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EINE FRAGE DER MENSCHLICHKEIT

von Werner M. Höbart



Völlig regungslos blickten die großen, hellblauen Augen des Mädchens durch die dicke Plastscheibe des Rettungsschiffes. Keine Träne und nicht der geringste Laut. Nur dieser unbeschreiblich traurige Blick hinaus in die Kälte des schwarzen Nichts ließen auf die inneren Regungen der Achtjährigen schließen.
"Yasmin, du musst etwas essen!" Sanft und bemüht einfühlsam kamen die Worte aus den künstlichen Sprechorganen des Roboters. Er hörte auf den Namen Gustav und seine Programmierung ließ ihm keine andere Wahl, als sich um das leibliche und seelische Wohl seiner Anvertrauten zu kümmern. Aus der X-300er Serie kommend, reichte sein Einsatzgebiet von Kinderpflege bis zu einfachem Personenschutz.
Die Eltern des Mädchens hatten Gustav vor ihrem schrecklichen Tod beauftragt, sich in diese Rettungskapsel zu begeben und bestens auf Yasmin aufzupassen. Emotional vom Tod seiner Auftraggeber nicht betroffen, folgte er in den vorgegebenen Parametern stur seiner Programmierung und den letzten verbalen Befehlen von Yasmins Mutter, bevor sie von den im Forschungsschiff tobenden Bestien zerfleischt worden war. Mit etwas strengerem Unterton wiederholte Gustav seine Anordnung: "Du musst etwas essen, Kind!"
Dem Mädchen schien dies jedoch völlig egal zu sein, die absolute Leere des Weltraums gleich außerhalb der schützenden Überlebenskapsel herrschte auch in ihrer verwirrten Psyche. Grauenhafte Bilder geisterten durch ihren von Qualen in Schockzustand versetzten Verstand.
"Wir haben uns rechtzeitig vom Raumschiff deiner Eltern in dieser Rettungskapsel abgesetzt", versuchte es Gustav nun anders, "du musst keine Angst haben, es kann uns nun nichts mehr passieren!"
Kaum merkbar reagierte das Menschenkind auf die mit Nachdruck vom Androiden ausgesprochenen Worte. Ganz langsam wandte sich Yasmin von der Aussichtsluke ab und registrierte entgeistert ihren einzigen Ansprechpartner in der Enge der Kapsel. Unverständlicherweise plapperte das Kunstwesen immer weiter, ohne den Zustand seines Schützlings zu erkennen. "Wir müssen uns bald auf die Notlandung der Kapsel vorbereiten, bitte schnalle dich an deinem Sitz fest, Yasmin!"
Wie in Trance folgte die junge Terranerin der Anweisung ihres Erziehungsroboters, ohne bewusst zu erleben, was sie da eigentlich tat. Als wären die Bilder in ihr Bewusstsein eingebrannt, sah sie immer noch die Bestien vor sich. Die grauenhaftesten Kreaturen, die sie je zu Gesicht bekommen hatte.
"Wir landen auf dem Planeten?" erkundigte sich Yasmin mit heiserer Stimme. Ein kalter Schauer huschte ihr über den Rücken, wenn sie an den Planeten dachte. Von dort hatten ihre Eltern in ihrer Funktion als Xenozoologen einige der Bestien mit an Bord gebracht. Und nun wollte Gustav mit der Rettungskapsel auf dieser Welt voller Ungeheuer auch noch freiwillig landen?
"Es besteht keine Alternative", meinte der Gefragte freundlich und doch erkennbar emotionslos, "die Kapsel kann keinen anderen Raumkörper erreichen".

