern verbreiten."
"Welche taifalischen Verbrecher?", fragte Adira unschuldig.
"Der frühere Graf, der Sohn des verrückten, alten Ragilo, und seine Schwester. Die Beiden sollen übergeschnappt sein und Graf Orsines schwer verletzt haben. Im ganzen Königreich sucht man nach ihnen."
Ragilo verschluckte gerade noch eine Entgegnung. Statt dessen täuschte er einen Hustenanfall vor.
"Es ist auch ein Kopfgeld auf die Beiden ausgesetzt", fuhr der Wirt eifrig fort. "Wenn ihr länger in Moeris bleibt ..."
"Oh, wir können nicht lange bleiben", erklärte Gisulf. "Wir wollen zum Sängerwettbewerb auf Burg Caerona."
"Der ist doch erst zur Sonnenwende", wunderte sich der Wirt. Bis dahin war noch mehrere Wochen Zeit.
"Das ist richtig", gab Gisulf zu. "Aber, wer zuerst kommt, hat die besten Chancen." Grinsend kniff er ein Auge zu.
Sie dankten dem Wirt für die Warnung und machten sich daran, in der Menge der Kauflustigen unterzutauchen. In der Erwartung, ihren Feind hier zu treffen, schwand der Groll zwischen den beiden Männer. Adira konnte aufatmen.
"Der Einsiedler hat mir den Händler in einer Kneipe gezeigt", sagte Adira und beschrieb genau, was sie um das Gesicht herum gesehen hatte.
"Das könnte jede Kneipe sein." Gisulf schüttelte bedauernd den Kopf. "Wir werden nach ihm fragen müssen."
"Ich kann dir sagen, wo Tulga ist", sagte der Dazbog. Er lehnte neben einem halbvollen Wassereimer an einer Hauswand.
Adira zischte nur ein wütendes "Nein!" und ging an ihm vorbei.
"Sein verstümmeltes Ohr wird ihn verraten", prophezeite Ragilo. "Außerdem kenne ich ihn. Er war oft genug auf der Burg."
Als Erstes begaben sie sich auf den Marktplatz. Dicht an dicht drängten sich die Buden. Obwohl die Dämmerung bereits hereinbrach wurde überall gefeilscht. In diesem Gewühl kamen sie nur langsam vorwärts. Zudem versuchten sie den arvanischen Soldaten auszuweichen, die hier für Ordnung sorgten.
Die Chance, dass einer der Händler Tulga kannte, war hier groß. Auch wollte Adira nach einer geeigneten Waffe suchen, da sie doch ihr Schwert in der Burg Taifalen gelassen hatte. Eben prüfte sie die Schärfe eines Breitschwerts, da zupfte Ragilo sie am Ärmel.
"Das ist er", flüsterte er und wies auf einen mittelgroßen, fülligen Mann in kostbaren Gewändern, der mit einem Tuchhändler verhandelte.
Seine hohe Händlermütze war mit einer breiten Borte aus Spinnenseide verziert. Trotzdem war sein verstümmeltes Ohr gut erkennbar. Links und rechts von ihm hatten sich zwei Kerle aufgebaut, die vor Muskeln fast aus ihrer Lederkleidung platzten. Sie waren kaum größer als der Händler. Der eine schien ein Bürger Baudions zu sein. Doch die dunkle Haut des anderen wies ihn als einen Sohn der südlichen Inseln aus.
Ein schmutziger, junger Mann, dessen rotes Haar wirr um seinen Kopf stand, kauerte frierend zu Tulgas Füßen. Am Rücken trug er einen großen Rucksack. Von einem eisernen Halsring ging eine Kette zu Tulgas Gürtel. Die Kleidung des Sklaven war so dürftig und zerschlissen, dass sie viel von der zerschundenen Haut des Jünglings frei ließ.
Sklaverei war in Baudion verboten. Die einzige Möglichkeit, in so eine verhängnisvolle Abhängigkeit zu geraten, waren Schulden.
Die drei Gefährten gingen hinter dem hohen Fass eines Fischhändlers in Deckung, in dem sich fette Karpfen drängten.
"Wir folgen ihm", schlug Gisulf vor und knetete unbewusst seine Narbe. "Hier, in dieser Menge, richten wir nichts aus. Wir müssen heraus bekommen, wo er nächtigt.
"Seine Leibwächter könnten ein Problem werden", überlegte Adira.
Gisulf war ein guter Kämpfer, das wusste Adira. Ihr Bruder hatte den Partiener bei den Trainingskämpfen am Donnacona-See einige Male ins Schwitzen gebracht. Ob er es aber mit einem der Beiden aufnehmen konnte? Neben den beiden Muskelmännern wirkte er wie eine hoch aufgeschossene Birke neben mächtigen Eichen.
"Ich kann die Leibwächter ausschalten." Der Kopf des Dazbog ragte aus dem Karpfenfass.
"Nein, du Miststück!" Adira schlug zornig nach dem Wassergeist.
Doch das Wesen war schneller. Blitzschnell tauchte der Dazbog unter. Im nächsten Moment schoss ein Karpfen aus dem Wasser und flog gegen Ragilos Brust. Der junge Graf zuckte mit einem Fluch zurück.
Alarmiert von dem Geräusch drehte sich Tulga um und erblickte den jungen Mann.
"Das ist doch der junge Ragilo aus Taifalen!", rief er so laut, dass es weithin hörbar war. "Was führt dich denn nach Moeris? Weißt du nicht, dass ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt ist, wegen des Mordanschlags gegen den Grafen Orsines von Taifalen? Wie geht es denn deiner armen, geschändeten Schwester?"
Die Gespräche verstummten im weiten Umkreis. Aller Augen waren auf Ragilo und Tulga gerichtet. Adira sah drei Soldaten, die auf sie zu strebten. Einer von ihnen stieß außerdem noch einen scharfen Pfiff aus. Nun war es mit ihrer heimlichen Suche vorbei.
Ragilos Gesicht verzerrte sich vor Wut. Plötzlich hatte er einen Dolch in der Hand und stieß blitzschnell zu. Der hellhäutige Leibwächter schlug mit einer Hand nach Ragilos Arm, während er mit der anderen ein Messer zog. Die Klinge, die auf Tulgas Brust gezielt hatte, wurde abgelenkt und durchtrennte den Gürtel des Händlers. Im Nu hatte der junge Sklave den Rucksack abgestreift und war unter einem Verkaufstisch verschwunden. Flüche und Schmerzensschreie zeigten seinen Fluchtweg an.
Nun äußersten sich die Zuschauer dieses Spektakels. Einige ergriffen Ragilos Partei, andere die des Händlers. So entstand ein Tumult, der immer lauter wurde. Schon begannen einige, Wetten abzuschließen.
"Hol ihn zurück!", zischte Tulga dem Dunkelhäutigen zu.
Gehorsam schubste der Angesprochene Leute zur Seite und stand mit zwei Schritten einem Soldaten gegenüber. Schon wollte er auch diesen wegstoßen, da sah er das Zeichen eines Hauptmanns an seinem Helm und zögerte.
"Ich bitte dich, Herr, mach den Weg frei", sagte er mit gutturaler Stimme.
"Zeig mir deine Lizenz", forderte dieser und feixte Tulga triumphierend an. "Bist du überhaupt ein freier Mann?" Nun tauchten drei weitere Soldaten auf und der Hauptmann deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kampf zwischen Ragilo und dem Leibwächter. Sofort setzten sie sich in diese Richtung in Bewegung, die Leute energisch zur Seite schiebend.
"Ich habe dir versprochen, dass du keine ruhige Minute in Moeris haben wirst, Tulga", grinste nun der Hauptmann. "Du könntest mir natürlich auch die Goldkette zurück geben. Dann könnte ich dich vergessen."
"Ich habe deine Kette im ehrlichen Spiel gewonnen", fauchte Tulga wütend. "Willst du nicht lieber Ragilo fangen?"
"Das machen schon meine Männer. Du willst es doch so haben." Schulterzuckend wandte er sich wieder an den Dunkelhäutigen. "Deine Papiere!"
Entschuldigend hob nun der Muskelprotz die mächtigen Schultern und begann in seinem Beutel zu kramen. Tulga fluchte schauerlich.
Inzwischen hatte das Messer des anderen Leibwächters Ragilos linken Arm gestreift. Der junge Graf schrie auf und wich behände einem Stich aus. Die Wut war aus seiner Miene gewichen und hatte entschlossener Konzentration Platz gemacht. Seine Klinge zuckte vor und zurück. So hielt er seinen Gegner auf Abstand und lauerte zugleich auf eine Chance, selbst einen Treffer zu landen.
Gisulf wollte Ragilo schon zu Hilfe eilen, denn die Soldaten waren schon gefährlich nahe. Da steckte Adira eine Hand in das Karpfenfass und schrie ins Wasser. Der Inhalt des Fasses, Wasser und Fische, hob sich in die Luft und ergoss sich über den Leibwächter. Ragilo tauchte unter dem Arm des Mannes durch und zog den Dolch quer über seine Brust. Der grunzte und versuchte den jungen Mann zu fassen. Doch um ihn herum sprangen zwei Dutzend Fische auf der Erde herum. Als er auf einen Karpfen trat, rutschte er aus und fiel gegen den Fischhändler, der seine Ware in ein anderes Fass retten wollte.
Tulga tobte und die Menge lachte sich krank. Die Soldaten waren auch schon sehr nahe. Adira erhob sich und winkte ihrem Bruder. Der placierte noch einen Tritt gegen das Knie seines Gegners und rannte hinter seinen Gefährten her in die nächste Seitengasse.
Nun übernahm Gisulf die Führung. Sicher und schnell führte er sie weg vom Marktplatz. Das Durcheinander, das die Fische verursacht hatten, beschäftigte die Menschen so, dass sie annahmen, es verfolge sie niemand. Sicher konnten sie aber nicht sein. Auf jeden Fall waren die Soldaten auf sie aufmerksam geworden.
"Zu dumm!", schimpfte Adira. "Wir hatten ihn schon gefunden und jetzt müssen wir wieder suchen. Dieser verdammte Dazbog!"
"Es war der blöde Fisch, der aus dem Fass gesprungen ist", korrigierte Ragilo.
"Nein, es war der Dazbog, in Gestalt eines Fisches", widersprach sie. "Sobald er den Boden berührte, verschwand er."
"Bist du sicher?", fragte Gisulf.
"Ja, ich habe es genau gesehen." Adira nickte eifrig. "Er will mit aller Macht meine Seele."
"Wie oft hast du ihn jetzt abgewiesen?", wollte Gisilf wissen.
"Fünfmal", sagte Adira düster.
Gisulf führte sie um eine Ecke und blieb vor einem schlichten Gebäude stehen. Über dem Eingangstor hing ein Büschel Kräuter.
"Das ist ein Tempel Narbazes", erklärte er. "Hier sind wir sicher. Die Priester sind sehr verschwiegen. Außerdem muss Ragilos Arm versorgt werden."
"Autsch!", sagte dieser. "Jetzt hast du mich daran erinnert, dass mich der Bastard erwischt hat." Stirnrunzelnd betrachtete er einen Schnitt in seiner Jacke, dessen Ränder feucht schimmerten.
Gisulf zog an einem Seil, das aus einem Loch in der Wand hing. Ein dumpfer Ton erklang. Dann hörte man das Patschen von Sandalen auf Stein und die Tür öffnete sich.
"Der Segen Narbazes sei mit euch. Was begehrt ihr von unserem Herrn?", fragte ein junger Novize freundlich.
"Mein Bruder ist verletzt und braucht mehr als nur einen Segen", sagte Adira schnell.
Der Novize nickte und führte sie in einen lang gestreckten Raum. Gegenüber der Tür, am anderen Ende des Saals stand eine Statue Narbazes, vor der einige Novizen im Gebet auf den Knien lagen.
Ihr Führer begutachtete die Wunde und legte ein sauberes Tuch darum. Dann wies er auf eine steinerne Bank. "Nehmt Platz. Ich werde einen Priester verständigen. Es wird aber ein wenig dauern. Vor einer Stunde kam ein Dutzend Männer, die in einer Wirtshausschlägerei verletzt wurden."
"Wir warten", sagte Ragilo. "Ist ja nur ein Kratzer."
Nach einer halben Stunde kam der Novize wieder und bat sie, ihm zu folgen. Er führte sie einen Gang entlang, von dem auf beiden Seiten Türen in kleinere Zimmer führten. Ein junger Mann in einem langen Hemd kam ihnen entgegen. Sein rotes Haar war streng zurück gekämmt und um den Hals trug er einen dicken Verband. Ein Mönch stützte ihn, denn er schwankte vor Schwäche.
Als er die drei Gefährten sah, fiel er vor Ragilo auf die Knie. "Mein Graf! Ich danke dir!", rief er fast schluchzend. "Mein Leben gehört dir. Verfüge über mich, denn du hast mich aus den Klauen des Teufels gerettet."
Verwirrt starrte Ragilo den Jüngling an. "Ich kenne dich nicht", sagte er. "Du musst mich mit jemand anderem verwechseln."
"Verzeih, dass ich dir widerspreche, Herr", beharrte der junge Mann. "Ich bin Menon, der Sohn des Hufschmieds Zotto aus Damkina. Mein Vater und ich haben oft Pferde aus der Burg beschlagen. Erinnerst du dich nicht an mich?"
Nun dämmerte es Ragilo. "Menon", wiederholte er. "Ja jetzt erinnere ich mich. Aber wie kommst du hier her? Was ist dir zugestoßen? Ich dachte, du bist tot."
Damkina lag nahe der Burg Taifalen. Vor zwei Jahren war die Schmiede in Flammen aufgegangen und bis auf die Grundmauern nieder gebrannt. Alle hatten angenommen, dass die ganze Familie des Schmieds in den Flammen umgekommen war.
"Du hast mich aus Tulgas Gefangenschaft gerettet." Er umschlang Ragilos Knie. "Ich werde dir ewig dienen. Sag nur ein Wort und ich gebe mein Leben für dich."
"Du warst Tulgas Sklave?!", rief der Graf aus. Tatsächlich war in dem frisch gewaschenen und gekämmten Jüngling im sauberen Hemd kaum mehr der zerlumpte, schmutzige Sklave zu erkennen.
Nun trat aber der Mönch herbei. "Verzeih, Herr, dieser Jüngling ist sehr erschöpft", sagte er. "Er braucht zuerst eine Erfrischung und Ruhe. Dann kannst du mit ihm sprechen."
"Ja, natürlich", gab der junge Graf zu. "Wir sprechen uns später, wenn mein Arm verbunden ist."
Eine halbe Stunde später saßen sie Menon im Speisesaal des Tempels gegenüber. Der Jüngling sah zwar müde aus, wirkte aber trotzdem erholt.
"Wie konntest du in Tulgas Gewalt geraten?", wollte Ragilo wissen, die Dankrede Menons abschneidend. "Ich habe die verkohlten Trümmer der Schmiede gesehen und dachte, du wärst im Feuer umgekommen."
"Ein Feuer?", rief Menon erschrocken. "Dann hat es der Teufel selbst gelegt!" Zornig ballte er die Hände zu Fäusten. "Tulga kam zu uns, weil sein Gaul ein lockeres Hufeisen hatte. Während ich mich um das Eisen kümmerte, überredete er meinen Vater zu einem Würfelspiel. Er hatte auch Wein dabei und bot uns davon an. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Als ich erwachte, trug ich den Eisenkragen am Hals und Tulga behauptete, mein Vater hätte mich verkauft, als Pfand für seine Schulden. Natürlich versuchte ich zu fliehen, aber bis jetzt gelang es mir nicht. Tulga gab mir so wenig zu essen, dass ich immer schwächer wurde."
Das Gesicht des jungen Grafen hatte sich im Laufe der Erzählung vor Zorn gerötet. "Das wird den König sicher sehr interessieren", knirschte er. "Du wirst uns begleiten, wenn wir Tulga zum König bringen. Dann kannst du deine Sache selbst vortragen."
"Zuerst müssen wir ihn haben", warf Adira ein. "In welchem Gasthof hat er sich denn eingemietet?"
"Im Goldenen Teller. Er hat dort zwei Zimmer gemietet. Ein Eckzimmer für sich selbst und das zweite für seinen dienstfreien Leibwächter."
"Den Goldenen Teller kenne ich", sagte Gisulf. "Dort habe ich auch schon übernachtet."
Menon beschrieb ihnen noch die genaue Lage von Tulgas Zimmern. Es war ihm anzusehen, dass er die Augen nur noch mit Mühe offen halten konnte. Da tauchte wie aus dem Nichts ein Novize auf und führte den Jüngling mit einer Entschuldigung hinaus.
"Wir holen dich morgen hier ab", rief ihm Ragilo noch nach. Dann wandte er sich an seine Gefährten. "Worauf wartet ihr noch? Schnappen wir ihn uns!" Obwohl sich der Tag dem Abend zu neigte, war er voll Tatendrang.
"Wenn du 'schnappen' sagst, klingt das ziemlich tödlich", meinte Gisulf zweifelnd.
"Er ist mein Untertan und Tulga hat ihn versklavt!", entgegnete der junge Graf wütend. "So etwas nehme ich sehr persönlich!"
"Das ehrt dich, Ragilo. Es wäre aber klüger, ihn zu belauschen. Wenn du ihn umbringst, wird es schwieriger werden, das Komplott aufzudecken."
Ragilo schnaubte verärgert, nickte aber dann doch.
"Außerdem wollten wir ihn doch zum König bringen", erinnerte ihn Adira. "Da brauchen wir ihn lebend."
"Nun hackt doch nicht gleich alle beide auf mir herum!", rief Ragilo aus. "Ich hab's ja schon kapiert!"
Gisulf klopfte ihm begütigend gegen den gesunden Arm. "Es würde mich auch interessieren, wie es dem Leibwächter geht, den du dir so trefflich vorgenommen hast. Wenn wir Glück haben, ist er ernsthaft verletzt. Das wäre ein Gegner weniger."
Das versteckte Lob versöhnte Ragilo wieder. Er drückte sogar ein wenig die Brust heraus, als sie durch die Gänge des Tempels gingen. Begannen sich die Beiden nun doch zu vertragen?, fragte sich Adira. Sie wünschte sich nichts Anderes für ihr Vorhaben.

