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DIE LETZTE MISSION

von Fred H. Schütz



Der Bootsführer hieß Peterap. Das war allerdings nur die im Service gebräuchliche Abkürzung des zivilen Namens Peter Rappeneaux, für den sich aber außerhalb des Melderegisters niemand interessierte. Wer ihn kannte - das waren neben allen, die er kannte, wenig andere - rief ihn Peterap und dabei blieb es.
Er war neunundfünfzig Jahre alt und sah doppelt so alt aus. Aber das Aussehen täuschte; er war drahtig und zäh und war, soweit er sich erinnern konnte, nie auch nur einen Tag krank gewesen. Vierzig Jahre seines Lebens hatte er im Weltraum zugebracht.
Ebendort - das heißt, auf Raumschiffen - hatte er sein nicht unbeträchtliches Wissen erworben. Das heißt, soweit es Sternenkunde, Exobiologie und Radialkurvaturtechnik betraf, konnte ihm keiner ein X für ein U auf die Backe malen. Allerdings war seine Kenntnis der letzteren eher praktischer Natur. Der Spruch "Gib ihm einen Mikroschraubendreher und ein Päckchen Kaugummi und er repariert alles!" war im Service geradezu Folklore, aber er blieb bescheiden. Vor langer Zeit hatte er einen Satz gelesen, der ihn tief beeindruckte: "Renn was du kannst um auf der Stelle zu bleiben." Das war fortan sein Leitmotiv.
Sein ständiger Begleiter und wahrlich einziger Freund hieß Epsilon. Epsilon gehörte zur Gattung der Federschwänze, der höchstentwickelten Spezies auf dem Planeten M20711CP2. Das hieß, dieser Planet war der zweite im Orbit um eine Sonne, die im Sternregister als M20711CP geführt wurde. Er war so unbedeutend, daß man ihm nicht einmal einen Namen gegeben hatte.
Epsilon war ebenso alt wie Peterap, und sie waren zusammen, seit sie fünf Jahre alt waren. Er liebte es, stundenlange Gespräche mit Peterap zu führen, Gespräche, die man allerdings eher als Monologe bezeichnen sollte, denn Epsilons Rede war ein vogelsanggleiches melodisches Trillern. Dennoch muß man ihm zuerkennen, daß er ebenso gescheit war wie sein Freund. Er paßte genau in Peteraps Brusttasche.
Peterap saß am Steuerpult, vor sich die Schaltfläche mit den vielen farbigen Leuchtfeldern, die er nur anzutippen brauchte, um die Funktionen des Raumschiffes zu steuern, griffbereit unter seiner rechten Hand der Joystick -- mit dem Joystick steuerte er die Bewegungen des Schiffes im Rahmen der drei Raumdimensionen; er hätte sogar rückwärts fliegen können. Vor ihm, über der Schaltfläche, befanden sich die Fenster. Die Fenster waren eine Reihe von Bildschirmen, die ihm alles zeigten, was für ihn wichtig war. Die Fenster waren groß genug, Details genau darzustellen, aber nicht so groß, daß er sie nicht hätte mit einem Blick erfassen können. Richtige Fenster nach draußen gab es hier nicht, denn die Kabine befand sich tief im Bauch des Raumschiffes. So waren er und Epsilon vor der harten Weltraumstrahlung geschützt.
An der rechten Seitenwand, über seiner Koje, befand sich ein weiteres Fenster, ein Bildschirm wie die vorigen. Dieser war jedoch viel größer, nahm quasi die ganze Wand ein. Er zeigte, von Emotionssensoren gesteuert, bewegte Ansichten von Landschaften oder auch Straßenszenen, oder, wenn ihm danach war, irgendeine Show, sogar Filme. Den entsprechenden Ton dazu konnte er nach Belieben ausschalten - zum Beispiel, wenn er sich auf einen wichtigen Vorgang konzentrieren wollte - oder er konnte das Fenster auf Nachtbetrieb umstellen; dann waren Bild und Ton gedämpft und begleiteten ihn im Schlaf.
In begrenztem Umfang erlaubte dieses Fenster auch eine Kommunikation mit Kollegen und Vorgesetzten, beziehungsweise Freunden oder verbliebenen Verwandten, die er hinter sich gelassen hatte oder zu denen er unterwegs war. Dabei mußte er jedoch in der Regel Stunden oder Tage, sogar Wochen auf eine Antwort auf seine letzte Äußerung warten. Das lag an den riesigen Entfernungen, die ihn von seinen Gesprächspartnern trennten und die zu überwinden sogar das Licht seine Zeit brauchte.
