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GENÜGEND ZEIT? - ZU WENIG ZEIT?

von Thomas Kager



Mit großen Schritten stampfte Kron den Waldweg entlang. Der Auftrag des Söldners hatte nun fast doppelt so lange gedauert als erwartet, doch das war durch einen netten Bonus ausgeglichen worden. Zufrieden dachte er an die gut gefüllte Geldkatze unter seinem Wams. Da würden sich sicherlich eine neue Rüstung und eine oder sogar zwei anständige Feiern mit seinen Freunden ausgehen.
Unvermittelt blieb er stehen und lauschte. War da nicht eben ein Geräusch? Prüfend drehte er den Kopf. Richtig, aber es war kein Geräusch, es waren Töne. Eine richtige Melodie schwebte durch die Bäume. Aufmerksam setzte Kron seinen Weg fort und mit jedem Schritt hörte er sie deutlicher. Schließlich betrat er eine kleine Lichtung.
Am Rande der Lichtung hatte jemand ein kleines Lager aufgeschlagen. Mit unterschlagenen Beinen saß die in grünes Tuch gekleidete Gestalt neben ihrem Rucksack. Es waren sehr wehmütige Klänge, die aus der hölzernen Flöte erklangen und die gesamte Lichtung mit einer melancholischen Stimmung füllte.
Kron blickte nach dem Stand der Sonne. Der Tag war noch nicht zu fortgeschritten und er könnte sicherlich noch einige Meilen hinter sich bringen bis er ein Lager aufschlagen mußte. Aber nichts drängte ihn und ihm gefiel das Lied, obwohl er etwas Fröhlicheres bevorzugt hätte. Also beschloß er, sich zu dem Musiker zu gesellen. Vielleicht konnte er ihn zu einem kleinen Würfelspielchen überreden.
Als er näher trat, erkannte er an dem zu einem langen Schweif gebundenen dunkelbraunen Haar, den feinen Gesichtszügen und Fingern und nicht zuletzt an den spitzen Ohren, eine Waldelfe.
Ein paar Schritte vor ihr blieb er unschlüssig stehen. Die Elfe hatte ihre Augen geschlossen und spielte selbstvergessen ihr melancholisches Lied. Er war sich nicht sicher, ob sie sein Kommen bemerkt hatte, doch er setzte sich und lauschte ihrer Musik.
Die Töne nahmen ihn gefangen und in seinem Inneren fühlte er langsam eine Sehnsucht nach Zuhause aufsteigen. Im Geiste sah er das schäbige Haus, das er bewohnte, wenn er nicht einmal wegen einem Auftrag unterwegs war.
Und er sah Maara, seine Frau. Wie sie die frisch gewaschene Wäsche an einem Strick aufhängte, wie sie die zwei Ziegen versorgte, wie sie sich um den kleinen Gemüsegarten kümmerte und dabei immer wieder den Kopf hob und sehnsüchtig den schmalen Weg hinunterblickte.
Ärgerlich wischte sich Kron eine Träne aus dem Augenwinkel. Verdammte Elfenmagie.
Er wollte schon aufstehen und weitergehen, als die Melodie verklang. Langsam öffnete die Elfe ihre Augen und ließ die Flöte in ihren Schoß sinken. Aufmerksam musterte sie ihren Zuhörer. Kron hatte noch nie in seinem Leben so viel Traurigkeit gesehen, wie in diesen dunkelgrünen Augen.
"Ich grüße Euch", sagte die Elfe mit einer melodischen Stimme, in der im Hintergrund der gleiche Kummer mitschwang, der auch aus ihren Augen sprach.
"Ja .. 'Tag", erwiderte Kron ungelenk und etwas verunsichert durch den prüfenden Blick.
"Ich hoffe, Euch hat meine kleine Melodie gefallen."
"Jaja, war ganz nett", brummte Kron und versuchte seine Verlegenheit in den Griff zu bekommen. Das war ja lachhaft. "Nur etwas zu traurig für meine Geschmack."
Die Elfe nickte. "Es war ein Lied über meinen Schatz."
"Schatz?" fragte Kron und horchte auf.
Die Elfe lächelte ein wenig amüsiert, als sie sein plötzliches Interesse bemerkte. "Meinen Liebling, den Menschen, den ich von ganzen Herzen liebte und heiraten wollte."
"Ach, so", brummte Kron ein wenig enttäuscht und dachte sich seinen Teil über gemischtrassige Beziehungen.
"Habt Ihr eine Frau, Krieger?" wollte die Elfe wissen.
"Sicher", nickte Kron. "Ich bin gerade auf dem Heimweg zu ihr."
"Sehr schön", erwiderte sie. "Dann freut Ihr Euch sicherlich schon, sie wieder zu sehen."
"Klar", meinte Kron, doch sein Tonfall erzeugte einen fragenden Ausdruck auf das Gesicht der Waldelfe.
"Ihr klingt aber nicht sehr begeistert."
Kron zuckte nur mit den Schultern.
"Ist eure Liebe verwelkt?"
"Mag schon sein", meinte Kron ausweichend. "Tut sie das nicht immer mit der Zeit?"
"Hat Euch Eure Frau in letzter Zeit gesagt, daß sie Euch liebt?" wollte die Elfe wissen.
Kron rollte mit den Augen. "Einmal? Unzählige Male. Jeden Tag mindestens einmal."
Die Elfe lächelte für einen Moment leicht.
"Habt Ihr ihr gesagt, daß Ihr sie liebt?"
"Das weiß sie doch", winkte Kron leichtfertig ab.
"Wahrscheinlich weiß sie das. Aber habt Ihr es ihr gesagt?", wiederholte die Elfe ihre Frage eindringlicher.
"Ich denke nicht", gab Kron nachdem er darüber nachgedacht hatte etwas kleinlaut zu.
"Dann solltet Ihr es tun", meinte sie nach einem Moment. "Am Besten sobald Ihr sie das nächste mal seht."