Als sie wieder auf die Straße traten, dämmerte es schon. Kneipen und Gasthäuser waren hell erleuchtet. Ab und zu sahen sie auch Licht hinter den Fenstern von Wohnhäusern.
Gisulf führte sie durch schmale Seitengassen. Wenn sie Schritte hörten, verbargen sie sich in Hauseingängen. Zumeist waren es Wachen oder Zecher auf dem Weg zu einer Kneipe. Unbehelligt gelangten sie an ihr Ziel.
Der Goldene Teller bot sich als einstöckiges Gebäude dar. Über dem Haupteingang hing an einer eisernen Kette eine flache Scheibe, die mit Goldfarbe bemalt war. Links und rechts des Eingangs hingen Laternen, die sich überschneidende Halbkreise aus Licht vor die Tür warfen. Nach Menons Beschreibung befand sich Tulgas Zimmer an der Rückseite des Hauses.
Auf Zehenspitzen schlichen die drei Gefährten näher. Aus dem Stall neben dem Gasthof hörten sie das Stampfen von Pferden. Ein schmaler Gang trennte den Stall von dem Nebenhaus. Gisulf führte sie durch diesen Gang. Gestikulierend warnte er sie vor Müll- und Unrathaufen.
Endlich waren sie an der Rückseite des Hauses. Sechs Fenster verteilten sich gleichmäßig über die obere Etage. Nur hinter dem ersten von links war Licht zu sehen. Nach Menons Beschreibung hatte Tulga die beiden Räume an der linken Ecke gemietet. Vorsichtig untersuchten sie die Wand nach einer Möglichkeit nach oben zu klettern. Das Einzige, was sie fanden, war eine Regenrinne, die an der Ecke des Gebäudes in eine große Tonne mündete. Plötzlich erschien flackernder Lichtschein im Eckzimmer.
"Du bist leichter als ich", sagte Gisulf leise zu Ragilo. "Kannst du klettern?"
"Ja, aber verdammt!", fluchte dieser. "Wie komme ich da hinauf?"
"Nicht nötig", flüsterte Adira. Sie hatte entdeckt, dass die Regentonne halb voll Wasser war. Mit Schwung spritzte sie Wasser gegen Tulgas Fenster. Dann tauchte sie eine Hand in die Tonne und summte dazu eine leise Melodie.
"... geboten habe, ließ er Dyauh nicht gehen", erklang Tulgas wütende Stimme aus der Tonne. "Du wirst die ganze Nacht allein wachen müssen, Ilion."
"Heute ist ein schwarzer Tag, Herr", beteuerte eine raue Stimme. Das musste der Leibwächter sein. "Ich bin verwundet. Mein Knie schmerzt. Vielleicht kann ich Menon ausfindig machen. Er könnte ...."
"Erinnere mich nicht an diese Ratte!", keifte Tulga. "Sag mir lieber, wo ich Ersatz für Dyauh finde."
"Einer verwundet, der andere eingesperrt", grinste Ragilo. "Das ist ...."
"Scht!", machte Adira und ihr Bruder verstummte. Die Stimmen wurden bereits leiser, da das Wasser am Fenster trocknete.
"Es gibt sicher Söldner, die ....", sagte Ilion gerade.
"Die muss ich doch bezahlen!" Nun klang Tulgas Stimme schrill. "Geh auf deinen Posten! Wir brechen morgen früh auf. Je eher ich diesem Unglücksnest den Rücken kehren kann, umso besser. Wir gehen nach Aditya. Ich muss mich mit dem Schwarzen besprechen. Er soll mir den Taifaler vom Hals schaffen."
"Aber, Herr", wagte Ilion einzuwenden. "Eine Nacht ohne Schlaf und mit diesen Verletzungen ..."
"Das ist eine Notsituation!", brüllte es nun verhalten aus der Tonne. "Da musst du eben ein wenig mehr Einsatz zeigen. Verschwinde endlich, ich bin müde!"
Eine Tür krachte ins Schloss. Dann öffnete sie sich leise wieder.
"'Tschuldigung. Ist mir ausgerutscht", brummte Ilion. Sogar ein Kind hätte gemerkt, dass er es nicht ernst meinte. Die Worte waren für die Lauscher fast nicht mehr zu verstehen.
Dann waren nur noch Geräusche zu hören, die ein Mensch macht, wenn er sich zur Ruhe begibt. Allerdings waren diese so leise, dass man sich schon sehr tief übers Wasser beugen musste, um noch etwas zu hören.
"Hab ich ihm den Tag verdorben?", grinste Ragilo schadenfroh.
Gisulf stieß ihn kameradschaftlich in die Seite.
"Der Zauber ist erloschen", sagte Adira. "Gerade rechtzeitig."
"Der Kerl spielt uns in die Hand", meinte Gisulf am Heimweg. Damit hatte er Recht. Aditya, die Hauptstadt Baudions, lag in Hoch-Baudion. Von Moeris führte nur die Südstraße in diese Richtung.
"Wen kann er mit dem Schwarzen meinen?", überlegte Adira.
"Gute Frage", meinte Gisulf. "Am besten wird sein, wir folgen ihm unauffällig. Vielleicht führt er uns zu ihm. Jetzt sollten wir aber in unsere Herberge zurück kehren. Schließlich haben wir einen Vertrag mit dem Wirt."
Leise eilten sie durch Moeris und waren bald in ihrer Herberge. Die Dunkelheit war nun vollends herein gebrochen und der Wirt empfing sie mit saurem Gesicht.
"Wolltet ihr nicht bei Einbruch der Dunkelheit zu spielen beginnen?", nörgelte er.
"Es gab einen Tumult auf dem Markt", meinte Gisulf entschuldigend. "Dabei wurde mein Schwager verletzt. Aber er kann noch ohne weiteres singen und tanzen."
Schnell holten sie ihre Instrumente und begannen mit ihren Liedern. Ragilos Gesang erntete nur wenig Aufmerksamkeit. Erst als er zu tanzen begann, verstummten nach und nach die Gespräche. Die Gäste spendierten ihm Wein und verlangten nach mehr. Der Wirt rieb sich zufrieden die Hände. Mitternacht war schon vorüber als die letzten Zecher die Herberge verließen. Nun begaben sich auch Gisulf, Adira und Ragilo zu Bett.
"Wenn unser Vorhaben schief geht, weiß ich nun, womit wir unser Brot verdienen können", grinste Gisulf grimmig.

Adira erwachte als erste. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fielen schräg durch das Fenster. Still betrachtete sie die beiden schlafenden Männer neben sich. Ragilo, der im Schlaf fast kindlich wirkte und Gisulf, in dessen entspanntem Gesicht die Narbe nur ein weißer Strich war. Obwohl weit von einem Heim entfernt, fühlte sie sich zwischen diesen beiden geborgen. Im Schlaf vertragen sie sich am besten, dachte sie. Warum können sie es nicht auch tun, wenn sie wach sind?
Gisulf atmete tief ein und schlug die Augen auf. Lächelnd schlang er einen Arm um sie und küsste sie. Ja, das tat gut. Am liebsten hätte sie gar nicht mehr aufgehört.
Da hörte sie ein energisches Räuspern. "Äh, wollten wir nicht früh los?", fragte Ragilo grußlos.
"Ja, natürlich", stimmte Adira zu. "Wir müssen noch Menon abholen. Ich hoffe, dass er sich gut erholt hat. Übrigens, guten Morgen, Brüderchen."
"Guten Morgen", knurrte nun auch Ragilo, sah dabei aber nur Adira an.
"Geht es schon wieder los?", schimpfte sie.
"Wir könnten heute einmal den waffenlosen Kampf üben", schlug Gisulf mit süffisantem Lächeln vor. "Was meinst du, Ragilo?"
Adira wusste, dass er darin Meister war. Doch Ragilo war verletzt. "Nein", entschied sie. "Mit euren kleinlichen Streitereien gefährdet ihr unser Ziel. Wenn ihr eure Grafschaften wieder habt, könnt ihr euch die Schädel einschlagen."
Das ernüchterte die Männer wieder. Nach einigem Knurren und Zähnefletschen schlossen sie einen Waffenstillstand. Adira war aber erst zufrieden als sie gegenseitig den Eid der Waffenhilfe leisteten.
Gleich nach einem kräftigen Frühstück machten sie sich auf den Weg zum Tempel Narbazes. Menon erwartete sie schon. Er trug noch immer das Hemd, das ihm die Mönche gegeben hatten. Deshalb gingen sie zuerst auf den Markt und Ragilo verwendete eine Perle um ihn einzukleiden.
Als der junge Mann dann in ledernen Hosen, kurzer Tunika und einer warmen Jacke vor ihnen stand, hätte niemand mehr in ihm den zerlumpten Sklaven erkannt, der noch am Tag zuvor Tulgas Rucksack geschleppt hatte. Er wurde nicht müde, seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, bis ihm Ragilo befahl, endlich zu schweigen. Selbst dann warf er seinem entthronten Herrn ehrfürchtige Blicke zu.
"Menon braucht ein Pferd", entschied Ragilo kurzerhand. Da stimmten ihm Gisulf und Adira zu.
"Das werde ich erledigen", erklärte Adira. "Du bist gestern zuviel aufgefallen."
"Lass das lieber mich machen", wandte Gisulf ein. "Du fällst sonst wieder einem Rosstäuscher in die Hände."
Adira stieß ein zorniges Knurren aus. Es stimmte, dass sie einmal ein dämpfiges Pferd für teures Geld gekauft hatte. Aber das war mehr als zehn Jahre her. Inzwischen hatte sie eine Menge dazu gelernt. Sie ärgerte sich noch immer über ihre damalige Leichtgläubigkeit und Gisulf ließ keine Gelegenheit zum Sticheln aus.
"Das wirst du mir wohl noch in hundert Jahren vorwerfen", giftete sie. "Ich war damals ein halbes Kind! Lässt du deine schlechte Laune jetzt auch auf mir aus?" Ihre Faust drohte knapp vor seiner Nase.
Ragilo lachte hämisch. "Willst du sie wirklich heiraten? Bei ihrer Schlagkraft könnte sie deine Grafschaft ordentlich aufmischen."
Gisulf hatte schon eine geeignete Antwort auf der Zunge. Dann besann er sich. "Zuerst muss ich meine Grafschaft wieder haben", brummte er mürrisch und legte einen Arm um Adiras Hüfte. "Wir sind alle gereizt. Verzeih mir, mein Liebes. Wir können doch gemeinsam ein Pferd aussuchen."
"Gut", stimmte sie zu und fand auch keinen Grund, sich aus seinem Griff zu befreien.
Auch Ragilo war nachdenklich geworden. Ein "Nimm deine Hände von meiner Schwester!" konnte er sich aber nicht verkneifen. Erfolg war ihm jedoch keiner beschieden.

