ARTIKEL


WENN NAPOLEON BEI WATERLOO GEWONNEN HÄTTE
Ein persönlicher und durchaus unvollständiger Streifzug durch alternative Welten

von Hermann Urbanek



Wenn Hermann Maier in von einem Versicherungsunternehmen gesponserten Werbespots in TV, Radio und auf Plakaten, in denen es darum geht, die richtige Entscheidung zu treffen, mit dem Brustton der Überzeugung erklärt, sich damals als Kind richtig entschieden zu haben, als er, anstatt Schirennfahrer zu werden, sich auf Golf verlegt hat, und stolz seinem Sohn den - leicht mickrigen - Minigolfplatz zeigt, den er einmal erben wird, da ist natürlich jedermann und jederfrau klar, dass das ja überhaupt nicht stimmt. Denn Hermann Maier hat sich natürlich nicht für den Golfschläger entschieden sondern für den Schi und wurde - zumindest in unserer Realität - das größte Schifahrts-Ass der Gegenwart.
Und der SF-Fan erkennt, dass die Werbung eine der interessantesten und faszinierendsten Spielarten der Science Fiction für sich entdeckt hat: die Alternativweltgeschichte. Hermann Maier stand damals - sofern es sich dabei nicht nur um einen Werbegag handelt, wovon ich überzeugt bin - vor einer Entscheidung, die für sein weiteres Leben entscheidend war: "Nehme ich den Golfschläger oder den Schi". In unserer Realität nahm er den Schi und machte eine unglaubliche Karriere - und blieb ledig und bislang - soweit bekannt - kinderlos. Hätte der den Golfschläger genommen, dann wäre es durchaus möglich, dass er sich einen Minigolfplatz aufgebaut und einen Sohn bekommen hätte - und kann natürlich auch nicht wissen, was ihm alles entgangen ist, weil er sich nicht für den Schi entschieden hat.

"Was wäre geschehen, wenn…?" ist auch die grundlegende Frage zu jedem Alternativwelten-Entwurf, im Gegensatz zur SF-Standardfrage "Was wäre, wenn…?". Dabei wird davon ausgegangen, dass durch irgendein Ereignis die Geschichte von einem bestimmten Punkt an einen anderen Verlauf als den uns bekannten nimmt. Wobei die Veränderungen zum tatsächlichen Geschichtsverlauf umso dramatischer verlaufen, je weiter zurück in der Vergangenheit das betreffende Ereignis liegt. Und hier sind natürlich dem Ideen- und Einfallsreichtum der Autoren nahezu keine Grenzen gesetzt. Denn die Zahl der möglichen Wendepunkte der Geschichte ist nämlich einerseits Legion und zum anderen benutzen viele Vertreter der SF-Zunft alternative Topoi nur, um ihre eigenen Welten zu kreieren, die zum Teil auch mit Elementen der Phantastischen Literatur angereichert sind.
Doch bevor näher ins Detail gegangen wird, ist es notwendig, eine Begriffsbestimmung vorzunehmen, oder besser gesagt: eine Abgrenzung zu einem ähnlich gelagerten SF-Themenkreis: der Parallelwelt-Geschichte. Worin besteht nun der Unterschied?
Nun, in der Alternativwelterzählung verläuft die Geschichte anders als in unserer Welt, und eine Änderung erfolgt nur aus ihrer eigenen Entwicklung heraus.
In der Parallelweltgeschichte gelangt der Protagonist von seiner Welt auf eine oder mehrere andere, sie existieren in der Handlung parallel nebeneinander bzw. eine parallele - neue - Welt wird erst durch Manipulation (in Form von Zeitreise oder ähnlichem) geschaffen.
Gute Beispiele hierfür sind James P. Hogans "The Proteus Operation", Jerry Julsmans "Elleander Morning", Sarbans (das ist John William Hall) "The Sound of His Horn", "Making History" von Stephen Fry oder Jack Williamsons "The Time Legion" ("Die Zeitlegion"). Im ersten Roman versuchen Wissenschaftler einer Welt, in der Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat den Lauf der Geschichte durch Botschaften in die Vergangenheit zu verändern, im zweiten wird zwar Hitler noch als Student von einer Frau, die unsere Geschichtsverlauf kennt, erschossen, was aber den Faschismus nicht verhindert, in Sarbans Roman gelangt ein britischer Kriegsgefangener auf seiner Flucht in eine Welt, in der die Nazis, die den Krieg gewonnen haben, Menschenjagden veranstalten, im vierten wird Hitlers Geburt mittels Vergangenheitsmanipulation zwar verhindert, doch ein anderer nimmt seinen Platz ein, und im letzten kämpfen zwei mögliche Zukünfte darum, dass der Protagonist am Kreuzungspunkt der Geschichte genau die Entscheidung trifft, die sie von der Möglichkeit zur Realität werden lässt.
Überhaupt nicht zu diesem Themenkreis zählen natürlich von Zeit und realer Entwicklung überholte SF-Romane, wie der Klassiker "When William Came" von H. H. Munro alias Saki (1914) um die Eroberung Englands durch das Deutsche Kaiserreich und "Nacht der braunen Schatten" von Katharine Burdekin, in dem schon 1937 ein Europa nach sieben Jahrhunderten Nazi-Herrschaft geschildert wird, oder zahlreiche als Near Future Thriller über Konfrontationen zwischen USA und UdSSR verfasste Romane, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus plötzlich ihren Anker in der Realität verloren haben.