"Ach was. Dafür ist immer noch genügend Zeit."
"Die Zeit dafür kann schneller vorüber sein, als mancher meint zu glauben", erwiderte die Waldelfe und leise, mehr zu sich selbst, fügte sie hinzu. "Viel zu schnell."
"Was wißt ihr denn schon?"
Die Elfe musterte Kron abschätzend. Unter ihrem eindringlichen Blick fühlte er sich wieder unbehaglich. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, senkte sie ihre Augen und begann mit leiser Stimme zu erzählen.
"Ich hatte mich in einen Mann verliebt, einen Menschen. Und er sich auch in mich.
Wir waren beide überglücklich, als wir erkannten, daß wir unsere Gefühle erwiderten und dachten, daß nichts uns jemals trennen könne.
Aber schon bald bekam ich Zweifel. Obwohl sich Menschen und Elfen äußerlich sehr ähneln, gibt es doch Unterschiede in Art und Verhalten. In vielerlei Hinsicht. Nicht nur eine Freundschaft oder Liebe ist bereits daran gescheitert.
Ich wollte das verhindern. Ich wollte mir Zeit lassen, ihn nicht drängen und ihm die Möglichkeit geben, sich an die Eigenheiten der Elfen zu gewöhnen. - Und ich mich an die der Menschen.
Aber ich war zu zögerlich. Ich konnte - oder wollte ihm nicht das geben, was er bei mir gesucht, was er von mir gewünscht und auch gebraucht hatte. Ich hielt ihn nicht für reif genug und bevormundete ihn dadurch, was er mir auch vorhielt. Aber da ich mir einbildete, klüger zu sein als er und Recht zu haben, kam es zum Streit.
Er verließ mich."
Die Elfe machte eine Pause und Kron, der für eine gute Geschichte immer zu begeistern war, wartete geduldig, bis sie fortfuhr.
"Nein, ich trug ihm nichts nach, da ich ihn schon recht bald verstand und auch meinen Fehler einsah. Er hatte recht gehabt, in allem. Doch ich wollte nicht wieder zu ihm, wo doch noch der böse Streit zwischen uns lag. Ich wartete also, bis Gras über die Sache gewachsen war und die Narben in unseren Seelen verheilt waren.
Als ich schließlich den Zeitpunkt für gekommen hielt, wollte ich einen Neuanfang wagen. Doch ich hatte zu lange gewartet, denn da hatte er bereits eine Frau aus seinem Dorf geheiratet. Er hatte es nicht länger ertragen, alleine und einsam zu sein.
Ich weiß nicht, ob er wirklich glücklich dabei war, aber als seine Frau bei der Geburt ihres Kindes starb, war er gebrochen. Er hätte Hilfe benötigt, doch ich gab sie ihm nicht. Ich wollte nicht, daß er vielleicht meinte, ich würde seinen Verlust und Schwäche ausnutzen. Ich wollte ihm die Zeit geben, den Schmerz zu verarbeiten. Alleine damit fertig zu werden.
Ich nutzte die Zeit und schrieb ein Lied für ihn. Ein Lied, das ihm zeigen sollte, wie sehr ich ihn immer noch liebte. Es sollte alle meine Gefühle zum Ausdruck bringen. Meine Wünsche und meine Träume für eine gemeinsame Zukunft. Es sollte perfekt sein. Jede Note, jeder Ton, jedes einzelne Wort. So perfekt, wie er.
Darum nahm ich mir Zeit, viel Zeit."
Die Elfe stockte erneut. Schließlich fügte sie flüsternd hinzu: "Viel zu viel Zeit."
"Endlich war das Lied für meinen Schatz fertig. Das beste, was ich jemals geschrieben hatte. Mein ganzer Stolz. Niemals wieder würde ich so etwas Schönes vollbringen können."
Die Elfe verstummte und Kron konnte sehen, wie ihre Gedanken zurück geglitten waren und sie das Lied in ihrem Inneren hörte.
"Hat es ihm gefallen?" fragte er schließlich ungeduldig, um das drückende Schweigen zu brechen.
Die Elfe schreckt hoch und sah ihn verwirrt an. "Was?"
"Das Lied. Hat es ihm gefallen?"
Nur langsam kam sie wieder in die Gegenwart. Schließlich seufzte sie. "Ich habe es kein einziges Mal gespielt."
Kron blickte sie verwirrt an. "Aber warum nicht? Ich dachte es war perfekt. Was ist passiert?"
"Was passiert ist? Nun, ich hatte vergessen, wie sehr die Zeit für Menschen und Elfen unterschiedlich vergeht.
Als ich endlich fertig war, als ich dachte, er wäre mit der Zeit über seinen Schmerz hinweggekommen und ich könne ihn mit meinem Lied wieder Freude und Liebe in sein Leben bringen - da stand ich nur vor einem stillen Grab."
Kron schluckte etwas.
"Ich hatte mir zu viel Zeit gelassen. Anstatt zu sagen, was zu sagen an der Zeit war, zu tun, was richtig und so wichtig war, hatte ich es immer wieder vor mir her geschoben. Hatte drauf vertraut, daß später immer noch die Möglichkeit dazu bestände, daß die Zeit noch nicht - reif dafür wäre."
Sie lachte freudlos auf, dann hob sie ihren Blick und sah Kron fest an.
"Zeit ist das Kostbarste, das wir besitzen. Nichts kann eine verschwendete Stunde zurückbringen. Nichts einen schönen Moment vergessen machen.
Nutzt die Zeit, die Ihr habt, Krieger. Nutzt sie, um Euren Lieben zu sagen, was Ihr ihnen sagen wollt. Wartet nicht, bis es endgültig zu spät dafür ist."