Gisulf und Ragilo hatten beide ihre Pagenzeit in Aditya am Hof des Königs absolviert. Der Partiener war in den Jahren als er die Grafschaft für seinen Bruder führte, jedes Jahr zumindest einmal in der Stadt gewesen um die Steuern in Form von Spinnenseide abzuliefern. Sie kannten die Stadt gut, wollten Tulga aber heimlich folgen.
Im ersten Dorf fragten sie nach dem Händler. Er hatte hier übernachtet und bei der Kräuterfrau den Verband seines Dieners erneuern lassen. Sie waren also auf dem richtigen Weg. Frohgemut ritten sie am nächsten Morgen weiter.
Doch schon im nächsten Dorf verloren sie Tulgas Spur. Auch die Aussicht auf Bezahlung brachte nur ein Kopfschütteln. Nun befragten sie Reisende, die zu Fuß auf der Südstraße unterwegs waren. In der Mehrzahl waren es Pilger, die zum Schrein von Horratas wollten, von dessen heilkräftiger Quelle sie sich Heilung erhofften. Es lag nahe, dass auch Tulga zu dem Heiligtum wollte. Warum hatte er aber dann die direkte Straße verlassen?
"Könnte er einen anderen Weg genommen haben?", überlegte Gisulf nachdenklich und rieb mit dem Finger über die Narbe auf seiner Wange. Er war so sicher gewesen, dass diese Straße die richtige war.
Ragilo und tippte kurzerhand einem jungen Mann mit einem steifen Bein auf die Schulter. "Gibt es noch eine andere Straße zum Schrein von Horratas?", fragte er. "Vielleicht einen kleinen Umweg?"
"Das kann nur der Hintere Pfad sein", meinte dieser. "Er ist kürzer als dieser Weg, aber wesentlich beschwerlicher. Für mein schlimmes Bein ist er nicht geeignet. Die nächste Abzweigung liegt zwei Meilen voraus."
Der Vollständigkeit halber fragte er den Mann auch nach Tulga.
"Der hat gestern die Abzweigung vor dem letzten Marktflecken genommen", kam die ersehnte Antwort.
Ragilo dankte dem Mann mit einer kleinen Münze. "Na, bitte!" Stolz richtete er sich im Sattel auf und zupfte an seinen braunen Locken.
"Gib nicht so an, Bruder! Wir müssen weiter. Sein Mann scheint so schwer verwundet zu sein, dass er schnelle Hilfe braucht", sagte Adira schnell.
Schweigend machten sie sich auf den Weg, bis ihre knurrenden Mägen nach einer Rast verlangten. Neben der Straße floss ein schmaler Bach. Die Sonne stand hoch und so stiegen sie ab. In Moeris hatten sie sich mit Lebensmitteln für drei Tage ausgestattet. Davon aßen sie jetzt. Gestärkt wollten sie sich wieder auf den Weg machen.
"Wenn wir uns beeilen, können wir Tulga im Schrein erwischen", meinte Gisulf.
"Da müssen wir uns aber sehr beeilen", zweifelte Adira. "Der Kerl ist gestern schon auf den Hinteren Pfad abgebogen während wir einen Umweg geritten sind."
"Ich kann Tulga für dich aufhalten", sagte der Dazbog. Er stand auf dem Wasser des Bächleins und grinste sie an. Dabei betrachtete er auf kokette Art seine Hände und Adira wunderte sich, dass ihr noch gar nicht aufgefallen war, wie lang die Nägel des Wassergeistes waren.
Menon sprang erschrocken auf. "Ein Seelenfresser!", rief er. Dann musste er mit seinem Pferd kämpfen. Während ihrer Rast hatte er den Zügel um seinen Arm geschlungen. Nun hatte der Gaul durch seinen Sprung einen harten Ruck erhalten und stieg mit hellem Wiehern vorn hoch.
"Verschwinde!", schrie Adira das Wesen an. "Ich brauche dich nicht!"
Der Dazbog kicherte und warf eine Handvoll Wasser auf den Falben, bevor er in den Fluten versank. Nun gänzlich in Panik begann das Pferd auszuschlagen. Fast hätte es Menon die Zügel aus der Hand gerissen. Ragilo und Gisulf warfen Adira die Zügel ihrer Pferde zu, die auch schon unruhig zu werden begannen und eilten Menon zu Hilfe. Es dauerte eine gute Weile bis sie den Falben wieder beruhigt hatten. Verschwitzt, zerkratzt und schnaufend standen die drei Männer da und Ragilo hielt sich auch noch ächzend die Seite.
"Oh Herr!", jammerte Menon. "Nun hast du meine Schuld verdoppelt! Das Pferd hat dich verletzt. Es ist alles meine Schuld. Wie kann ich das nur je gut machen!"
"Sei still!", fuhr ihn Ragilo an. "Wenn ich wieder Graf in Taifalen bin, bekommst du soviel Arbeit von mir, dass du Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommst."
"Nun haben wir auch einen Grund, den Schrein aufzusuchen", meinte Gisulf trocken und leckte Blut von einem Kratzer auf seiner Hand. "Vielleicht war dies ein Zeichen der Götter. Du bist ein lebendes Orakel, Ragilo."
Ragilo stieß ein raues Lachen aus, das in einem schmerzlichen Japsen endete. "Mach keine Späße, Gisulf", brummte er. "Lachen tut verdammt weh."
"Lass mal sehen!" Adira trat zu ihm. Kundig tasteten ihre Finger über seinen Brustkorb. Ragilo biss die Zähne zusammen.
"Eine angeknackste Rippe", erklärte sie. Kurz entschlossen wickelte sie sein Reservehemd um seinen Brustkorb und band es mit den Ärmeln fest. "So müsste es gehen", meinte sie zufrieden.
"Ich kann gar nicht richtig Luft holen", ächzte er.
"Dafür sticht es nicht mehr", versuchte sie ihn aufzumuntern.
"Hast du eine Ahnung!" Grummelnd bestieg er sein Pferd.
Seine Gefährten folgten seinem Beispiel. Es dauerte auch nicht lange, da fanden sie die Abzweigung zum Hinteren Pfad. Steil und steinig wand er sich zwischen hohen Fichten und Erlen hindurch. Sie ritten nun hintereinander und selbst da mussten sie immer wieder Zweigen ausweichen.
Der Falbe erwies sich als ebenso trittsicher wie die anderen Pferde. So kamen sie zügig voran. Ein Pilger mit Geschwüren im Gesicht und an den Händen bestätigte dann noch, dass Tulga und Ilion diesen Weg genommen hatten. Das hob ihre Stimmung.
Adira hing ihren eigenen Gedanken nach. Sechsmal hatte sie nun den Dazbog zurück gewiesen. Einmal noch, dann war sie frei. Welchen Anlass würde er sich dafür aussuchen? Und kam für eine letzte Weigerung wieder eine Rache wie in Moeris und eben jetzt? Im Geist verfluchte sie sich selbst für ihre Unvorsichtigkeit.