Die ersten Publikationen zum Thema erschienen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1907 schrieb die "Westminster Gazette" einen literarischen Wettbewerb zum Thema "Was wäre, wenn Napoleon die Schlacht bei Waterloo gewonnen hätte?" aus, der vom renommierten britischen Geschichtsforscher G. M. Trevelyan gewonnen wurde. Und 1931 publizierte Sir John Collings Squire den Essayband "If It Had Happened Otherwise", in der elf prominente Autoren (darunter G. K. Chesterton und Winston Churchill) ihre eigenen Antworten auf alternative Weltentwürfe vorlegten, wobei auch Trevelyans Arbeit enthalten war.
Trotzdem wurde in den darauf folgenden Jahren das Genre eine Domäne der SF-Autoren, die von der Wissenschaft eher skeptisch betrachtet wurde, gingen doch ihre bedeutendsten Vertreter von einer Beharrungsfähigkeit der Geschichte aus, der zufolge jede Abweichung vom tatsächlichen Verlauf über kurz oder lang wieder in der bekannten Realität münden würde, ja müsse.

Ein weites Betätigungsfeld für alternative Welten bot sich dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Schrecken des Naziregimes und dessen Gräueltaten forderten die Frage geradezu heraus, was denn geschehen wäre, wie die Welt denn aussehen würde, wenn Hitlerdeutschland infolge irgendeines unvorhergesehenen Ereignisses siegreich gewesen wäre. So beruhte William S. Shirers "If Hitler Had Won World War II" auf der Prämisse, 1940 wäre in Dünkirchen die Evakuierung der britischen, französischen und belgischen Truppen verhindert worden.
Eine der faszinierendsten und zugleich auch erschreckendsten dieser Visionen legte Philip K. Dick 1963 mit "The Man in the High Castle" vor. In diesem komplexen Kultwerk haben Deutschland und Japan die USA nach dem Endsieg unter sich aufgeteilt, das Mittelmeer wird trockengelegt und Afrika dient den Nazis als Spielfeld für ihre Rassenexperimente.
Einen anderen Weg beschritt Norman Spinrad 1972 mit dem Roman "The Iron Dream". Er gibt vor, lediglich eine mit Kommentaren versehene Spezialausgabe des SF-Romans "Lord of the Swastika" zu sein, den der in den 20er Jahren in die USA ausgewanderte Adolf Hitler geschrieben und für den er 1954 den Hugo Award erhalten hat - ein Heldenepos um einen Mann, der ein Reich nach NS-Muster aufbaut - gewürzt mit einer fiktiven Biographie Hitlers.
Die deutsche Ausgabe wurde von den Sittenwächtern der Bundesprüfstelle auf den Index gesetzt, doch der Heyne Verlag focht erfolgreich durch alle Instanzen gegen das Urteil an und bekam das Buch schließlich frei.
Einen echten Hugo hingegen gewann Fritz Leiber mit der Story "Catch That Zeppelin", in dem Hitler in den USA als Zeppelinvertreter tätig ist. Hitler und der Zweite Weltkrieg gehören zweifellos zu den Lieblingstopoi der amerikanischen und britischen SF-Autoren, und die Zahl der einschlägigen Publikationen ist Legion.
Besonders zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang noch die Romane "SS-GB" von Len Deighton (1978), "Fatherland" von Robert Harris, "Budspy" von David Dvorkin (1987), und "Moon of Ice" von Brad Linaweaver (1988) sowie die Anthologie "Hitler Victorious", hrsg. von Gregory Benford & Martin H. Greenberg (1986), mit zum Teil schon Klassikern des Subgenres von C. M. Kornbluth, Hilary Bailey, Greg Bear Keith Roberts, David Brin Brad Linaweaver, Sheila Finch, Algis Budrys, Howard Goldsmith, Tom Shippey und Gregory Benford.
In den letzten Jahren haben auch Vertreter der Hochliteratur die Möglichkeiten der SF erkannt, und so publizierte Philip Roth 2004 "The Plot Against America", in dem Nazi-Freund Charles Lindbergh 1940 die Wahlen gegen Franklin D. Roosevelt gewinnt und die USA aus dem Krieg heraushält.