Kron hatte einen dicken Kloß im Hals, als er wieder Maara vor sich sah. Die Maara, die ihn mit ihren ständigen Liebesbekundungen nervte. Die Maara, die so sehnsüchtig den Weg hinunterblickte. Die Maara, die nichts anders hören wollte, daß er ihre übergroße Liebe erwiderte.
"Das werde ich", murmelte er schließlich und räusperte sich. Die Elfe lächelte etwas gelöster.
"Ich denke, ich sollte die verbleibenden Stunden noch nutzen, um noch ein paar Meilen hinter mich zu bringen." Kron erhob sich eilig und schulterte seinen Rucksack.
Die Elfe streckte ihm ihre hölzerne Flöte entgegen.
"Bitte, nehmt sie. Sie soll euch immer daran erinnern nicht den gleichen Fehler zu begehen, wie ich."
Kron wollte schon ablehnen, doch der Blick der Elfe war so bittend, fast schon flehend, daß er das Instrument annahm. In seinen Händen wirkte es so klein und zerbrechlich. Genauso zerbrechlich, wie ....
Vielleicht blieb er ja bei dem Laden im Dorf stehen und kaufte ein paar Meter von dem Stoff, der Maara letztens so gefallen hatte. Oder er pflückte ein paar der Blumen, die überall am Wegesrand blühten. Oder er nahm Maara einfach in seine starken Arme und drückte sie an sich, wenn sie ihm bei seiner Ankunft entgegenlief.
Eilig macht Kron ein paar Schritte, doch dann hielt er inne und drehte sich wieder zu der Waldelfe um, die traurig und wieder ganz alleine in der Lichtung saß.
"Und was ist mit Euch?"
"Mit mir? Nun, man sagt doch, und ich war immer dieser Meinung, daß die Zeit alle Wunden heilt. Wenn das wirklich stimm, hoffe ich, daß ich dafür noch genügend Zeit habe."

ENDE



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