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ENDSTATION HΦLLE

von Roman Schleifer



Haron hasste es, seine Kabine wegen eines Notrufs zu verlassen, der aus einem der Höllenabteile kam. Schließlich hatte sich jeder Notruf in den neun Jahrhunderten seines Dienstes als Ausbruchsversuch erwiesen.
"Diese verfluchten Verdammten!", schimpfte er und riss die Verbindungstür zum nächsten Wagon auf.
Zuerst sah er das Blinken der Notruflampe, dann den rothaarigen Mann, der gegen die dicke, durchsichtige Sicherheitstüre hämmerte.

"Gott sei Dank! Endlich Hilfe."
Die Stimme des Mannes klang durch die Türe unnatürlich tief.
"Was wollen Sie?", schnauzte Haron den Mann an. Er hatte genug von diesen ständigen Fehlalarmen, die ihn um seinen Schlaf brachten. Auch, wenn er laut Dienstvorschrift jedem Notruf nachgehen musste.
"Ich …" Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. Offenbar hatte er mit einer freundlicheren Reaktion gerechnet.
"Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?" Am liebsten hätte Haron die Tür aufgesperrt und den Verdammten zurück zu seinem Sitz getreten.
"Sind Sie der Zugbegleiter?", fragte der Mann mit verhaltender Stimme.
Haron nickte und deutete auf sein Abzeichen.
"Gut, dann wecken Sie mich auf!"
Haron glaubte, sich verhört zu haben. "Aufwecken?"
"Das hier kann nämlich nur ein schlechter Traum sein!", fuhr der Mann fort. "Im Lautsprecher haben sie etwas von Endstation Hölle gesagt."
Haron fluchte in Gedanken. Wie es aussah, hatte er es diesmal nicht mit einem Ausbrecher, sondern mit einem Verrückten zu tun.
"Sie haben richtig gehört", sagte er und beruhigte sich. Schreien würde bei diesem Irren nicht helfen. "Dieser Zug hält an vier Stationen: Erde, Himmel, Fegefeuer und Hölle. Die ersten Drei haben wir schon passiert!"

"Das kann nicht sein!"
"Doch, doch." Haron blickte auf seine Uhr. "Vor acht Minuten und siebenundzwanzig Sekunden sind wir vom Bahnhof Fegefeuer abgefahren."
"Und wie komme ich hier raus?"
"An der Endstation", antwortete Haron lakonisch.
"An der … " Der Mann schluckte. "Ich gehöre nicht in die Hölle!"
"Raten Sie, wie oft ich das schon gehört habe."
"Aber bei mir stimmt es."

Haron gähnte. "Und warum wurden Sie einem der Höllenabteile zugeteilt?"
"Ich weiß es nicht!", rief der Mann.
"Ich gebe Ihnen einen Tipp." Haron beugte sich zu dem Mann und lächelte freundlich. "Denken Sie an Ihren Lebenswandel."
"Wenn Sie sich so sicher sind, warum sind Sie dem Notruf gefolgt?"

Harons Lächeln gefror. Dieses Argument war nicht zu entkräften. Im Stillen verfluchte er jene Stelle der Dienstvorschriften, die ihm die Zornesadern anschwellen ließ. Niemand hatte ihm erklären können, warum einem Notruf aus einem der Höllenabteile nachzugehen war.
"Ich hatte Zeit."
"Das glaube ich nicht! Das glaube ich nicht!" Die Stimme des Mannes überschlug sich. Fehlte nur noch, dass er anfing herum zu hüpfen. "Sie müssen mir zuhören! Sie müssen mir …"
"Dann erzähl endlich!", brüllte Haron und ärgerte sich im selben Moment darüber.
"Ich … ich …" Der Mann blickte sich gehetzt um, als wollte er nicht, dass ihn jemand hörte. "Verdammt, ich weiß nicht einmal, wie ich gestorben bin!"

Haron schluckte seinen Ärger hinunter und runzelte die Stirn. Im Vergleich zu den anderen Ausreden war das etwas Neues.
"Woran erinnern Sie sich noch?"
"Lassen Sie mich nachdenken!" Der Mann kratzte sich am Kinn. "Ja, genau! Ich bin mit dem Flugzeug von Australien nach Deutschland zurückgeflogen. In Frankfurt bin ich in einen Zug nach Nürnberg gestiegen und dann … dann … vermutlich bin ich eingenickt! Aufgewacht bin ich in diesem Wagon."
"Und?"
"Sehen Sie sich doch um! Bei jedem erkennt man, woran er gestorben ist."