Natürlich sind Hitler und das 3. Reich nur einer der Themenkreise, die im Alternativwelten-Szenario beleuchtet werden. Für die geschichtliche Entwicklung der USA von besonderer Bedeutung war natürlich der amerikanische Bürgerkrieg von 1861-1865. Und hier heißt die relevante Frage, was geschehen wäre, hätte der Süden die blutige Auseinandersetzung gewonnen. Zu dieser Thematik wären vor allem zwei Romane besonders zu erwähnen, "Bring the Jubilee" von Ward Moore (1953) und "If the South Had Won the Civil War" (1961) des Krimi-Autors McKinley Kantor (1961), wobei ersterer streng genommen eigentlich ein Alternativweltroman ist, denn der in dieser Realität siegreiche Süden verliert nur deshalb die entscheidende Schlacht bei Gettysburg, weil der Protagonist mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reist und durch seine Anwesenheit den Verlauf der Geschichte verändert. Interessant auch in diesen Zusammenhang "The Indians Won" von Martin Cruz Smith (1970), in dem es den Indianern gelungen ist, sich gegen die vordringenden Weißen zu behaupten und nach dem Sieg über Custer eine eigenständige Nation aufzubauen.
Aber auch andere geschichtliche Epochen und markante historische Ereignisse wurden und werden auf mögliche alternative Entwicklungen hin näher beleuchtet. So schildert Keith Roberts in "Pavane" (1968) eine Welt, in der die spanische Armada den Sieg über die britische Flotte errungen hat und Spanien zur unumschränkten Macht in Europa geworden ist. Die gleiche Grundthese führte dann in John Brunners "Times Without Number" (1969) zu einem völlig unterschiedlichen Ergebnis.
Robert Silverbergs "The Gate of Worlds" (1967) beruht auf der Prämisse, dass die Pest im Jahr 1348 drei Viertel der Bevölkerung Europas dahingerafft hat. Und wie die Welt aussehen könnte, hätte die Reformation nie stattgefunden, das schilderte Kingsley Amis in seinem beeindruckenden Roman "The Alteration" (1976), in dem England katholisch ist und Europa nach wie vor unter dem Diktat der Kirche steht, während sich in Harry Harrisons "A Transatlantic Tunnel, Hurrah!" (1972) die amerikanischen Kolonien niemals vom Britischen Empire losgesagt haben und in S. P. Somtows "The Aquliad" (1983) das Imperium Romanum nicht untergegangen ist sondern sogar den amerikanischen Kontinent erobert hat.
Ähnlich gelagert ist auch Kirk Mitchells "Germanicus"-Trilogie, in der die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt, nachdem Pontius Pilatus Jesus Christus begnadigt hat und so das Christentum nicht zur dominierenden Religion wurde: "Procurator" (1984), "The New Barbarians" (1986) und "Cry Republic" (1989). Die Liste ließe sich noch beliebig weiterführen.