Den Schrein von Horratas erreichten sie bereits gegen Abend. Fast hätten sie ihn übersehen, denn mächtige Trauerweiden ließen ihre Zweige wie Vorhänge über die weit ausladende, hölzerne Kuppel hängen. Es überraschte sie einigermaßen als aus dem lebenden Vorhang ein Mann in einer dunkelgrünen Kutte hervortrat.
"Der Segen Horratas sei mit euch", begrüßte er sie. "Seid ihr Wanderer oder Hilfesuchende?" Es war ein kleiner Mann, unter dessen Kutte sich ein ansehnliches Bäuchlein wölbte. Scharfe, dunkle Augen blickten aus einem alterslosen, runden Gesicht, dessen Form durch die völlige Kahlheit des Kopfes noch unterstrichen wurde. Er strahlte soviel Würde aus, dass ihnen eine ehrerbietige Verneigung als selbstverständlich erschien.
"Mein Bruder ist verletzt", antwortete Adira und wies auf Ragilo.
Ragilos Gesicht war blass und seine verkniffene Miene ließ vermuten, dass er starke Schmerzen hatte. Für eine Sekunde ruhte der Blick des Priesters auf ihrer verstümmelten Hand, dann gab er ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen. Wie aus dem Nichts tauchten zwei Jünglinge auf und übernahmen ihre Pferde.
Der Schrein hatte einen Durchmesser von hundert Schritten. In der Mitte befand sich der Brunnen mit dem heilkräftigen Wasser. Adira zählte elf Kranke, die auf Betten ruhten, die derart angeordnet waren, dass das Fußende zur Mitte zeigte. Auch Ilion lag auf so einer Liege. Tiefer Schlaf schien ihn umfangen zu halten. Alarmiert stieß sie Gisulf an und er nickte verstehend.
Sofort jagte der Blick des Priesters zwischen dem Leibwächter und Gisulf hin und her. Wortlos führte er sie am Brunnen vorbei zu einer kleinen Tür auf der anderen Seite der Kuppel. Adira verhielt kurz den Schritt vor dem runden Becken, in dem das Wasser in unirdischem Blaugrün leuchtete. Ihre Augen konnten keinen Grund erkennen. Da tauchte das Gesicht eines alten Mannes aus den unergründlichen Tiefen auf. Er musterte sie ernst und sank wieder ins Bodenlose.
Ein Räuspern des Priesters ließ sie der Gruppe nach hasten. Endlich gelangten sie in eine kleine Kammer. Ein Mann in den Fünfzigern saß hinter einem Schreibtisch, voll gepackt mit Büchern. Eines lag aufgeschlagen vor ihm. Eine Aura von Weisheit umgab ihn. Der Priester verbeugte sich vor ihm tief und die Reisenden taten es ihm nach. Obwohl kein Wort fiel, verbeugte sich der Priester wieder und blieb abwartend stehen.
"Ragilo von Taifalen", redete der Hohepriester den jungen Grafen an. "Du suchst Heilung für deinen Körper?"
Überrascht nickte der Angesprochene.
"Folge dem Diener Horratas!"
Ragilo warf seinen Gefährten einen fragenden Blick zu. Da berührte ihn der kleine Priester leicht am Arm und führte ihn hinaus.
"Dürfen wir dir eine Frage stellen, Ehrwürdiger?", fragte Gisulf.
"Was willst du wissen?", war die Antwort.
"Wir suchen einen Mann mit einem verstümmelten Ohr. In seiner Begleitung war ein verletzter Krieger, den wir jetzt im Schrein gesehen haben. Ist sein Herr noch hier? Er nennt sich Tulga."
"Dieser Mann war hier um Heilung für seinen Diener zu erbitten", berichtete der Hohepriester. "Welche Geschäfte habt ihr mit ihm?"
"Er spielte eine wichtige Rolle in einer Intrige, die uns Haus und Hof kostete", sagte Gisulf bitter. "Wir wollen ihn zum König bringen, damit er am Wahrheitsstein seine Schuld bekennt."
"Tulga hat den Schrein heute morgen verlassen. Er bat auch um Schutz für sein Eigentum. Das gewährte ich ihm", erzählte nun der oberste Diener Horratas. "Vermutlich wusste er nicht, dass Horratas unrechtmäßig erworbenes Gut in Verwahrung nimmt, sobald es in den Schrein gebracht wird. Denn als er ging, gelang es ihm nicht, das, was er als sein Eigen bezeichnete, mit zu nehmen. Er war sehr wütend darüber. Nun frage ich mich, ob dieser Mann vielleicht euch bestohlen hat."
Der Priester öffnete eine Lade an seinem Schreibtisch und nahm zwei Beutel aus braunem Leinen heraus. Einer hatte die Größe eines Brotweckens, der andere etwa die Hälfte davon. Zuerst öffnete er den größeren Sack und schon kullerten einige Rollen Borte aus Spinnenseide heraus. In dem anderen Säckchen waren Perlen.
"Spinnenseide aus Partiene und Perlen aus Taifalen", sagte der Priester. "Welch ein Zufall!" Sein Tonfall ließ keinen Zweifel, dass er an alles andere als einen Zufall glaubte.
"Die Spinnenseide kommt tatsächlich aus Partiene", erklärte Gisulf. "Die könnte ich in Verwahrung nehmen. Über die Perlen kann dir aber sicher Ragilo etwas erzählen."
Ein hintergründiges Lächeln huschte über das Gesicht des Priesters. "So soll es geschehen. Zuerst hören wir aber noch den jungen Grafen."
Gerade in diesem Moment kam Ragilo wieder zur Tür herein. Sein Reservehemd trug er über dem Arm. Müdigkeit zeichnete sein Gesicht, aber die Linien des Schmerzes waren verschwunden.
"Tulga hat einen Sack voll Perlen hier gelassen", informierte ihn Adira. "Nun ist der Heilige der Meinung, dass ihm diese nicht zustehen. Was meinst du dazu?"
"Zwanzig Jahre lang ließ sich dieses Aas für falsche Nachrichten mit Perlen bezahlen!", rief Ragilo aufgebracht. "Die Perlen gehören Taifalen!"
"Gut gesprochen, Graf!" Lächelnd nickte der Hohepriester. "So soll es sein." Auffordernd streckte er die Hände aus.
Ragilo nahm den Sack mit den Perlen an sich. "Taifalen hat das bitter nötig", sagte er.
Auch Gisulf trat an den Tisch und streckte die Hand nach dem Sack mit der Spinnenseide aus. Es war ihm aber unmöglich, sie zu berühren. Statt dessen zuckte er zurück. "Was soll das?", rief er ärgerlich.
"Der Heilige hat bestimmt, dass sie dir nicht gehört", erklärte der Priester trocken. "Da sie zweifellos aus Partiene stammt, hast du sie wohl verkauft. Es fragt sich nur, an wen."
"Was in diesem Sack ist, könnte die Jahresproduktion eines Webers sein", meinte Gisulf. "Ich bin sicher, dass es Blutgeld ist."
"Auch der Heilige ist dieser Meinung", stimmte der Ehrwürdige geduldig zu.
"Vielleicht könnte ich mit meiner Magie herausfinden, wer es war", schlug Adira zögernd vor.
"Das ließe sich machen", war die Antwort. "Ruh dich aus und morgen werde ich dir eine Rolle für einen Zauber zur Verfügung stellen. Mitnehmen kannst auch du die Seide nicht."
"Was geschieht dann damit?", fragte Gisulf, der mit dem Urteil des Schreins gar nicht zufrieden war.
"Der Sack wird aufbewahrt. Sobald der Eigentümer ermittelt ist, bekommt er eine Botschaft von uns."
"Aber es ist ganz sicher Blutgeld", beharrte Gisulf. "Mag ja sein, dass er es von jemand bekommen hat, der sie von uns kaufte. Aber der Gegenwert war sicher ein Verbrechen. Willst du dem Anstifter die Seide geben?"
"Auch das wird der Heilige nicht zulassen."
"Was geschieht dann mit der Seide?", ließ Gisulf nicht locker.
"Der Heilige wird entscheiden." Mehr war dem Priester nicht zu entlocken.
Eine Weile brütete Gisulf vor sich hin, dann hob er bittend den Blick. "Kannst du mir sagen, wie es meinem Bruder geht? Und wie steht es in Partiene? Ich mag gar nicht daran denken, was Dumias meinen Leuten antun könnte!"
Lange sah ihn der Priester an. "Ja, ich sehe tiefe Sorge in deinem Herzen", sagte er dann und ging voraus in den Schrein. Vor dem Brunnen murmelte er mit ausgebreiteten Armen ein Gebet. Dann sagte er zu Gisulf: "Stelle deine Fragen. Das Wasser Horratas wird dir antworten."
Gisulfs erste Frage galt Hildrich. Ein Schleier schob sich über das Wasser. Dann erschien ein helles Zimmer. Hildrich saß an einem Pult und schrieb konzentriert mit seiner linken Hand. Die Buchstaben waren kaum leserlich und er legte immer wieder eine Pause ein und schüttelte seine Hand. Ein Mönch trat zu ihm und sprach auf ihn ein. Gisulf konnte die Worte nicht verstehen, doch die Gesten waren freundlich. Der Einäugige lächelte. Jetzt schien er Gisulf voll ins Gesicht zu sehen. Die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden, das Haar war nun ganz grau. Doch ein Teil seiner Gehetztheit war von ihm abgefallen. Wenigstens eine Sorge wurde kleiner.
"Was geschieht in Partiene?", fragte er nun.
Wieder glitt der Schleier über das heilige Wasser. Dann erschien Dumias. Er saß im Rittersaal, die Grafenkette von Partiene um den Hals. Gisulf stieß ein wütendes Zischen aus. Dumias tafelte gerade. Er ließ sich erlesene Leckerbissen servieren, kostete davon ein wenig und warf den Rest auf den Boden. Die Diener standen mit steinernen Gesichtern daneben.
"Er verschwendet meine Vorräte!", ärgerte sich Gisulf. Diese Sorge lastete nun noch schwerer auf ihm. Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. Da verschwamm das Bild und das Wasser war wieder klar.
Gisulf neigte sich zu Adira und flüsterte ihr etwas zu. Sie hob zweifelnd eine Hand. Doch er flüsterte nur noch eindringlicher, bis sie errötend nachgab.
"Noch eine Bitte haben wir", wandte sich der Graf nun an den Priester. "Adira und ich sind eine Soldatenehe eingegangen. Wir bitten um den Segen des Heiligen."
"Sage mir, Gisulf von Partiene, ist deine Liebe zu Adira von Taifalen so groß, dass sie ein Leben lang währen kann?", fragte der Priester nach einer kurzen Pause.
"Ja, das ist sie", bekannte Gisulf mit Inbrunst.
"Und wie steht es mit dir, Adira von Taifalen?"
Adiras brachte vorerst gar kein Wort heraus. Ihr Herz schrie: "Ja, ja, ja!" Wieder einmal brachte sie kein Wort über die Lippen, gerade jetzt. Wütend stampfte sie auf.
"Ja, ich will es auch", sagte sie fest und musste über Gisulfs verwundertes Gesicht lächeln.
"Der Heilige ist bereit, euren Bund zu segnen", meinte der Priester ernst. "Es liegt an euch, diesen Segen anzunehmen."
Gisulf öffnete die Arme und im nächsten Moment lag Adira an seiner Brust. Der Priester vollführte eine bogenförmige Bewegung mit seiner Rechten und klingelnd regneten glitzernde Sterne auf das Paar herab. Eine Weile waren sie nur mit einander beschäftigt. Deshalb bemerkten sie auch nicht, dass zwei Kuttenträger herein kamen und Ragilo mit freundlichen Worten aufforderten, ihnen zu folgen.
"Das Wasser Horratas macht müde", erklärte nun der Hohepriester. "Euer Bruder hat sich bereits zur Ruhe begeben. Auch für euch ist vorgesorgt."
"Folgt dem Priester", sagte der Erste Diener Horratas.
Das taten sie auch. Menon wurde in einen Gemeinschaftsschlafsaal geführt, aber Gisulf und Adira bekamen eine kleine Kammer zugewiesen.

Nach dem Frühstück führte sie ein Mönch in den Arbeitsraum des Hohenpriesters. Menon ging auch mit, blieb aber bescheiden an der Wand stehen. Dort übergab der fromme Mann Adira eine Rolle Spinnenseide und einen Krug mit Wasser.
"Ich sehe einen Schatten auf dir liegen, Wassermagierin", sagte er. "Du musst sehr stark sein, wenn du ihn bekämpfen willst."
"Ja, Ehrwürdiger", bekannte sie. "Durch ein Missgeschick habe ich einen Dazbog gerufen. Er hat das Pferd verhext, das meinen Bruder verletzt hat. Ich weiß, dass dies meine Schuld war."
"Ehrwürdiger!" Ragilo trat vor und sah den Hohepriester bittend an. "Ich bin krank vor Sorge um meine Frau und meine Tochter. Sag mir, geht es ihnen gut?"
Nun führte der Priester Ragilo zum heiligen Brunnen und wiederholte das Ritual wie am Vortag. "Stelle deine Fragen. Das Wasser Horratas wird dir antworten." Gisulf und Adira waren neugierig gefolgt.
"Ich will Egeria und Swana sehen!", rief Ragilo ungeduldig.
Wieder zog sich ein Schleier über das Wasser und enthüllte schließlich einen herbstlichen Garten. Egeria saß auf einer Bank und spielte mit dem Kind auf ihrem Schoß. Ihr Gesicht wirkte frisch und gesund. Das Kleine lächelte und die junge Mutter drückte es liebevoll an sich. Dann ging ihr Blick in die Ferne. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Egeria!", rief Ragilo und streckte beide Hände nach ihr aus, traf aber nur das Wasser. Im selben Moment war das Bild verschwunden. "Oh, könnte ich nur bei dir sein!", jammerte er. Mit dem Ärmel wischte er über seine Augen. Dann holte er tief Luft. "Was macht Orsines!"
Der Brunnen zeigte den Arvaner in Ragilos Arbeitszimmer. Vor ihm auf dem Tisch lagen ein gutes Dutzend Leinensäckchen aufgereiht. Orsines war dabei, sie in eine Truhe zu schlichten.
"Er plündert mein Land aus!", regte sich Ragilo auf. "Das sind Perlen! Wir müssen sofort aufbrechen."
"Er legt die Perlen doch nur in die Truhe, in die du sie auch legst. Halte doch mal die Füße still!", sagte Adira und hielt ihm die Spinnenseide unter die Nase. "Zuerst will ich wissen, was dies uns zu sagen hat."
Widerwillig folgte Ragilo seinen Gefährten in den Arbeitsraum des Hohenpriesters. Dort nahm Adira die Spinnenseide in die Rechte und steckte die Linke in den Krug. Während sie mit der Hand im Wasser rührte, summte sie eine Melodie. Die Borte entrollte sich in ihrer Hand. Spinnenseide bauschte sich auf ihrem Handteller, quoll zwischen ihren Fingern durch. Der Weber hatte ein Blumenmuster gewählt. Veilchen und Himmelschlüssel neigten sich hin und her. Dann erschien ein Falke und landete auf der Blumenwiese. Die Seide nahm einen rosigen Farbton an, der sich immer mehr verstärkte, bis sie aussah als wäre sie mit Blut getränkt. In dem Rot formte sich ein Gesicht, das den Dreien wohlbekannt war.
"Das ist einer von Sesualds Söhnen!" "Einer der Zwillinge!" "Dumias oder Orsines?" Diese Ausrufe kamen fast gleichzeitig von Adira, Ragilo und Gisulf.
"Dieser Mann dient einem Blutmagier", sagte eine ernste Stimme.
Adira fuhr erschrocken herum. Der Hohepriester deutete auf die Spinnenseide. Das Gesicht war verschwunden und auch die rote Farbe verblasste bereits.
"Er hat einen Blutmagier engagiert?", rief Gisulf aus.
"Mag sein, dass er das so sieht. Wer sich mit einem Blutmagier einlässt, dient ihm letzten Endes doch. Er muss ihn mit Blut bezahlen und wenn er niemanden findet, in den er die Feder stoßen kann, muss er sein eigenes geben." Demonstrativ kreuzte der Priester die Hände vor der Brust und steckte sie in die weiten Ärmel seiner Robe.
"Die Feder?", rief Adira. "Dumias hatte eine kleine, graue Feder in der Hand als er im Beratungszelt neben dem König saß."
"Ich habe keine Feder gesehen", meinte Ragilo verwundert und auch Gisulf schüttelte den Kopf.
"Ihre Magie hat sie enthüllt", klärte der Priester das Rätsel auf. "Wasser kann das Blut weg waschen."
Blutmagie war in Baudion und allen Nachbarländern verboten. Die Strafe dafür war der Tod. Auf den Südinseln wurde sie aber noch praktiziert. Seit mehr als zehn Jahren hatte es keinen Fall von Blutmagie mehr in Baudion gegeben. Da diese Art der Magie aber sehr wirksam war, ließen sich doch ab und zu Magier verlocken, trotz der körperlichen Veränderungen, die damit verbunden waren. Eines der auffälligsten Merkmale der Blutmagier war ein dünner Federkranz, der um ihren Hals spross. Durch diese Federn holten sie sich auf magischem Wege das Blut ihrer Opfer.
"Dann gehört die Spinnenseide Dumias", stellte Gisulf trocken fest. "Tulga muss sie von ihm bekommen haben. Und ihm willst du die Spinnenseide geben?"
"Ich denke nicht, dass der Heilige so entscheiden wird", meinte der Priester milde.
"Wer bekommt sie dann?" Gisulf rechnete sich noch immer eine Chance aus.
"Fasse dich in Geduld, Gisulf von Partiene, und vertraue dem Urteil des Heiligen."
Es war Gisulf anzusehen, dass ihm das nicht gefiel. Was konnte er da tun? Nichts, sagte er sich, außer ärgern.
Ragilos Hände ballten sich zu Fäusten. "Wenn ich diese Qualle zwischen die Finger kriege!", knirschte er. "Hat er ein gutes Pferd? Wir sollten so schnell als möglich aufbrechen." Schon wollte er zur Tür rennen, aber Adira hielt ihn zurück.
"Wir wollten ihn doch nur verfolgen", erinnerte sie ihren Bruder. "Der Schwarze, von dem er gesprochen hat, könnte der Blutmagier sein."
"Er hat den Schrein schon gestern früh verlassen", warf nun Gisulf ein und sah den Priester an. "Wenn er einen Tag Vorsprung hat, sollten wir nicht zuviel trödeln."
Nun breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Hohenpriesters aus, das man schon fast schadenfroh nennen konnte. "Tulga hat den Schrein im Zorn verlassen, weil er sein Blutgeld nicht mitnehmen konnte. Es kam sogar ein Fluch über seine Lippen. Er wünschte uns allen Furunkel an einer höchst sensiblen Stelle. Der Heilige wirft solche Flüche gewöhnlich auf den Fluchenden zurück. Das könnte ihn nun vom Reiten abhalten."
"Tulgas Stern ist im Untergehen", stellte Adira fest und grinste ihren Mann an, der ebenso antwortete.
Ragilo zeigte weniger Beherrschung, indem er in schallendes Gelächter ausbrach. Auch von Menon kam ein unterdrücktes Glucksen. Mit neuem Mut machten sie sich auf den Weg.