Die linke Seitenwand beherbergte die Bordküche. Diese war ein offenes Fach in der Wand, umrahmt von Tafeln mit Schaltflächen wie sie der Steuerpult aufwies. An diesen Schaltflächen konnte er seine Mahlzeiten oder Getränke auswählen, die dann aus verschiedenen Lagerschächten in das Fach fielen. Die Päckchen waren mit Reißfäden versehen, die sobald er daran zog, einen chemischen Prozess in Gang setzte, der ein sofortiges Erhitzen ihres Inhalts bewirkte. Das galt allerdings nur für heiß zu genießende Fertiggerichte und Getränke; alle anderen blieben gekühlt.
Unter dem Servierfach befand sich die Entsorgungsklappe, in die er nur die Speisereste und Verpackungen zu kippen brauchte; sobald er die Klappe wieder schloß, wurde alles was er hineingeworfen hatte durch die eingebaute Automatik in subatomare Partikel zersetzt und dem Reaktor zugeführt. Das Entsorgungssystem war übrigens der störungsanfälligste Teil der gesamten Schiffsmechanik.
Neben der Bordküche befand sich die Naßzelle, die, wenn Toilette und Waschbecken in die Wand hochgeklappt waren, sich als Dusche darstellte. Die Absaugvorrichtung im Fußboden derselben leitete das verbrauchte Wasser in die Recyleinrichtung, denn Wasser ist zu kostbar um es zu verschwenden - zumindest an Bord eines Raumschiffes das keine unbegrenzten Vorräte mitführen kann. Die Zelle hatte eine wasserdichte Tür die verhinderte daß Duschwasser, das infolge der geringen Schwerkraft nur langsam niederfällt, in die Kabine eindrang. Außerdem durfte die Zelle nur benutzt werden, wenn das Raumschiff unterwegs war und der Schub des Ionenantriebs minimale Schwerkraft erzeugte.
Eine Tür in der Rückwand führte zum Aufzug, der ihn wahlweise zum Laderaum oder zu einem der Außenluken bringen konnte. Die letzteren befanden sich jenseits von doppelt gesicherten Schleusen, und nur durch diese konnte das Raumschiff betreten oder verlassen werden. Die Schleusen waren Doppelkammern und in den inneren befand sich einsteigbereit hingehängt jeweils ein Raumanzug. Raumanzüge gehörten zur Standardausrüstung von Raumschiffen; sie dienten zum Ausstieg bei eventuell notwendigen Reparaturen an der Außenhaut. Rettungsboote gab es nicht; sie wären angesichts der immensen Entfernung zur nächsten lebensfreundlichen Welt sinnlos gewesen.
Für den Laderaum gab es eine ebenso gesicherte Ladeluke mit Cargoliften und Förderbändern. Diese Einrichtung erübrigte den Einsatz von Muskelkraft zum Einbringen oder Löschen der Ladung.
Ladungen wurden von Raumfähren im Pendelbetrieb zwischen Planetenoberfläche und Raumschiff an Bord gebracht und ebenso am Zielort wieder abgeholt. Auf gleiche Weise waren Peterap und sein kleiner Freund an Bord gekommen.
Den weitaus größten Anteil an der Masse des Raumschiffs hatten die technischen Elemente: Computerbänke für die Steuerung der Schiffsfunktionen, Orientierung im Raum und Navigation; Konvektoren, Reflektoren, Transformatoren und Generatoren für Magnetschutzfelder und die Betriebsspannungen; der eigens abgeschirmte Reaktor, und ganz am hintersten Ende des Raumschiffs die scheibenförmige Wand der Ionentriebwerke. Von der Seite betrachtet ähnelte das Gesamtaggregat einem Knirps, der Vaters offenen Regenschirm spazieren trägt.
Dieses Schiff war das bisher letzte in einer Reihe von Raumschiffen gleichen Namens, die im Lauf der Jahrhunderte im Dienst waren und deren Name von einer seinerzeit erfolgreichen Fernsehserie herstammte. Die Enterprise war ein Raumfrachter.
Man darf aber nicht denken, daß sie riesige Frachten beförderte; der Transport von Tonnen und Abertonnen von Erz und sonstigen Rohstoffen durch den Weltraum gehört schlicht ins Reich der Phantasie. Zum auf einen gab es, was auf einem Planeten gefunden oder erzeugt wurde, auch auf jeder anderen von Menschen besiedelten Welt, zum anderen vermochte kein Konsortium, und wäre es noch so mächtig, die für eine Beförderung solch riesiger Frachten benötigten Mittel aufzubringen. Nein, die Enterprise beförderte kaum etwas anderes als exoethnologische und archäologische Artefakte, oder im Notfall die zur Bekämpfung von Seuchen auf anderen Welten erforderlichen Medizinen.
Es gab allerdings auch Raumschiffe mit einer im Rahmen des möglichen höheren Anzahl von Personen an Bord. Bei ihnen handelte es sich um Wissenschaftler wie Exogeologen, Exobiologen, Astrophysiker und so weiter, die auf ihren Forschungsreisen die unterschiedlichsten Welten aufsuchten.