Besonders erwähnenswert wären in diesem Zusammenhang natürlich die vierbändige Anthologienreihe "What Might Have Been", hrsg. von Gregory Benford & Martin H. Greenberg, bestehend aus den Einzelbänden "Alternate Empires" (1989), "Alternate Heroes" (1990), "Alternate Wars" (1991) und "Alternate Americas" (1992), in der führende SF-Autoren ihre Variationen zu Geschichte präsentierten. Spezielle Variationen zu amerikanischen Präsidenten boten die Anthologien "Alternate Presidents" und "Alternate Kennedys", zusammengestellt von Michael Resnick (beide 1992).
Wie eingangs erwähnt ist die Zahl der möglichen Variationen des geschichtlichen Ablaufs nahezu unbeschränkt, wobei möglich nicht nur für realistisch steht, für realistisch ohne Hinzufügen weiterer Elemente der Fantasy und Science Fiction. Doch auch diese Varianten sind weit verbreitet und erfreuen sich großer Beliebtheit.
Von der ersten Kategorie besonders zu erwähnen ist der von Randall Garrett konzipierte Zyklus um "Lord Darcy", den königlichen Ermittlungsrichter einer Alternativwelt, in der Richard Löwenherz nicht 1199 starb, sondern das mächtige anglo-französische Reich begründete, das große Teile der Welt beherrscht - eine Welt, in der Magie funktioniert und wissenschaftlich begründet ist. Die Serie besteht aus einem Roman und zehn Erzählungen von Garrett sowie zwei Romanen, die dessen Freund Michael Kurland nach Garretts Tod verfasste.
Aber auch reine SF-Elemente bilden bisweilen die Grundlage für Alternativwelt-Szenarien. Markantes Beispiel dafür ist Harry Turtledoves achtbändiger "Worldwar"-Zyklus, in dem mitten in die Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs - Großdeutschland hat gerade den Angriff auf Russland begonnen und Japan den Krieg gegen die USA - eine außerirdische Echsenrasse die Invasion der Erde startet.
Originell auch die Kurgeschichte "Sail On, Sail On!" von Philip Jose Farmer, in der die Expedition von Christoph Kolumbus scheitert, weil die Erde tatsächlich eine Scheibe ist.
Speziell an jüngere Leser hingegen richtet sich die an SF- und phantastischen Elementen reiche, aus dreizehn Bänden bestehende "Alternate England"-Serie von Joan Aiken, in der die Stuarts nicht vom Parlament vom Thron vertrieben wurden und nach wie vor England regieren. Sie begann 1963 mit "The Wolves of Willoughby Case" und endete 2005 posthum mit "The Witch of Clatteringshaws".

Auch außerhalb des angloamerikanischen Sprachraums erfreute sich das Spiel mit alternativen Möglichkeiten großer Beliebtheit. In Frankreich erschien bereits 1950 "Si l´Allemagne avait vaincu" von Randolph Robban, dem Verlagsinfo zufolge das Pseudonym eines französischen Diplomaten, ein Roman, in dem Deutschland den Krieg gewonnen hat und es in der Folge schließlich zum Atomkrieg mit Japan kommt. Italien hatte mit Guido Morselli einen überaus interessanten Alternativwelt-Autor. In seinem "Contro-passato Prossimo" (1975) nimmt der Erste Weltkrieg infolge eines bereits in Friedenszeiten von den Österreichern gebauten Tunnels nach Italien einen anderen Verlauf und der Zweite Weltkrieg findet überhaupt nicht statt.