"Das muss Aditya sein!", rief Ragilo und streckte den Arm aus.
Noch im Schutz der Bäume hatten sie ihre Pferde angehalten. Vor ihnen schlängelte sich die Straße in sanften Bögen abwärts zum Chione, der wie ein blaues Band die fruchtbare Ebene von Hoch-Baudion durchfloss. Die Landschaft bot sich als bunter Teppich von abgeernteten Feldern, Dörfern und Obstgärten dem Betrachter dar.
In eine Flussbiegung geschmiegt, nur wenige Stunden entfernt, lag Aditya, die Hauptstadt. Hier wuchsen die Häuser mehrere Stockwerke hoch. Aditya, die Glänzende, die Hauptstadt von Baudion. Es war Tradition, dass nur ein Mitglied der Königsfamilie im Rang eines Fürsten über diese Stadt herrschen durfte. Eine starke Mauer umgab sie. Ab und zu ließ die herbstliche Nachmittagssonne die Speere der Wachen auf den Zinnen aufblitzen.
Dieser Stadt strebte eine bejammernswerte Gestalt zu, mühsam sich zu Fuß fortbewegend, das Pferd am langen Zügel hinter sich her ziehend. Seit zwei Tagen folgten sie nun Tulga. Es war leicht gewesen, ihn einzuholen. Anfangs mokierten sie sich noch über seine missliche Lage. Doch nach einem Tag im Schneckentempo hinter ihm her reiten sehnten sie sich nach Taten.
Nun lag der Baudische Wald hinter ihnen. Vorsichtig, jede Deckung ausnutzend ritten sie hinter Tulga her. Sie warteten nur darauf, dass er sich umwandte. Doch nichts dergleichen geschah. Der Händler wanderte gesenkten Kopfes dahin. Offenbar wollte er so schnell als möglich die Stadt erreichen. Trotzdem wagten sie nicht, zu dicht aufzuschließen. Verborgen in einem Obstgarten voll mächtiger Apfel- und Nussbäume warteten sie, bis Tulga das Stadttor durchschritten hatte. Dann gaben sie ihren Pferden die Sporen.

Bei Einbruch der Dunkelheit ritten sie durch das Stadttor von Aditya. Zwei Bewaffnete hielten sie auf. Auf ihren Waffenröcken prangte ein geteiltes Wappen. Die rechte Hälfte zeigte drei Fische, das Zeichen Adityas, die linke den königlichen Delphin.
"Absteigen! Wo kommt ihr her und was wollt ihr in Aditya?", fragte ein grauhaariger Krieger mit wettergegerbtem Gesicht. Sein scharfer Blick schien jede Einzelheit der Reisenden in sich auf zu nehmen.
"Wir kommen aus Arvane und haben hier Geschäfte", erklärte Gisulf und sprang vom Pferd, wie auch seine Kameraden.
"Welche Geschäfte?", bohrte er dann.
"Kaufen und verkaufen."
Der Blick des Mannes blieb an Gisulfs Narbe hängen."Ihr seht nicht aus wie Händler. Wie lange wollt ihr in Aditya bleiben? Wir wollen keinen Ärger. Ihr doch auch nicht?" Seine Haltung blieb locker, doch war seine Hand nie weit vom Schwertgriff entfernt.
"Natürlich nicht", stimmte der Partiener schnell zu. "Sobald unsere Geschäfte erledigt sind, verlassen wir die Stadt."
"Welche Ware habt ihr denn?", wollte der Krieger nun wissen.
"Perlen", antwortete Gisulf und sah sich nach Ragilo um, der hinter dem Kopf seines Pferdes hingebungsvoll hustete und schnäuzte.
Da holte Adira eine Handvoll Perlen aus Ragilos Satteltasche. "Mein Neffe hat sich eine schlimme Erkältung geholt", erklärte sie treuherzig.
Misstrauisch beäugte der Grauhaarige die schimmernden Kugeln. "Perlen aus Taifalen!", rief er dann aus. "Das ist beste Qualität! Wo habt ihr die her?" Zwei weitere Wachen hatten sich zu ihm gesellt.
"Von einem Händler, den wir in Moeris trafen", erklärte Gisulf unschuldig.
"Aha", machte der Soldat. "Sag, haben die Arvaner schon den abgesetzten Grafen von Taifalen und seine verrückte Schwester gefangen? Habt ihr etwas mitgekriegt?"
Gisulf hob die Schultern. "Wir wissen nichts von einer Verhaftung."
"Dann halte ich ihm weiterhin die Daumen", raunte der Krieger hinter vorgehaltener Hand und schielte dabei zu Ragilo, der noch immer mit seiner Nase beschäftigt war. "Der alte Ragilo war ein tollwütiger Hund. Aber der junge hat eine Menge von seiner Mutter geerbt. Der hätte Taifalen zu neuer Blüte bringen können. Ich habe ein paar Jahre bei dem Alten gedient, da war der Kleine noch ein Hosenmatz, ein kleiner, wilder Teufel, aber nicht so verrückt wie sein Vater. Wenn ihr mich fragt, ihn abzusetzen war eine große Schweinerei."
"Da mag schon stimmen", nickte Gisulf. "Ich habe ihn mal getroffen. Er schien mir nicht so übel."
Ragilo bekam wieder einen Hustenanfall. Seine Schwester schien den Worten interessiert zu lauschen während sie die Perlen wieder verstaute.
"Der arme Junge braucht dringend Medizin", sagte nun Gisulf. "Kennst du einen guten Heiler oder eine Heilerin?"
"Im Kräuterviertel gibt es genug davon. Nur vor Mimulf nehmt euch in Acht." Die Wachen traten zurück und die drei Freunde konnten endlich passieren.
"Ein Glück, dass ich meinem Vater nicht sehr ähnlich sehe", sagte Ragilo mit Inbrunst. "Das war Busiris. Ich erinnere mich noch gut an ihn. Vater ließ ihn auspeitschen, weil er einmal zu spät zum Dienst kam. Sobald er sich davon erholt hatte, verschwand er." Er seufzte. "Von der Wachmannschaft blieb selten einer länger als drei Jahre. Vater hat sie mit seiner übertriebenen Strenge, die manchmal schon an Willkür grenzte, nacheinander vertrieben. Busiris war einer von denen, die noch am längsten durchhielten. Er war ein guter Mann."
"Du bist in etwa so groß wie Vater", meinte Adira. "Auch erkenne ich viele typische Gesten Vaters an dir. Deine Züge ähneln aber mehr denen unserer Mutter. Er könnte dich vielleicht doch erkannt haben."
"Mutter war lange tot als Busiris zu uns kam", sagte Ragilo wegwerfend. "Es gab nur ein Bild von ihr in der Halle. Das hat Vater aber später entfernen lassen, weil er sich von ihr verfolgt fühlte."
"Euch beiden sieht man aber die Verwandtschaft an", warf nun Gisulf ein.
"Willst du mir Angst machen?", knurrte Ragilo.
"Der Lachende Fisch!", wechselte Gisulf das Thema. "Hier können wir einkehren. Auch die Pferde werden hier sehr gut versorgt. Der Wirt stammt aus Partiene, auf den kann ich mich verlassen."
Sie waren im Gespräch die Straße hinunter gegangen und standen nun an der zweiten Kreuzung. Schon an dem zweiten Haus klebte ein fröhlich grinsender Fisch aus Blech über der Tür an der Mauer. Wieder nahmen sie sich ein Zimmer. Gisulfs Worte hatten das Misstrauen der Taifaler beruhigt.
Schon am nächsten Morgen gingen sie auf die Suche nach Tulga. Menon blieb im Lachenden Fisch und bewachte ihre Habseligkeiten. Sie lauschten auf den Märkten den Gesprächen der Leute und sprachen auch selbst mit dem einen oder anderen. Auf diese Art erfuhren sie, dass Tulgas bevorzugte Herberge Vibillas Kopfkissen war. Sie befand sich auf der Hauptstraße zwischen dem Gildehaus der Gemüsehändler und dem herrschaftlichen Domizil eines reichen Fremden. Tulga hatte dort ein Zimmer, nur für ihn reserviert.