Der Mann trat beiseite und gab den Blick in das Innere des Abteils frei. In der ersten Reihe kauerte eine Frau, von deren Händen Blut auf den Boden tropfte. Zwei Reihen hinter ihr saß ein Mann mit einem Einschussloch an der Schläfe, daneben ein Jugendlicher, dem ein Strick um den Hals hing.
"Zugunfall?", fragte Haron und wandte sich wieder dem Verrückten zu.
"Ich habe keinerlei äußere Verletzungen."
"Herzinfarkt? Schlaganfall?"
Der Mann schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht gelähmt und mein Puls ist in Ordnung. Fühlen Sie." Er streckte die Hand aus.
"Netter Versuch, mich zum Öffnen der Türe zu bewegen. Aber leider …" Haron grinste kurz und wurde wieder ernst. "Akzeptieren Sie es einfach."
"Nein! Nein! Nein!", schrie der Mann und wiegte dabei seinen Kopf hin und her.
Haron seufzte, knipste die Notruflampe aus und drehte sich um.
"Warten Sie!"

Haron atmete geräuschvoll aus, bevor er antwortete. "Was?"
"Es muss einen Ausweg geben, sonst wären Sie nicht hier." Der Mann trommelte mit den Fingern gegen die Türe. "Und außerdem wäre die Notrufeinrichtung sinnlos."
Haron hütete sich ein Wort zu sagen.
"Die Frage ist nur, ob Sie entscheiden können."
Haron verschränkte die Arme vor der Brust und fragte sich, ob er mit seiner Einschätzung des Mannes daneben lag.
"Nein", sagte der Mann wohl mehr zu sich selbst als zu Haron. "Sie sind nur der Zugbegleiter, also müssen Sie jemanden fragen."
Haron hob die rechte Augenbraue, als der Verdammte mit der Faust gegen die Tür schlug.
"Ich hab's!", rief der Mann. "Schnappen Sie sich das Funkgerät, das an ihrem Hüftgurt baumelt und sagen Sie der Zentrale, dass ein Fehler passiert ist."
Entweder hatte der Mann zuerst gut gespielt oder er hatte gerade einen sehr hellen Moment. Die Möglichkeit, dass er die Dienstvorschriften kannte, schloss Haron aus. Sie waren nur dem Bahnpersonal zugänglich und sonst niemand. Andererseits …
"Jetzt machen Sie schon!"

Haron sah den Mann an und entschied, dass seine Energie zu kostbar war, um sie an diesen Irren zu verschwenden. Wortlos griff er zum Funkgerät. Es knackste, nachdem er es eingeschaltet hatte.
"Was?"
Lariel, der Zugführer, war wie immer mies gelaunt.
"Ich spreche gerade mit einem Mann, der ..."
"Soll das ein Scherz sein? Wir sind vor der letzten Station!"
"Lass mich ausreden." Manchmal ging ihm Lariel gehörig auf die Nerven. "Frag in der Zentrale nach, ob … "
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den Namen des Mannes nicht kannte.
"Wie heißen Sie?"

Haron blickte zur Türe, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Der Mann war verschwunden.
Haron fluchte und trat an die Sicherheitstüre. Rasch überflog er die Sesselreihen ohne den Mann zu entdecken. Wütend hob er den Arm mit dem Funkgerät.
"Vergiss es!"
Lariel lachte. Es klang gehässig.
"Hast du dich nach zehn Jahren wieder von einem der Verdammten narren lassen?"
"Du mich auch!"

"Falls er verschwunden ist, war es sicher einer von diesen Mystery Travelern."
"Mystery - Was?"
"Die überprüfen die Effizienz des Personals", antwortete Lariel. "Du solltest die Dienstzeitung genauer lesen."
"Als ob es nach neunhundert Dienstjahren noch etwas zu verbessern gäbe." Haron kratzte sich am Hinterkopf.
"Man weiß ja nie", kam es aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. "Und, Haron, falls du eine gute Bewertung erhältst, wirst du vielleicht befördert!"
"Befördert?" Haron lachte. "Auf welchen Posten?"
"Na ja, wenn du so weiter machst, setzen sie dich noch als Zugbegleiter bei der ÖBB ein."

Haron unterdrückte den Impuls das Funkgerät gegen die Wand zu werfen und schaltete es ab.
"ÖBB", murmelte er. "Das fehlt mir gerade noch! Da ärgere ich mich lieber alle zehn Jahre mit einem Irren."

Ende


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