Im deutschen Sprachraum erschien der erste Alternativwelt-Roman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - in der Zwischenkriegszeit gab es einige alternative Utopien, wie "Wenn wir 1918 …Eine realpolitische Utopie" von Müller Müller (1930) - im Jahr 1951. Es war Randolph Robbans "Wenn Deutschland gesiegt hätte". Es dauerte aber noch ein Jahrzehnt, bis die erste deutschsprachige Veröffentlichung der Nachkriegszeit zum Thema publiziert wurde. Es war dies der Roman "Die Kaiser-Saga" von Carl von Boeheim (1960), in dem ein fiktiver österreichischer Thronfolger den Konfliktstoff der nationalistischen Bewegungen noch rechtzeitig erkennt, sie entschärft und so den Grundstein für eine friedliche Vereinigung Europas legt.
1966 kam dann ein Meisterwerk des Alternativwelt-Subgenres heraus: "Wenn das der Führer wüsste" von Otto Basil. In ihm haben die Deutschen das Rennen um die Atombombe gewonnen und der Abwurf der ersten Bombe auf London hat Großdeutschland, das jetzt bis zum Ural reicht, den Sieg gebracht. Deutschland und Japan haben die Welt unter sich aufgeteilt. Doch als Hitler stirbt und interne Machtkämpfe zum Bürgerkrieg ausarten, sieht Japan seine Stunde gekommen und auch dieses Szenario endet in einem Atomkrieg.
Wie übrigens auch "Sternenstaub" von Harald Schäfer (1996). Besondere Erwähnung verdient auch Carl Amerys "An den Feuern der Leyermark"(1979), in dem die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt, nachdem die Bayern bzw. Baiern, die Bewohner der Leyermark, den österreichisch-preußischen Krieg von 1866 für sich entscheiden.
Im gleichen Jahr erschien auch die Erzählung "Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte", in dem Helmut Heissenbüttel diese Frage in einer Welt aufwirft, in der Nazi-Deutschland durch einen politischen Schwenk der Nazi-Führung tatsächlich den Krieg gewonnen hat, und zwar auf Seiten Stalins gegen die Westmächte.
Ebenfalls ein siegreiches Deutschland präsentierte Arno Lubus im Roman "Schwiebus. Ein deutscher Roman" (1980), in dem ein Radiojournalist namens Joseph Schwiebus in Konflikt mit den Direktiven des Nazi-Regimes gerät. Ausgefallener hingegen war "Samuel Hitler" von Sissini (1973), der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie die Welt heute aussehen würde, wäre Hitler Jude gewesen

Eines der interessantesten deutschen Alternativwelten-Szenarios zu diesem Thema legte Thomas Ziegler alias Rainer Zubeil 1984 mit "Die Stimmen der Nacht" vor, einer Erweiterung der gleichnamigen Erzählung. Hier wurde Deutschland durch den Morgenthau-Plan besetzt und in ein reines Agrarland verwandelt, das aber nicht zur Ruhe kommt. 1995 erschien eine stark überarbeitete Fassung mit einem neuen Schluss.
Ebenfalls ein besiegtes und besetztes Großdeutschland bildet die Grundlage für "Wo keine Sonne scheint" von Ronald Hahn & Horst Pukallus (2001), doch hier gelang den Nazigrößen die Flucht und unidentifizierbare fliegende Objekte werden gesichtet. Ebenfalls um UFOs, die den Verlauf der Geschichte ändern und Hitler die Herrschaft über Europa bringen, ging es in der Groteske "… und morgen der ganze Weltenraum!" von Stefan T. Pinternagel (2003).
Im gleichen Jahr folgte noch "Ich schieße, Herr Hitler!" von Wilhelm Raddatz, im dem die Wehrmacht Hitler und seine Gefolgsleute nach dem so genannten Röhm-Putsch festnehmen und den Nazi-Bonzen den Prozess gemacht wird.