Sie entdeckten auch den Langen Hals, eine Schänke, in der Nähe des Stadttors. Am Abend saßen in diesem Lokal und tranken Pinnet, eine hiesige Spezialität, die es in jedem Lokal gab. Es war dies eine Mischung aus verschiedenen Fruchtsäften mit einem Schuss Pflaumenschnaps. Jeder Wirt hatte sein eigenes Rezept, das auch eifersüchtig gehütet wurde. Daraus ergab sich eine Vielfalt an Geschmacksrichtungen.
"Wenn ich wieder Graf in Taifalen bin, werde ich Pinnet importieren", versprach Ragilo enthusiastisch.
"Zuerst müssen wir aber noch eine Kleinigkeit erledigen, wie zum Beispiel ein Komplott aufklären", erinnerte ihn Adira.
"Du willst mir nur den Spaß verderben", maulte ihr Bruder. "Und ich wollte zu eurem Hochzeitsfest Pinnet ausschenken lassen. Davon kann man eine Menge trinken ohne gleich betrunken zu werden. Ist fast besser als Wein."
"Wart's ab, Bruder!", lachte Adira. "Wer weiß, ob wir unsere Hochzeit jemals groß feiern werden."
"Na, so ein Zufall!", ertönte da eine Stimme.
Überrascht sahen sie auf und erkannten Busiris, der breit grinsend vor ihrem Tisch stand, einen Becher mit Pinnet in der Hand. Während sein Mund lächelte, musterten die hellen, scharfen Augen die drei Gefährten. "Ich darf mich doch zu euch setzen", sprach er fröhlich weiter, schnappte sich einen freien Stuhl von einem anderen Tisch und ließ sich darauf fallen. "Ich habe eben meine Schicht beendet und wollte einen Becher Pinnet trinken und was sehe ich da!" Klatschend schlug er mit den Händen auf den Tisch. "Wie gehen denn die Geschäfte?"
"Wir haben noch nichts erreicht", antwortete Gisulf reserviert. Ein Seitenblick zeigte ihm, dass Adira ihren Stuhl ein wenig zurück geschoben hatte und sprungbereit wartete. Ragilo hatte seinen Dolch gezogen und schnitt damit kleine Späne vom Tisch.
"Keine Interessenten für eure Perlen? Ts, ts!" Busiris schüttelte ungläubig den Kopf. "Habt ihr es im Gildehaus der Juweliere versucht?"
"Nein", dehnte Gisulf. "Danke für den Tip. Wir werden es bei nächster Gelegenheit dort versuchen."
"Es liegt am Fluss, auf der anderen Seite der Stadt. Ein weiter Weg durch enge Gassen von hier aus." Nun wurde das Grinsen grimmig. "Da kann allerhand geschehen. Heute Mittag kamen Arvaner in die Stadt. Sie haben ein Kopfgeld auf Ragilo und seine Schwester ausgesetzt. Wenn ich es recht verstanden habe, ist es ihnen egal, ob die Köpfe allein oder mit dem Rest der Beiden geliefert werden. Es soll schon zu einigen Verwechslungen gekommen sein. Es gibt ja immer eine Menge Fremde in Aditya." Mit schief gelegtem Kopf wartete er nun auf eine Reaktion.
"Was willst du, Mann?", fuhr ihn Ragilo an. "Sprich, bevor ich dir ein zweites Grinsen in den Hals schneide!"
"Das ist ein Erbteil deines Vaters, kleiner Graf", sagte Busiris trocken. "Ich würde nicht so laut sprechen, sonst könnte jemand auf euch aufmerksam werden."
Ragilo schnaubte wütend. "Wenn du mich erpressen willst, Busiris, dann liegst du falsch. Die Perlen gehören Taifalen. Lieber sterbe ich, als dass ich mir dafür mein Leben erkaufe." Eine schnelle, knappe Handbewegung und der Dolch steckte vor dem Mann in der Tischplatte.
"Ich will wissen, was ihr hier wollt", sagte Busiris, zog bedächtig die Waffe aus dem Holz und reichte sie Ragilo zurück. "Du hast viel geübt, kleiner Graf."
"Nenn mich nicht 'kleiner Graf', Mann!", fauchte er. "Ich bin Graf von Taifalen!"
"Im Moment nicht", korrigierte Busiris mit mildem Spott.
"Das ist nur eine Frage der Zeit", tat Ragilo dies ab. "Wenn wir Tulga haben ..." Er brach ab und biss sich auf die Lippen. Von Adira und Gisulf hagelte es böse Blicke. Hastig stürzte er einen Becher Pinnet hinunter.
Der Krieger kniff sekundenlang die Augen zusammen, dann verbeugte er sich vor Adira. "Lady Adira, nehme ich an. Die Schönheit deiner Mutter strahlt tausendfach aus dir." Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.
Adira räusperte sich verlegen. Sie war es nicht gewöhnt, von fremden Männern Komplimente zu bekommen, noch dazu in so einer Situation. "Was willst du nun noch?", fragte sie. "Willst du Rache für das, was dir mein Vater angetan hat?"
"Hm, Genugtuung wäre nicht schlecht." Er grinste schief. "Zuerst möchte ich wissen, wer sonst noch mit von der Partie ist", sagte er und blickte Gisulf an.
"Warum willst du das wissen?", fragte der Partiener kalt. "Wir kennen deine Absichten nicht."
"Auf Ragilo und Adira ist ein Kopfgeld ausgesetzt", warf Busiris wie nebenbei hin. "Fünfzig Goldstücke für jeden. Davon könnte ich eine Weile gut leben."
Zwei Dolchspitzen bedrohten seinen Hals, eine dritte schwebte über seiner Schwerthand.
"Eine Bewegung und du kannst das Geld für dein Begräbnis verwenden", zischte Ragilo. "Ich würde nicht einmal zwinkern." Sein Blick schweifte durch das Lokal. Uniformierte konnte er nicht erkennen, was aber nichts zu bedeuten hatte.
"Steckt eure Stecher ein", sagte Busiris ruhig. "Wenn ich mir das Geld verdienen wollte, dann hätte ich es längst getan. Taifalen schuldet mir noch eine Woche Sold. Mehr Geld will ich nicht von dir, Graf ohne Land", entgegnete der Krieger immer noch ruhig.
Mit zusammen gepressten Lippen zählte Ragilo einige Münzen auf den Tisch. "Bist du nur deshalb an unseren Tisch gekommen?"
Busiris starrte das Geld an, dann brüllte er: "Chandra, bring uns noch einen Krug Pinnet!" Als das Mädchen mit dem Getränk an ihren Tisch kam, warf er ihr eine der Münzen zu. Den Rest steckte er in einen Beutel, den er unter dem Hemd trug.
"Was wollt ihr von Tulga?", forschte er.
Ragilos Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen. "Durch seine Schuld wurde ich von meinem Lehen vertrieben!", fauchte er. "Was willst du von uns? Sprich schnell, mein Dolch wird durstig!"
"Gemach, Leute." Beschwichtigend hob er beide Hände. "Zwei Tage noch, dann läuft der Kontrakt aus. Nun, so wie es aussieht, wird der König ihn nicht mehr verlängern. Da ich mein Schwert aber gern für eine gute Sache schwinge, dachte ich ....Nun ja, deine Münzen, junger Graf, helfen mir ein wenig weiter. Aber ich hasse einfach den Gedanken an einen leeren Bauch."
"Hast du dich beim König unbeliebt gemacht?", fragte Ragilo mit gespielter Anteilnahme. Dann wurde sein Gesicht hart. "Und jetzt denkst du, bei Geächteten wärst du willkommen? Was hast du ausgefressen? Den Steuereinnehmer beklaut und das Geld versoffen? Eine Hofdame geschändet? Oder etwas Schlimmeres? Wenn du dich einer Räuberbande anschließen wolltest, hast du dich geirrt."
"Sprich offen, dann werden wir entscheiden, ob wir deine Dienste annehmen", ergänzte Gisulf und Adira nickte zustimmend.
"Nun gut", begann der alte Krieger. "Das ist nur Recht. Ich weiß ja auch, was euch vorgeworfen wird. Da ist aber dieser verdammte Giftmischer Mimulf. Er hat sich an mein Mädchen herangemacht und ich habe ihn kurzerhand verprügelt. Mein Vertrag verbietet mir jedoch, private Fehden auszutragen. Nur deshalb werde ich bald arbeitslos sein. Ich könnte diesen Mimulf ...." Seine Hände würgten einen imaginären Gegner.
"Hast du uns deshalb vor ihm gewarnt?", grinste Adira. "Nur weil du ihn hasst?"
"Ich warne jeden vor ihm", knurrte Busiris. "Er ist nur dann ein Heiler, wenn die Krankheit Hass heißt und die Arznei Rache. Vor wenigen Monaten stand er sogar im Verdacht der Blutmagie. Aber Dengor untersuchte selbst den Fall sprach ihn frei." Busiris' Füße scharrten unter dem Tisch, immer wieder nippte er an seinem Becher. "Nun? Habt ihr Verwendung für eine gute Klinge?" Er sah Ragilo direkt an. "Du kennst mich doch, Graf."
"Ach!", rief dieser aus. "Jetzt nennst du mich auf einmal Graf, weil du etwas von mir willst!"
"Ein Mann mit guter Ortskenntnis wäre für uns brauchbar", überlegte Gisulf. "Wenn ich die Steuern ablieferte, hielt ich mich nie lange hier auf."
Busiris richtete den Blick auf ihn. "Wer bist du, Mann?"
Die Drei steckten die Köpfe zusammen und berieten leise. Dann legte Ragilo die offene Hand auf den Tisch. "Du hast meinem Vater gut gedient, Busisris. Willst du mir den Treueid leisten?"
"Mein Blut für Taifalen!", antwortete der Krieger, den Blick fest und offen auf den jungen Grafen gerichtet als er die Hand des Grafen ergriff.
"Schwörst du auch, die Gesetze des Königs zu achten und dich stets ehrenhaft zu verhalten?"
"Ich schwöre, Herr, bei meinem Leben."
Nun holte Ragilo eine Perle aus seinem Beutel und legte sie in Busiris' Hand. "Diese Perle besiegelt unseren Vertrag. Vorerst wirst du mir Waffenhilfe leisten. Und wenn ich mein Lehen zurück habe, setze ich dich als Leutnant der Wache ein."
Das graue Haupt beugte sich zustimmend. "Nun, da ich dein Mann bin, würde ich doch zu gern wissen, wer der andere Herr am Tisch ist."
"Ich bin Gisulf von Partiene", lüftete dieser sein Schweigen.
Busiris' Kiefer klappte nach unten. Es dauerte eine Weile bis er seine Überraschung verdaut hatte. "Ich hätte es mir denken können", meinte er dann. "Du bist viel Geld wert, Gisulf von Partiene. Hundertfünfzig Goldstücke sind auf deinen Kopf ausgesetzt."
"Waaas? Ich habe meine Namensburg widerstandslos verlassen, allerdings auch grußlos. Aber das berechtigt Dumias nicht, mich wie einen Verbrecher suchen zu lassen. Spuck es aus, was wird mir vorgeworfen?"
Den Blick fest auf seinen Becher gerichtet flüsterte Busiris: "Vergewaltigung und Mord."
"Waaas? Das ist doch ... Wie kommt der Kerl darauf? Wie könnte ich ... So ein Verbrechen ..." Gisulf war so verblüfft und entrüstet, dass ihm die Worte fehlten.
"Er konnte bei dir nichts finden, deshalb erfand er etwas", meinte Adira kalt. "Er hat nur erheblich übertrieben."
Da schob sich das Bild von Tillas geschundenem Leib vor sein geistiges Auge. Im selben Moment fühlte er, wie alles Blut aus seinem Antlitz wich. "Ja, ja, so muss es wohl gegangen sein", stimmte er verstört zu.
"Was wollt ihr von Tulga, dem Schlitzohr?", fragte Busiris in Gisulfs schwere Gedanken. "In Aditya hat er nicht gerade einen guten Ruf. Übrigens, er kam kurz vor euch hier an."
"Er hat den Unfrieden zwischen unseren Grafschaften geschürt", griff Gisulf diese Ablenkung von dem Verbrechen in Partiene liebend gern auf. Mit knappen Worten schilderte er Tulgas Rolle in der Intrige und was sie bisher erfahren hatten.
"Mimulf", sagte der Krieger bestimmt. "Wenn Tulga mit Blutmagie zu tun hat, dann kommt nur Mimulf in Frage."
"Du sagtest aber, dass Dengor ihn frei gesprochen hat", erinnerte ihn Ragilo.
"Er muss den Hofmagier getäuscht haben. Ich weiß nicht wie. Mit Magie habe ich nichts am Hut." Busiris' Schultern hoben und senkten sich.
"Zeige uns, wo Mimulf wohnt", forderte Ragilo. "Wenn er der Blutmagier ist, wird Tulga mit ihm Kontakt aufnehmen. Wir können das Haus beobachten lassen."
"Kein Problem." Der Grauhaarige erhob sich und die drei Freunde folgten ihm.

Die Dunkelheit war inzwischen herein gebrochen und wurde nur von Laternen erhellt, die die Stadtverwaltung auf den Straßenkreuzungen aufstellen hatte lassen. Dazu sorgten auch die meisten Kneipen für eine Beleuchtung ihrer Eingänge. Eine sanfte, aber kühle Brise vom Fluss brachte den Geruch von Wasser und Schilf mit sich. Nur wenige Sterne waren zu sehen, denn der Himmel hatte sich fast ganz mit dunklen Wolken überzogen. Es roch bereits nach Regen.
Ihr Weg führte sie in ein Viertel, wo die weniger Begüterten ihre Wohnstätten hatten. Kleine Gärten umgaben jedes Häuschen. Ab und zu leuchtete ein Talglicht hinter einem Fenster. Die meisten Hütten lagen aber im Dunkel.
Busiris zählte laut: "Drei, vier fünf, .... Das müsste es sein!" Sein Arm wies ein Haus, das von wildem Wein halb überwuchert war. Hier gab es keine Laternen. Im Licht der Sterne sah Mimulfs Domizil wie ein riesiger, schwarzer Klumpen aus.
Adira schnupperte. "Er zieht Kräuter im Vorgarten", stellte sie fest. Der Duft von Salbei, Minze und Mädesüß war in ihre feine Nase gestiegen.
Hastige Schritte klangen aus einer Seitengasse. Die vier drückten sich hinter die überhängen Äste eines gewaltigen Strauchs. Sie zogen ihre Umhänge fester an sich, denn es wurde jetzt kalt und die ersten Tropfen fielen vom Himmel.
Da huschte auch schon eine voluminöse Gestalt im Kapuzenumhang an ihnen vorbei. Ein Gartentor quietschte und der Vermummte fluchte leise. Dann hastete er die wenigen Schritte zu Mimulfs Haus.
"Das war Tulga", zischte Ragilo. "Ich kenne seinen Gang."
Von einem der Männer kam ein zweifelndes "Ts". Trotzdem schlichen sie näher. Hinter einem von Mimulfs Fenster brannte nun flackernd ein schwaches Licht. In den Raum selbst konnten sie nicht sehen, da die Ranken des wilden Weins die Sicht versperrten.
"Ich brauche Wasser", flüsterte Adira. "Dann werden wir gleich wissen, wer Mimulf zu so später Stunde besucht. Wartet hier auf mich."
Gisulf wollte mit ihr gehen, aber sie lehnte ab. Geduckt schlich sie durch das Gartentor, das Tulga offen gelassen hatte. Zielsicher steuerte sie auf einen niedrigen Schatten zu, einen kleinen Brunnen. Die Regentropfen hatten ihr den Weg gewiesen.
Hier fand sie auch einen Eimer. Zum Glück stand das Wasser hoch im Brunnenschacht. So konnte sie ohne große Mühe und vor allem Lärm den Eimer füllen.
Adira wandte den selben Zauber wie in Moeris an. Die vier hockten sich zwischen Johannisbeersträucher in Mimulfs Garten um den Eimer. So hofften sie, weder von der Straße noch vom Haus aus gesehen zu werden.
".... in der Stadt! Tagsüber wage ich mein Zimmer nicht zu verlassen. Du musst mir helfen, Mimulf!", hörten sie Tulgas Stimme aus dem Eimer klingen. "Wenn sie mich erwischen, bin ich geliefert."
"Du hast versagt", antwortete eine kalte Stimme, scharf und hell. "Jeder von uns ist auf sich allein gestellt. Das weißt du doch! Wer sich entdecken lässt ...." Ein klatschendes Geräusch folgte.
"Aber dir hat der Meister einmal geholfen. Wenn du ein gutes Wort für mich bei ihm einlegst ..."
"Du weißt, nicht, was mich diese Hilfe gekostet hat. Der Blutverlust hätte mich umbringen können. Außerdem, der Meister kam von sich aus zu mir. Ich weiß nicht, warum er das tat." Rascheln und Scharren drang aus dem Wasser. "Geh jetzt! Und komm nie wieder."
"Soll dich doch die Krätze zerfressen!", fluchte der Händler nun.
"Geh doch selbst zu unserem Meister", höhnte Mimulf.
"Elender Hund, du weißt, dass ich das nicht kann. Gib mir wenigstens etwas gegen die Schmerzen. Diese verdammten Furunkel wollen nicht heilen."
"Er wird uns nicht zu dem Blutmagier führen", flüsterte Ragilo. "Am besten wir ..."
"Scht!", machte Adira.
Wieder war ein Rumoren zu hören. "Diese Salbe lindert den Schmerz und zieht den Eiter aus jedem Abszess", sagte Mimulf endlich. "Das kostet zehn Goldstücke."
"Bist du verrückt?", schrie Tulga. "So eine kleine Dose kostet auf dem Markt nicht einmal ein Silberstück!"
"Dann geh doch auf den Markt. Hehehe!" Es war ein besonders widerliches Lachen. "Du kannst meinen Preis bezahlen oder ohne Salbe gehen."
Nun klingelte Gold, begleitet von einem wütenden Knurren seitens Tulgas und einem hämischen Kichern seitens Mimulfs.
"Wenn unser Meister König ist, werde ich Minister und dann ..."
"Verschwinde, du fette Ratte!", zischte Mimulf. "Du langweilst mich und stiehlst mir außerdem noch den Schlaf."
Adira kippte dem Eimer um. So wurde der Zauber gebrochen. Leise verließen sie den Garten.
"Wir schnappen ihn", flüsterte Ragilo wieder und zeigte einen dicken Stock, den er unter den Büschen gefunden hatte. "So eine gute Gelegenheit ergibt sich nicht so leicht wieder."
Seine Geführten nickten und versteckten sich hinter Bäumen und Büschen. Als die vermummte Gestalt dann auftauchte, ging alles sehr schnell. Drei hielten den Mann fest und Ragilo schlug ihm den Stock über den Kopf. Tulga ging schon beim ersten Schlag wimmernd zu Boden. Da traf ihn ein zweiter Hieb. Das Wimmern verstummte abrupt. Als Ragilo noch einmal zuschlagen wollte, fiel ihm Gisulf in den Arm.
"Du bringst ihn noch um!", fauchte er. "Wir brauchen ihn doch noch!"
Adira schob Tulgas Kapuze zurück und untersuchte ihn. Eine Samtkappe hatte die Schläge gemildert. "Mehr als Kopfschmerzen und eine Beule wird er nicht haben", erklärte sie fast bedauernd.
Gisulf und Ragilo nahmen den Händler nun in die Mitte und schleiften ihn mit. Die Straßen waren leer, denn es regnete jetzt stärker. An der Hauptstraße verabschiedete sich Busiris und versprach am übernächsten Tag zu erscheinen.