Mit einem großen Thermostrahler ausgestattet, bahnte Gustav einen Weg durch die angreifenden Bestien der urzeitlich wirkenden Welt. Ihre mit stahlharten Klingen besetzten Münder schnappten wiederholt hinter Büschen hervor, doch gegen die Geschwindigkeit des hochwertigen Syntrons im Androiden konnten selbst diese Biester nichts ausrichten. Gezielte Schüsse streckten sie immer wieder rechtzeitig nieder, bevor es gefährlich werden konnte.
Trotzdem verfluchte das Mädchen ihren stählernen Bewacher. Er hatte sie gezwungen, die schützende Rettungskapsel nach der problemlosen Notlandung zu verlassen, um gemeinsam bis zu einer angeblich ganz nahe liegenden Forschungsstation zu fliehen. Ihre Eltern hatten sie als Basislager für weitere Expeditionen eingerichtet. Und mit der Ausrüstung und den Vorräten dort konnte man sicherlich leicht einige Jahre überleben. Ganz im Gegenteil zur kargen Ausstattung der Rettungskapsel bot die Station laut Gustav die besten Überlebenschancen.
"Diese Geschöpfe sind wirklich sehr interessant, sie können auch noch weiter aktiv agieren, wenn ein Teil ihres Körpers zerstört ist", gab Gustav in seiner üblich belehrenden Ausdrucksweise von sich, "wie bei Regenwürmern existiert der heil gebliebene Teil weiter und er regeneriert sich sogar".
Für die mit zittrigen Beinen hinter dem Androiden folgenden Yasmin waren diese Bestien alles andere als bewundernswert, sie hatten ihre Eltern auf dem Gewissen. Auch wenn es in deren Natur lag und sie nichts dafür konnten - das Mädchen hasste diese Geschöpfe des Grauens aus tiefsten Herzen!
Während sein Strahler ganze Reihen von anstürmenden Bestien niedermähte, setzte Gustav seine Ausführungen fort. Dabei zeigte er auch auf ein abgetrenntes, zuckendes Bein eines der Bestien, welches aufrecht dastand, als wäre der Restkörper noch dran.
"Sehr interessant, das erinnert an den terranischen Weberknecht", erklärte Gustav in seiner Eigenschaft als Erziehungsroboter, "auch der lässt zur Ablenkung seiner Verfolgung ein Bein aufrecht stehend zurück, das sogar über eine eigenständige Sauerstoffversorgung verfügt und noch lange zuckt, um die Flucht des Hauptkörpers zu decken..."
Angewidert schloss das Mädchen von Terra für eine Sekunde die Augen. Wie konnte er nur bewundernd von diesen Monstren sprechen, die ihre Eltern auf dem Gewissen hatten? Was scherten sie die Gesetze der Natur, mit denen er dieses Verhalten erklärte und entschuldigte. Was wusste er von Natur? Sicherlich, er wusste zu erzählen, dass dieses absichtlich von einer der Bestien abgetrennte und zurückgelassene Bein auch allein für einige Zeit leben und agieren konnte. Doch was Leben wirklich bedeutete, davon hatte er keine Ahnung. Er kannte weder Angst, Schmerz oder Traurigkeit.
"Dort hinten ist bereits die Station zu sehen", verkündete Gustav ungerührt, dabei spuckte aus seiner Waffe Todesfeuer auf die Kreaturen dieser Höllenwelt. Da half den Bestien auch nicht die offensichtliche Tatsache, dass ihre einzelnen Körperteile jeweils mit eigenen Herzen und Lungen ausgestattet waren, um sie auch solo auf den Gegner hetzen zu können. Die Schnelligkeit des Androiden konnte mühelos damit fertig werden. Der Strahler ruckte hin und her und erfasste in übermenschlichem Tempo ein Ziel nach dem anderen. Ob nun ganze Bestien oder sich im Sprung in gefährliche Einzelextremitäten auflösende Angreifer, alle potentiellen Gefahrenquellen wurden mit absoluter Präzision ausgelöscht.
Dann hatten sie endlich die Station erreicht und Gustav öffnete mit dem Schleusencode den Eingang in das schützende Innere des kuppelförmigen Baues aus terranischer Fertigung - geschafft!