Im Laufe der Jahre brachten die führenden deutschen SF-Verlage, aber auch renommierte Buchverlage, sukzessive die meisten der wichtigen Alternativwelt-Titel aus dem angloamerikanischen Sprachgebiet heraus, wie die oben erwähnten Titel von Dick, Spinrad, Deighton, Harris, u.a. Die erste deutschsprachige Anthologie zum Thema gab Rene Oth 1988 unter dem Titel "Schöne verkehrte Welt" heraus.
Mit großer zeitlicher Verspätung, nämlich erst 1999, erschien Squires berühmter Essayband auch hierzulande, und zwar unter dem Titel "Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte", nachdem einige Essays daraus zuvor schon in verschiedenen Ausgaben des "Heyne Science Fiction Magazin" publiziert worden waren. Zeitgleich kam auch die erste deutsche Alternativwelten-Anthologie auf den Markt, die von Erik Simon betreut wurde: "Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod", mit Erzählungen internationaler Autoren. Und 2001 kam die Anthologie "Fleisch und Blut" heraus, mit den von einer Jury ermittelten besten Beiträgen eines Autorenwettbewerbs zum Thema Alternativwelt.

In letzter Zeit haben vor allem zwei deutsche Autoren mit ihren Beiträgen zur Alternativwelt-Historie aufhorchen lassen: Christian von Ditfurth und Oliver Henkel. Christian von Dithfurth, gelernter Historiker, gab sein Debüt 1999 mit dem Roman "Die Mauer steht am Rhein", der von der Prämisse ausging, nicht die DDR wäre in der BRD aufgegangen sondern die DDR hätte die BRD nach einer massiven Wirtschaftskrise übernommen.
Weiter Alternativwelt-Romane folgten: "Der 21. Juli" (2001; das Attentat auf glückt und Deutschland gewinnt den Krieg durch Einsatz der ersten Atombombe), "Der Consul" (2003; Hitler wird 1932 nach der verheerenden Wahlniederlage der NSDAP bei den Reichstagswahlen umgebracht, doch die faschistischen Kräfte greifen nach der Macht im Staat) und "Das Luxemburg-Komplott" (2005; Rosa Luxemburg wird 1919 nicht ermordet und führt die Revolution zum Sieg).
Oliver Henkels Erstling, "Die Zeitmaschine Karls des Großen" (2001) gehörte genau genommen zur Parallelwelt-Geschichte, denn, wie der Titel schon verrät, wird der veränderte Geschichtsablauf durch einen Zeitreisenden herbeigeführt, aber schon sein zweiter Roman "Kaisertag" (2002) bot eine reinrassige Alternativwelt-Geschichte, in der der Erste Weltkrieg niemals stattgefunden und in Berlin nach wie vor der Kaiser herrscht. 2004 folgte dann der Erzählband "Wechselwelten" mit sieben sehr unterschiedlich konzipierten Erzählungen.
Im Laufe der Jahre hat sich die Wissenschaft schließlich doch zur Erkenntnis durchgerungen, dass die Theorie von der Beharrungskraft der geschichtlichen Entwicklung nicht länger aufrecht zu halten ist und begonnen, sich mit alternativen Möglichkeiten auseinander zu setzen, wobei die Begriff "Uchronie", "Parahistorie" und "kontrafaktische Geschichte" geboren wurden. Zahlreiche Abhandlungen und Sachbücher sind zum Thema erschienen, in denen die theoretischen Grundlagen abgehandelt und Fallstudien eingehend behandelt wurden.
Aus der Fülle der Materialienbände wären besonders zu erwähnen: "Ungeschehene Geschichte" von Alexander Demandt (1984; erw. 2001), "Der parahistorische Roman" von Jörg Helbig (1988), "What If?" (1999) und "What If? 2: Eminent Historians Imagine What Might Have Been" (2001), hrsg. von Robert Cowley, "Virtual History. Alternatives and Counterfactuals", hrsg. von Niall Ferguson und "Virtuelle Antike", hrsg. von Kai Brodersen (2000). Und das Internet bietet eine Seite, die sich ganz der Thematik widmet: "Uchronia - The Alternate History List" unter http://www.uchronia.net/. Reinschmökern lohnt sich!