Was es nicht gab, waren Kriegsschiffe. Die aberwitzigen Geschwindigkeiten, mit denen Raumschiffe gezwungen sind, sich im Weltraum fortzubewegen, erlauben keine Kurvenflüge und deshalb gab es keine wild herumdüsenden Sternenjäger und keine Weltraumschlachten. Das Universum ist auch so schmutzig genug. Zudem hatte man noch niemals eine intelligente Rasse außerirdischer Herkunft angetroffen, obwohl der Mensch bereits seit Jahrhunderten im Weltraum unterwegs war. Es gab lediglich Hinweise auf früher existente Zivilisationen ferner Welten, und eine Mischung aus Neugier und Risikobereitschaft stachelte Forscher an, auf diese abenteuerlichen und entbehrungsreichen Reisen zu gehen.
Nicht zuletzt deshalb, aber auch weil er ein Einzelgänger war, saß Peterap jetzt am Schaltpult. Wo hätte er auch anders sitzen sollen, es sei denn in seiner Koje. Selbst seine Mahlzeiten nahm er am Schaltpult ein. Auf einer freien Fläche desselben hockte Epsilon, den buschigen Schwanz gekringelt wie ein Eichhörnchen, und tat sich an der Nußschokolade gütlich, die Peterap redlich mit ihm teilte. Die beiden teilten alles redlich miteinander, auch wenn Epsilon das größere Risiko auf sich nahm weil er alles vertrug; nicht einmal eine extraterrestrische Frucht die tödliche Blausäure enthielt hatte ihm geschadet.
Er war, wie gesagt, ebenso klug wie Peterap und deshalb wußte er auch, daß er niemals über die farbigen Schaltfelder huschen durfte, wenn er sich und seinem Freund einen massiven Anfall von Seekrankheit ersparen wollte.
Auch nicht, als der Ionenantrieb Schub erzeugte und die Enterprise vorantrieb. Die Beschleunigung des Raumschiffs, anfangs kaum merklich, wuchs und vervielfachte sich, und der Druck preßte Peterap tief in die weichen Polster seines Sessels, die ihn umringten und ihn hielten, wie die Arme einer Mutter ihr Baby. Derweil verkroch sich Epsilon in seiner Brusttasche.
Der Beschleunigungsdruck hielt an, bis Masseträgheit das Raumschiff sozusagen mitschwimmen ließ. Der Vorgang glich hierin einem Aufzug, der rasch aufwärts fährt, nur daß dieser oben ankommt ehe Masseträgheit einen Schwerkraftausgleich bewirkt. Die Enterprise hingegen flog monatelang mit ständig wachsender Geschwindigkeit, bis diese den Punkt erreichte, an dem die Konvektoren das Raumschiff in den Hyperraumsprung schleuderten.
Obwohl Materie im Universum so dünn verteilt ist, daß statistisch bestenfalls ein Staubkörnchen auf den Kubikmeter kommt, bewirkt die wachsende Beschleunigung eine Bugwelle, die das Raumschiff vor sich aufstaucht bis es schließlich das Raumzeitgefüge durchsticht - wie eine Nadel, die durch zusammengelegte Stoffbahnen fährt - und praktisch ohne Zeitverlust am vorausberechneten Ort aber Lichtjahre entfernt wieder in die normale Raumzeit eintaucht. Das ist der Hyperraumsprung.
Der Hyperraumsprung verzehrt nahezu alle Beschleunigungsenergie, sodaß das Raumschiff auf der anderen Seite quasi bei Null anfangen muß, wieder Fahrt aufzubauen, die es zum endgültigen Zielpunkt bringt.
Er nagt aber auch an der Energiequelle und am Material - des Raumschiffes und allem was sich an Bord befindet - und nicht zuletzt an der Psyche. Am Ende eines Sprunges waren beide - Peterap und Epsilon - völlig erledigt und mußten sich auf die Automatik verlassen, die das Schiff vorantrieb, bis sie sich erholten. Das war bisher immer gut gegangen - auch wenn die Enterprise am Ende einer jeden Mission zur Runderneuerung der von der Weltraumstrahlung zerfressenen Außenhaut ins Dock mußte.
Aber alles hat einmal ein Ende. Vor zehn Jahren war die Enterprise in den Dienst gestellt worden und hatte seither das Zehnfache an Zeitarbeit hinter sich gebracht - der Mensch und der Nichtmensch an Bord noch weit mehr.
Irgendwann, irgendwo auf ihrer letzten Mission löste sich die Enterprise mitsamt allem was sich an Bord befand in subatomare Partikel auf und nichts blieb übrig ....


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Anmerkung des Verfassers: Der vorstehende Text ist ein Versuch, zukünftige Raumfahrt aus der Sicht heutiger Kenntnisse darzustellen. Ich habe hierzu die Erzählform gewählt, um die Lektüre für den Leser ansprechend zu gestalten.


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