Als die junge Terranerin hörte, wie Gustav hinter ihr das Außenschott der Station verschloss, da fühlte sie sich endlich wieder für einen Moment geborgen. Jedoch dieses wohlige Gefühl der Vertrautheit in der von elterlicher Hand errichteten Station währte nicht lange. Denn aus einem anderen Bereich der eigentlich unbewohnten Basisstation drangen Stimmen - menschliche Stimmen.
"Ich bin nicht zufrieden", beschwerte sich eine Frauenstimme, "die psychosozialen Entscheidungsmomente entsprechen nicht den Zielvorstellungen der Company."
"Aber der neue Defensivchip hat sich bestens bewährt!" verteidigte sich ein männliche Stimme ärgerlich.
Weniger der Inhalt des zu hörenden Streites erweckte in Yasmin ein seltsames Gefühl, die zu hörenden Stimmen kamen ihr so unmöglich vertraut und zugleich fremd vor. Wenn sie nicht ganz verrückt geworden war, dann vernahm sie die Stimmen der Eltern. Aber das konnte nicht sein - sie hatten im Kampf mit den Bestien den Tod gefunden! Vielleicht stellten sich die gehörten Sätze als Tonaufzeichnungen heraus?
Ohne auf Gustav zu warten, lief die achtjährige Terranerin in die Richtung der Stimmen. Mit wenigen Schritten erreichte sie eine große Kuppelhalle und erkannte sofort in den beiden anwesenden Personen ihre Eltern, auch wenn sie ganz anders als sonst gekleidet waren.
"Die gewonnen Daten sprechen für sich. Ich werde die Trefferquote sofort an die Company durchgeben!" Die vom Vater gesprochenen Worte klangen für Yasmin plötzlich so fremd und gefühlskalt, dass sie sich nicht zu ihm wagte, um ihm um den Hals zu fallen. Auch ihre Mutter wirkte alles andere als vertraut, sie trug eine ungewohnt strenge Frisur und zischte kalt: "Ich will Perfektion! Ist das zu viel verlangt?"
Zum ersten Mal begann Yasmin nun zu weinen. Im Raumschiff und in der Rettungskapsel hatte sie es nicht gekonnt. Wahrscheinlich war der Schock über den Tod der Eltern zu groß gewesen. Aber nun da feststand, dass sie noch lebten, da brachen alle Gefühle aus ihr heraus.
"Mutter, Vater - ich bin hier", brüllte das Mädchen plötzlich lauthals heraus. Sie wollte in den Arm genommen werden, erst dann würde klar sein, dass alles eine gute Wendung nahm. Alles in ihr sehnte sich nach Geborgenheit.
Anders als gedacht, nahmen die Eltern aber trotz des Zurufes keine rechte Notiz von Yasmin, sondern befahlen Gustav, sich um sie zu kümmern. Der gerufene Erziehungsroboter näherte sich auch prompt, bevor er sie aber packen konnte, sprang das Mädchen nach vorne und zupfte am Arbeitskittel der Mutter. "Bitte Mami, was soll das alles?"
"Tut mir leid, aber wir sind nicht deine Eltern. Wir wollten mit deiner Hilfe nur Gustav und seine 300er Serie testen, ob seine Programmierung auch ein kindgerechtes Anforderungsprofil aufweist."
Wie von einem Stromschlag gestreift, wich Yasmin von der Mutter zurück. Jener Person, der sie bisher am meisten vertraut hatte. Sie sprach nun von Tests mit Gustav? Waren das fremde Menschen, die in den Rollen ihrer Eltern agierten?
"Wer seid ihr? Sind meine Eltern doch umgekommen?"
Verärgert zog die Frau ihre Augenbraue hoch.
"Auf die Gefahr hin, dass ich dich enttäuschen muss", spöttelte die vermeintliche Mutter. "Kapiere es endlich! Du hattest nie echte Eltern, weil du eine Androidin bist! Mit einem echten Menschenkind dürften wir solche Tests gar nicht machen, aber mit Androiden wie dir schon..."
"Ich bin keine Androidin!" begann Yasmin zu schluchzen. "Seht ihr nicht meine Tränen? Ich weine, weil ich Gefühle habe!"
Als ihr Vater nun auch noch lauthals zu lachen begann, da wäre sie am liebsten einfach gestorben. Die Grausamkeiten nahmen einfach kein Ende. Mit überheblichem Grinsen begann er zu erläutern: "Wir haben dir natürlich eine fühlende Biokomponente eingebaut, ähnlich den Posbis, nur weiterentwickelt. Diese Variante von Tests ist zwar auch nicht ganz legal, aber echte Kinder können wir ja leider nicht verwenden..."
In diesem Augenblick fügte sich Yasmin erst langsam der Vorstellung, nicht wirklich ein Mensch zu sein, sondern ein Androide mit einer biologischen Komponente im Kopf.
"Und meine Erinnerungen an meine Kindheit?"
"Dafür haben wir einen speziellen Suggestor entwickelt", meinte die Frau, die Yasmin bisher für ihre Mutter gehalten hatte, "auf diese Weise löschen wir dir auch gleich anschließend wieder dein Kurzzeitgedächtnis, damit wir den nächsten Test Nummer zweihundertdreiundsechzig durchführen können!"
Als nach dieser grauenhaften Offenbarung das Mädchen wieder weglaufen wollte, konnte sie dem zu testenden Erziehungsroboter Gustav nicht mehr entrinnen. Er hob sie mühelos an und brachte sie entsprechend der Anweisung unter den Suggestorhelm. Schon in wenigen Augenblicken würde Yasmin nicht mehr wissen, was sie gerade erlebt hatte. Der Test konnte von vorne beginnen und sie musste wieder und wieder um ihre von Bestien ermordeten Eltern an Bord weinen. Alles nur, damit Gustav in seiner Programmierung optimal auf ein kindgerechteres Verhaltensmuster eingestellt werden konnte, er also richtig auf Gefühlsausbrüche reagierte.
"Es ist gemein, was ihr da mit mir macht! Ich habe echte Gefühle!"
"Sei still, Yasmin! Denk lieber daran, dass viele menschliche Kinder von diesen Tests profitieren werden, weil die Gustav-Serie besser mit ihnen umgehen kann!"
Yasmin antworte nicht mehr. Diese echten Menschen waren grausamer als die Bestien vor der Station, die auch nur eine Rolle in diesem Testverfahren unfreiwillig zu spielen hatten.
Bevor ihr der Suggestor wieder die Erinnerung nahm, um sie durch künstlich generierte zu ersetzen, da sprach Yasmin noch ein letztes Mal: "Ich bin sehr froh, kein echter Mensch sondern nur eine Androidin zu sein! Denn als Mensch wäre ich vielleicht auch so wie ihr!"

E N D E


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