Als sie in den Lachenden Fisch kamen, holte Ragilo einen leeren Futtersack aus dem Stall. In den stopften sie den bewusstlosen Händler. Die Magd, die ihnen die Tür öffnete, war zum Glück so verschlafen, dass sie kaum etwas mitbekam. So brachten sie Tulga unauffällig in ihr Zimmer.
Menon machte große Augen, beeilte sich aber gleich, Tulga fachgerecht zu fesseln. Dieser Mann würde einen aufmerksamen Wächter haben, das war sicher.
"Leere seine Taschen", befahl Ragilo.
Ein dicker Geldbeutel, ein Messer, ein kleines Rechenbrett aus Jade kamen zum Vorschein.
"Er muss eine Feder haben", meinte Adira und durchsuchte ihn gründlich.
Tulga trug die Feder des Blutmagiers in einem Beutel um den Hals. Eben kam er wieder stöhnend zu sich.
Menon schleifte ihn in eine Ecke des Zimmers und lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Dann setzte er sich mit gezücktem Dolch vor ihn hin.
"Für jeden Laut schneide ich dir ein Stück deiner Visage ab", drohte er grimmig.
"Mein Meister wird mich finden und dann mögen euch die Götter gnädig sein", entgegnete er patzig.
Inzwischen hatte Adira die Feder in eine Schale mit Wasser gelegt. Leise summend streute sie zerriebenes Johanniskraut darüber. Das Grau der Feder nahm kurz einen rötlichen Ton an. Dann wurde sie schwarz und schmolz so vollständig dahin, dass nur noch klares Wasser übrig blieb.
"Halte ihn fest", befahl sie Menon und kniete neben Tulga nieder.
Der hatte ihr Tun mit zunehmender Sorge beobachtet. Jetzt presste er die Lippen fest zusammen. Menon hielt ihm kurzerhand die Nase zu. Schon nach wenigen Sekunden musste er den Mund öffnen um nach Luft zu schnappen. Bevor er ihn wieder schließen konnte, schüttete ihm Adira das Wasser hinein und Menon drückte ihm die Kiefer zusammen. Notgedrungen würgte Tulga die Flüssigkeit hinunter.
"Jetzt können wir ruhig schlafen", erklärte sie.
Ihre Gefährten atmeten auf. Tulga jedoch wurde wachsbleich. Nachdem sie zur Sicherheit Wachen eingeteilt hatten, gingen sie zur Ruhe. Die Männer schliefen schnell ein, nur Adira lag noch eine Weile wach. Sie musste an den Dazbog denken. Er hatte nur noch eine einzige Chance, ihre Seele zu gewinnen. Welche Notsituation würde er sich diesmal aussuchen? Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie betete zu der Göttin des Wassers.

Gleich am nächsten Morgen schickten sie Menon in die Burg. Dort sollte er um eine Audienz bitten. Außerdem gab ihm Adira eine kleine Einkaufsliste mit.
Gegen Mittag erschien er wieder. "In drei Tagen schickt der König eine Eskorte", berichtete er.
"In drei Tagen", seufzte Ragilo. "Das dauert ja ewig!"
"Wir haben bis jetzt durchgehalten", rügte ihn seine Schwester. "Da wirst du die paar Tage auch noch aushalten." Dann wandte sie sich an Menon. "Hast du alles bekommen?"
"Ja, Herrin", antwortete er und übergab ihr ein Päckchen.
Sie machte sich sofort an die Arbeit. Ein Stück Leinen, Lederschnüre und Wacholderbeeren hatte Menon gebracht. Nun holte sie Nadel und Faden und nähte fünf kleine Beutel. In jeden tat sie sieben Wacholderbeeren. An jedem Beutel wurde auch noch eine Lederschnur befestigt.
"Diese Amulette werden uns vor dem Blutmagier schützen", erklärte sie. Tragt sie auf dem Herzen."
Jeder legte sich ein Amulett um. Da meldete sich Tulga. "Und was ist mit mir? Du hast meine Feder vernichtet. Jetzt musst du mich auch schützen. Du hast doch noch eins."
"Hast du Angst vor deinem Meister?", höhnte Ragilo boshaft grinsend.
"Er könnte mich jederzeit töten", beschwor sie der Händler.
"Ohne deine Feder weiß er doch gar nicht, wo du bist."
Da senkte Tulga den Kopf und sagte kein Wort mehr. Und so hielt er es, bis sie von den Gardisten abgeholt wurden. Als Busiris sich am nächsten Tag zum Dienst meldete bekam er gleich das fünfte Amulett. Dann begann ein ungeduldiges Warten.

Adira versuchte die Wartezeit zu verkürzen, indem sie jedem ein Bad verordnete. Kleidungsstücke wurden gereinigt und ausgebessert, Waffen poliert. Die drei Adeligen hatten sich sogar neue Sachen besorgt. Adira freute sich über eine blassgelbe Bluse aus feinstem Leinen.
Endlich klopfte es an ihrer Tür. Ragilo sprang hin und riss sie auf. Da stand ein breit gebauter Gardist und salutierte höflich.
"Der König erwartet euch beim Wahrheitsstein", erklärte er förmlich.
"Endlich!", entschlüpfte es Ragilo.
Adiras Herz klopfte heftig. Jetzt, wo es soweit war, schlich sich Angst in ihr Gemüt. Dunkle Ahnungen bedrängten sie. Und Tulga wirkte zu zuversichtlich auf sie. Was konnte das bedeuten? Nichts Gutes für sie, vermutete sie.
In der Gaststube warteten noch fünf andere Gardisten. Sie geleiteten die Gruppe zu einer geschlossenen Kutsche. Einer stieg auf den Bock, ein Zweiter setzte sich zu ihnen in den Fahrgastraum. Die vier anderen umringten zu Pferd den Wagen. In flottem Trab ging es durch die Straßen zum Fluss.

Den Zugang zur Grotte der Wahrheit bildete ein schlichter, niedriger Bau aus weißem Marmor. Weiß gekleidete Tempelwachen flankierten mit Speeren in den Händen den Eingang. Als sie über die Schwelle traten, befanden sie sich in einem Andachtsraum. Hier wurde die Gruppe von weiteren Tempelwachen übernommen. Die Gardisten blieben zurück.
Über eine gewundene Treppe stiegen sie hinunter in die Grotte der Wahrheit. Von zahllosen Fackeln erhellt lag eine annähernd runde Höhle vor ihnen, in deren Mitte sich ein mit weißem Marmor gefasstes Becken befand. Das Wasser stand bis zum Rand und darauf schwamm der Stein der Wahrheit, eine grau gesprenkelte Platte von unregelmäßiger Form, groß genug, dass ein Mensch bequem darauf stehen konnte.
Neben dem Becken stand der König und sprach leise mit einem Greis in weißer Robe, dem Hüter der Grotte. An der gegenüber liegenden Wand saßen die Edlen Baudions auf Steinbänken. Adira kannte nur Sesuald von Arvane persönlich. An den anderen sah sie die Wappen Caeronas, Kenoshas und Nieder-Baudions. Auch Taifalen und Partiene waren vertreten.
Etwas abseits hatte sich die dunkle Gestalt Dengors, des Hofmagiers nieder gelassen. Adira konnte den Mann nicht ansehen, ohne ein Frösteln zu unterdrücken. Wie immer war sein Gesicht unter der schwarzen Kapuze verborgen.
Die Tempelwachen verteilten sich an den Wänden der Grotte. Da verbeugte sich der Hüter der Grotte und ging die Stufen hinauf. Die Gefährten fielen vor dem König auf die Knie.
"Erhebt euch, Adira und Ragilo von Taifalen und Gisulf von Partiene. Die anderen auch", gebot Jorgan. Dann glitt ein prüfender Blick über Menon und Tulga und blieb an Busiris hängen.
"Dich kenne ich, Busiris. Wenn du gekommen bist um eine Verlängerung deines Vertrages zu erbitten, dann kannst du gleich wieder gehen."
"Ich habe einen neuen Dienstherren, mein König", antwortete der Krieger mit einer Verbeugung. "Graf Ragilo von Taifalen."
"Hm", brummte der König. "Da weiß ich wirklich nicht, wen ich mehr bedauern soll. - Wer sind die beiden Männer?" Seine Hand deutete auf Menon und Tulga.
"Dies ist Menon, der Sohn des Hofschmieds von Taifalen", knirschte Ragilo. "Auch er ist ein Opfer dieser fetten Kröte Tulga, des Mannes, der den Friedensschluss zwischen Taifalen und Partiene so lange verhindert hat. Er hat ..."
"Gemach", bremste ihn Jorgan. "Du wirst Gelegenheit bekommen, deine Sache zu vertreten."
"Ich bin unschuldig, Majestät!", rief Tulga und hob beschwörend beide Hände. "Das ist ein schreckliches Missverständnis."
"Auch du sprichst erst, wenn ich es dir gestatte, Händler!", wies ihn Jorgan eisig zurecht. "Zuerst will ich Gisulf von Partiene hören. Tritt auf den Stein der Wahrheit."
Adira hauchte ihrem Gemahl einen Kuss auf die Wange. Er lächelte sie an und stieg auf die Einfassung des Beckens. Ein Schritt brachte ihn auf den Stein. Es sah aus, als stünde er auf festem Grund.
"Gegen dich wurde der Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes erhoben", begann der König. "Sprich!"
Gisulf holte tief Luft. Wahrheitsgemäß erzählte er, was damals geschehen war in der Nacht nach der Heimkehr Hildrichs. "Mein Bruder ist in ein Kloster Narbazes gegangen um für seine Tat für den Rest seines Lebens zu büßen. Viel Zeit hat er nicht mehr, denn der alte Ragilo hat ihm Caibre verabreicht." Der Stein lag still im Wasser.
"Hast du Kopfgeld auf taifalische Krieger ausgesetzt?"
"Nein, mein König." Gisulfs Stimme war fest. Der Wahrheitsstein rührte sich nicht.