Deutschsprachige Veröffentlichungen (Auswahl):

Primärtexte:
Amery, Carl: An den Feuern der Leyermark; München: Heyne 1981
Amis, Kingsley, Die Verwandlung; München: Heyne 1986
Basil, Otto: Wenn das der Führer wüsste; Wien & München: Molden 1966
Brunner, John: Zeiten ohne Zahl; München: Heyne 1985
Cruz Smith, Martin: Der andere Sieger; München: Heyne 1991
Deighton, Len: SS-GB; München 1989
Dick, Philip K.: Das Orakel vom Berge; Bergisch Gladbach: Bastei 1980
Förderverein Phantastika Raum & Zeit e.V. (Hrsg.), Fleisch und Blut; 2001
Harris, Robert: Vaterland; Zürich: Haffmans 1994
Harrison, Harry: Der große Tunnel; München: Goldmann 1973
Henkel, Oliver: Kaisertag; Norderstedt: Book on Demand 2002
Henkel, Oliver: Wechselwelten; Norderstedt: Book on Demand 2004
Lubus, Arno: Schwiebus. Ein deutscher Roman; München: Langen Müller 1980
Mitchell, Kirk: Imperator/Liberator/Procurator; Bergisch Gladbach 1988-90
Oth, Rene (Hrsg.), Schöne verkehrte Welt; Darmstadt: Luchterhand 1988
Raddatz, Wilhelm: Ich schieé, Herr Hitler!; Frankfurt/Main: R. G. Fischer 2003
Robban, Randolph: Wenn Deutschland gesiegt hätte; Stuttgart: Kohlhammer 1951
Roberts, Keith: Pavane; München: Heyne 1984
Schäfer, Harald: Sternenstaub; Frankfurt/Main: R. G. Fischer 1996
Silverberg, Robert: Auf zu den Hesperiden!; München: Knaur 1982
Simon, Erik (Hrsg.): Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod; München 1999
Sissini: Samuel Hitler; Darmstadt: Melzer 1973
Spinrad, Norman: Der stählerne Traum; München 1981
von Boeheim, Carl: Die Kaisersaga; Augsburg: Adam Kraft 1960
von Ditfurth, Christian: Die Mauer steht am Rhein, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999
von Ditfurth, Christian: Der 21. Juli; München: Droemer Knaur 2001
von Ditfurth, Christian: Der Consul; München: Droemer Knaur 2003
von Ditfurth, Christian: Das Luxemburg-Komplott; München: Droemer 2005
Yulsmann, Jerry: Elleander Morning oder: Der Krieg, der nicht stattfand; München: Heyne 1986
Ziegler, Thomas: Die Stimmen der Nacht; Frankfurt/Main: Ullstein 1984

Sekundärtexte:
Brodersen, Kai (Hrsg.): Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte; Darmstadt: Primus 2000
Carrère, Emmanuel: Kleopatras Nase. Kleine Geschichte der Uchronie; Berlin: Gatza 1993
Cowley, Robert (Hrsg.): Was wäre geschehen, wenn?; München: Knaur 2004
Cowley, Robert (Hrsg.): Was wäre gewesen, wenn?; München: Knaur 2000
Demandt, Alexander: Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte; Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999
Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn…?; Göttingen 1984, Kleine Vandenhoeck-Reihe 1501 ( erw. 2001: 4022)
Ferguson, Niall (Hrsg.): Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert; Darmastadt: Primus 1999
Helbig, Jörg: Der parahistorische Roman. Ein literaturhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung; Frankfurt/Main: Lang 1099 (Berliner Beiträge zu Anglistik 1)
Pfister, Manfred (Hrsg.), Alternative Welten; München: Fink 1982 (Münchener Universitäts-Schriften: Texte und Untersuchungen zur Englischen Philologie 12)
Ritter, Hermann: Kontrafaktische Geschichte; in: Nova 5, hrsg. von Ronald M. Hahgn, Michael K. Iwolei & Olaf G. Hilscher; Norderstedt: Books on Demand 2004
Salewski, Michael (Hrsg.): Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelweltgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit; Stuttgart: Steiner 1999 (HMRG Beihefte 36)


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