"Komm herunter, Gisulf", befahl Jorgan.
Adira ging ihm einen Schritt entgegen und ergriff seine Hand.
"Ja, du bist die Nächste, Adira von Taifalen", sagte Jorgan und runzelte ein wenig die Stirn.
Die Wassermagierin balancierte sekundenlang auf der Einfassung. Dann trat sie auf den Stein. Sie fühlte ein leises Zittern unter ihren Füßen, dann lag die Platte still wie auf festem Grund. Ein dunkler Schatten bewegte sich im Wasser des Beckens. Ein Ungeheuer? War dies das Schicksal der Lügner?
"Adira von Taifalen, du wirst beschuldigt, Graf Orsines schwer verletzt zu haben. Sprich!", riss sie Jorgan aus ihren Überlegungen.
Mit wohl gesetzten Worten erzählte sie, unter welchen Umständen sie die taifalische Burg verlassen hatte. Jorgan befragte sie auch noch über ihre Geiselhaft. Alle Fragen beantwortete sie wahrheitsgemäß. Auf einen Wink des Königs durfte sie den Stein verlassen und Ragilo nahm ihren Platz ein.
"Ragilo von Taifalen", sprach ihn der König an. "Hast du mit einer Rotte Krieger partienische Soldaten überfallen?"
"Nein, mein König. Das habe ich nicht", fauchte Ragilo. Der Stein rührte sich nicht.
Nun fragte ihn Jorgan, wie Hildrich von seinem Vater behandelt worden war und was er über Tulga wusste. Der Arvaner-Herzog, der von seiner Krankheit genesen schien, schüttelte immer wieder den Kopf. Als die Sprache auf den vergifteten Wein kam, sprang er auf. Schon öffnete er den Mund um etwas zu sagen, da schloss er ihn wieder und ließ sich auf seinen Sitz fallen.
Menon musste als Nächster seine Geschichte erzählen. Jorgans Stirn furchte sich sorgenvoll. In Tulgas zur Schau getragener Zuversicht hatte sich zuerst Trotz, dann Angst gemischt. Sein Blick ging ununterbrochen suchend durch die Grotte.
"Nun, Tulga", sprach der König den Händler an. "Tritt auf den Stein der Wahrheit."
Wieder glitten Tulgas Blicke durch die Höhle. Zögernd trat er an das Becken.
"Du hast doch nichts zu befürchten, wenn alles nur ein Missverständnis ist", ermunterte ihn Jorgan.
Da schob Tulga trotzig das Kinn vor und trat auf den Stein.
"Wer bist du? Sag mir deinen Namen und deine Herkunft", verlangte der König.
"Mein Name ist Maldewin von Arvane. Ich bin der natürliche Sohn des verstorbenen Herzogs Galleron", antwortete der Händler stolz und der Stein lag still im Wasser. "Tulga ist mein Händlername."
Es kam öfter vor, dass illegitime Kinder Adliger ihre Namen änderten. Deshalb nahm Jorgan dies Mitteilung gelassen hin.
"Hast du dem alten Ragilo vergifteten Wein geliefert und Lügen über seine Tochter erzählt?"
Tulga leckte sich nervös die Lippen. Wieder schaute er zu den Edlen hinüber. Diesmal blieb sein Blick aber an Dengor einen Sekundenbruchteil länger hängen als an den anderen.
"Arvanerwein ist der Beste", antwortete er. "Ragilo wollte keinen anderen."
"Du hast meine Frage nicht beantwortet", donnerte der König. "Wusstest du, dass der Wein Aetoli enthielt?"
"Ja, ich wusste es, weil ich es hinein tat", gab er nun widerstrebend zu. "Ich bin Händler und das Ziel jedes Handels ist, reich zu werden."
"Aber nicht mit verbrecherischen Mittel", schränkte der König ein. "Dafür wirst du büßen. Nun beantworte den zweiten Teil meiner Frage."
"Es waren Lügen, ja, aber Ragilo brachte mich selbst darauf. Einmal sagte er, er würde Partiene in Grund und Boden stampfen, wenn seiner Tochter nur ein Haar gekrümmt würde. Da bot ich mich an, zu spionieren. Vannio warf mich hinaus. Da erfand ich eben etwas und Ragilo zahlte. So lange die Nachrichten schlecht waren, wollte er keinen Frieden schließen. Es war ein gutes Geschäft."
Tulga hatte diese Worte wie unter Zwang hervor gestoßen. Dabei schien er zu schrumpfen. Jetzt richtete er sich wieder auf.
"Aber ich tat es nicht freiwillig. Ich wurde erpresst." Der Stein begann zu schwanken und der füllige Mann kämpfte um sein Gleichgewicht. "Im vierzehnten Jahr des Waffenstillstands entlockte mir Graf Dumias beim Wein mein Geheimnis. Er brachte mich zu unserem Meister. Und ich musste weitermachen und die Hälfte der Perlen an den Meister abliefern." Tulgas Stimme war immer lauter geworden. Nun kreischte er: "Er will deine Krone und er wird sie bekommen! Er hat einen Zauber, der den Delphinring wirkungslos macht." Dann drehte er sich Dengor zu. "Hilf mir jetzt, Meister. Ich bin dein treuester Diener!" Damit stieg er vom Wahrheitsstein und stürzte sich mit erhobenem Dolch auf Menon. "Du stirbst als Erster, Sklave!"
Die Adeligen waren aufgesprungen und schrieen empört durcheinander. Jorgan wich einen Schritt zurück. Seine Hand lag abwartend auf dem Knauf seines Schwertes. Nach einem kurzen Moment der Überraschung prägten Wut und Enttäuschung seine Züge.
Auch Dengor hatte sich erhoben. Mit einer heftigen Kopfbewegung warf er die Kapuze zurück. Über einen langen, kahlen, fast fleischlosen Schädel spannte sich runzlige, dunkelbraune Haut. Die schwarzen Augen glühten hasserfüllt und der Federkranz um seinen Hals, das Zeichen der Blutmagier, sträubte sich. Zischelnd verließen unverständliche Silben seine Lippen während seine Hände Zeichen in die Luft malten.
Die Edlen verstummten. Einer nach dem anderen zog mit starrem Gesicht das Schwert und marschierte auf die Gruppe beim Wasserbecken zu. Gisulf, Busiris und Ragilo umringten schützend den König. Der Partiener nahm seinen Wacholderbeutel ab und stopfte ihn mit einer hastigen Erklärung in Jorgans Hemd.
"Bleibt stehen!", brüllte der König seine Edlen an. "Die Waffen weg!" Doch als sie nicht gehorchten, knurrte er: "Verräter!" und zog selbst blank.
"Majestät, sie sind verhext!", stieß Adira hervor.
Jorgan schaltete schnell. "Tötet sie nicht", befahl er und wehrte einen Hieb des Herzogs von Nieder-Baudion ab. Der Mann schrie auf und ließ sein Schwert fallen.
"Was war denn das?", fragte Gisulf.
"Mein Delphinring", erklärte der König und schlug den Herzog mit dem Knauf bewusstlos.
Adira schöpfte eine Handvoll Wasser aus dem Becken und spritzte es auf Gisulf. Dazu sprach sie einen Schutzzauber.
Inzwischen wehrte sich Menon tapfer gegen Tulga. Er mochte ein guter Schmied sein, doch vom Messerkampf verstand er wenig. Schon blutete er aus einer Stichwunde am Arm.
Da stieß ihn Ragilo zur Seite. "Überlass diese Ratte mir. Hol die Gardisten!"
Menon stolperte auf die Treppe zu und Ragilo schenkte Tulga sein bösartigstes Grinsen. Der sah sich plötzlich einem Gegner gegenüber, der von Kindheit an zum Kämpfen erzogen war. Ängstlich wich er Schritt für Schritt zurück.
Es machte Ragilo offenbar Spaß, den Händler durch die Grotte zu jagen. Da stieß Tulgas Ferse gegen die Umrandung des Beckens. Ragilo stieß blitzschnell nach seinem Dolcharm. Tulga wollte ausweichen, verlor das Gleichgewicht und platschte ins Wasser.
"Hilfe! Hilfe!", kreischte er in Todesangst und schlug mit Armen und Beinen um sich.
Da erhob sich ein dunkelgraues, rauchiges Etwas aus dem Wasser und umschlang den Strampelnden. Dem Händler quollen schier die Augen aus dem Kopf. Sein Schrei wurde zu einem Winseln. Dann sank er in sich zusammen. Sein Herz hatte vor Angst versagt. Brausend tauchte das Ungeheuer unter und nahm die Leiche mit.
In diesem Moment stürmten die Gardisten die Treppe herunter.
"Schützt den König!", übernahm Gisulf wie selbstverständlich das Kommando. "Aber tötet die Edlen nicht. Schlagt sie nur bewusstlos und fesselt sie. Sie sind verhext."
Dann hob er sein Schwert. "Komm, Schwager, wir holen uns Dengor."
Seite an Seite stürmten die beiden Männer auf den Blutmagier zu, dicht gefolgt von Adira und Busiris.
Dengor schleuderte ihnen einen Zauber entgegen, der aber wirkungslos an ihnen verpuffte. Nur Gisulf schwankte ein wenig und rang sekundenlang nach Luft. Da hob der Zauberer die Arme und blutroter Nebel umfing ihn.
"Er entkommt uns!", brüllte Ragilo wütend und stürmte vor.
Doch als der Nebel schwand, wurde Dengor wieder sichtbar. Sogar mehr als das, denn er hatte sich vervierfacht.
"Vier gegen einen wäre doch unfair", riefen alle vier höhnisch im Chor. Plötzlich hatten sie Krummsäbel in den Händen.
"Wir müssen den echten herausfinden und töten", meinte Adira und duckte sich unter einem Hieb eines Dengor durch.
Nun sprach keiner mehr, denn jeder war vollauf mit seinem Gegner beschäftigt. Der Blutmagier, so alt er auch war, erwies sich als exzellenter Fechter. Auch schien er gegen Verletzungen gefeit zu sein und schier unermüdlich. Ragilo spießte seinen Dengor gekonnt auf. Doch die vier Magier lachten nur.
Der Taifaler wusste nun, dass er gegen ein Abbild kämpfte. Doch nützte ihm dieses Wissen wenig. Der Pseudo-Dengor war nicht weniger gefährlich als die anderen.
Da gelang Gisulf ein Treffer. Die Spitze seiner Klinge ritzte Dengors Gesicht und nun tropfte Blut von seinem Kinn. Auch die anderen drei bluteten.
"Das ist der Echte!", schrie Ragilo triumphierend und warf seinen Dolch.
Adira hatte es auch gesehen und ebenfalls den Dolch geworfen. Fast gleichzeitig drangen beide Waffen in die Brust des Blutmagiers.
Ein hohler Schrei entfloh seinem Mund. Dann Brach er in die Knie. Die Federn um seinen Hals färbten sich schwarz und zerfielen zu Staub. Vergeblich zerrten kraftlos gewordene Hände an den Dolchgriffen. Und die ganze Zeit heulte er, bis sein Schrei in einem Gurgeln erstarb. Ein Strom von Blut ergoss sich aus seinem Mund. Endlich sank er mit zuckenden Gliedern zu Boden. Doch er starb nicht. Unglaublich viel Blut strömte aus seinem Mund und bildete einen kleinen See. Die vier Gefährten starrten angewidert und zugleich fasziniert auf das Schauspiel.
"Er saugt von seinen Dienern", meinte Adira.
"Dann werden sie mit ihm sterben", fügte Gisulf hinzu und griff schwankend nach Adiras Arm.
"Gisulf, bist du verletzt!", rief Adira.
"Ich bin nur ein wenig müde", versuchte der Partiener abzuschwächen sank auf ein Knie.
Adira griff kräftig zu und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Nun sah sie auch die tiefe Wunde unter seinem rechten Rippenbogen. Unaufhaltsam sprudelte das Leben aus ihm. Adira warf ihre Lederjacke ab und riss ihre schöne, neue Bluse in Streifen. Daraus machte sie einen Notverband.
"Liebling, bleib bei mir!", flehte sie.
Gisulf war bleich geworden. Sein Blick umfasste seine Gemahlin mit aller Liebe, deren er fähig war, dann schlossen sich seine Lider.
Adira konnte nicht an sich halten. Schluchzend drückte sie seinen Kopf an ihre Brust. Konnte das Schicksal wirklich so grausam sein? Jetzt, wo sie alles überstanden hatten sollte sie das Liebste verlieren? Das war nicht fair. Die Welt um sie versank. Sie hörte nicht, dass Ragilo nach einem Heiler brüllte. Es gab nur noch den stillen Körper in ihren Armen.
"Gisulf, mein Lieber", flüsterte sie. "Mein Zauber war zu schwach. Ich bin Schuld an deinem Ende. Alles würde ich geben, wenn du nur lebst."
"Ich kann ihn dir zurück geben", sagte der Dazbog.
Langsam sah Adira auf. Der grüne Wassergeist stand vor ihr und sah sie ruhig an. Kein Kichern, kein Höhnen, kein Drängen. Still abwartend stand er da, die rätselhaften Augen fest auf sie gerichtet.
"Das Leben deines Gemahls gegen deine Seele", sagte er wie nebenbei.
Sie blickte auf das stille Gesicht Gisulfs. Wenn sie ihre Seele dem Dazbog vermachte, würde er leben. Und sie? Wieviel Glück würde der Dazbog ihnen zubilligen? Ein Jahr? Oder nur einen Tag? Oder gar nichts? Und dann, wenn er ihre Seele geholt hätte, wäre sie nur noch eine leere Hülle, ein atmender Körper, ohne Geist, ja auch ohne Liebe. Nein, das konnte sie Gisulf nicht antun. Er war im Bewusstsein ihrer Liebe gegangen. So sollte es bleiben.
"Nein", sagte sie leise, sonst nichts.
Da drehte sich der Dazbog stumm um und ging zum Becken. Lautlos versank er für immer im Wasser.
Adira bedeckte das bleiche Gesicht Gisulfs mit Küssen und Tränen. Hatte sie richtig gehandelt? Eine eiserne Faust schien ihr Herz grausam zusammen zu pressen. So dauerte es eine geraume Weile, bis sie gewahr wurde, dass Ragilo auf sie einredete.
"Adira, lass ihn los!", drang es endlich in ihr Bewusstsein.
"Nein!" Trotzig drückte sie ihn an sich. "Lass ihn mir noch ein wenig. Bald wird er kalt und starr sein ..." Wieder übermannte sie der Schmerz. Sie weinte laut und krampfartig.
"Verdammt, Adira!", schrie ihr Bruder sie an. "Der Heiler will ihn sehen. Vielleicht kann er ihm helfen.!
"Du meinst ...?" Zögernd gab sie den Körper frei.
Sofort kniete ein hagerer Mann in der Robe eines Heilers neben ihr. Er sah nicht älter aus als sie selbst war, agierte aber sehr professionell.
"Das ist Sisines, der Leibarzt des Königs", flüsterte Ragilo ihr zu.
Zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend sah Adira ihm zu. Endlich wandte er sich an sie.
"Der Graf liegt in tiefer Bewusstlosigkeit. Dein Notverband hat ihm vorerst das Leben gerettet. Sein Schicksal wird sich in den nächsten Tagen entscheiden. Er steht zwischen Leben und Tod. Bete für ihn. Nun tritt beiseite."
Wie betäubt ließ sie sich von ihrem Bruder auf die Füße helfen. Eine wilde Hoffnung erfüllte sie. "Ich werde beten", versprach sie voll Inbrunst. Vor Erleichterung warf sie sich an Ragilos Brust und wieder strömten Tränen aus ihren bereits verschwollenen Augen. "Der Dazbog hat gelogen", wiederholte sie immer wieder.

Adira konnte später nicht mehr sagen, wie sie aus der Grotte gekommen war. Jorgan hatte der ganzen Gesellschaft Zimmer in der Burg zugewiesen. Dort bekamen sie frische Kleider und konnten sich erst einmal ausruhen.
Die folgenden Wochen verbrachte sie fast nur an Gisulfs Krankenlager. Dass auch Ragilo und Busiris kleinere Verletzungen davon getragen hatten, bemerkte sie nur am Rande. Auch für die Begrüßung Egerias, die der König nach Aditya befohlen hatte, opferte sie nur wenige Minuten. Die junge Mutter wirkte frisch und gesund, wie auch die kleine Swana, was Ragilos Glück perfekt machte.
Drei Tage nach dem Kampf erlangte Gisulf für kurze Zeit das Bewusstsein. Sisines wertete das als gutes Zeichen. Tatsächlich ging es mit Gisulf bergauf, aber nur sehr langsam. Zu groß war der Blutverlust gewesen, zu schwer die Wunde.
Zwei Monate später wurden sie zum König zitiert. Gisulf wurde in einem Tragsessel in den Thronsaal transportiert. Adira und Ragilo gingen nebenher. Auch Egeria schloss sich ihnen an. Nur die kleine Swana blieb unter der Obhut Swinthas zurück.
In einer feierlichen Zeremonie, an der aus jedem Teil Baudions ein Vertreter teilnahm, belehnte Jorgan Ragilo wieder mit Taifalen und Gisulf mit Partiene. Mit den Grafenketten um den Hals leisteten sie erneut den Lehenseid.
Nun hoffe ich doch sehr, dass sich eure Grafschaften besser entwickeln werden als in den letzten Jahren, schloss er.
Im Anschluss an die Zeremonie gab Jorgan ein Bankett.
Auf dem Weg dahin, fragte Gisulf: "Was ist aus den Helfern des Blutmagiers geworden?".
"In Arvane, Taifalen und Partiene wurden eine Menge blutleere Leichen gefunden. Dengor hat sie während des Kampfes magisch angezapft und buchstäblich leer gesaugt. Auch Dumias und Orsines von Arvane befanden sich unter seinen Opfern. Somit dürfte er seine Brut selbst vernichtet haben. Dennoch sollten wir alle in Zukunft wachsam sein." Eine energische Geste beendet dieses Thema, denn nur stieg ihnen der Duft von Gebratenem in die Nase.
Die wieder eingesetzten Grafen mussten an den Seiten Jorgans Platz nehmen. Sein erster Trinkspruch galt ihnen.
"Mögen die Geschlechter von Partiene und Taifalen wachsen und gedeihen!", rief der König fröhlich.
"Wir haben bereits eine Tochter", erklärte Ragilo stolz.
"Bei uns dauert es noch ein wenig", warf nun Adira ein und streichelte ihren Bauch, der sich in letzter Zeit gerundet hatte. Das nahm Gisulf zum Anlass, ihr einen herzhaften Kuss auf den Mund zu drücken und alle Edlen Baudions prosteten ihnen zu.

ENDE


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