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NETZWERK 666

von Werner M. Höbart



Ohne ihn anzusehen eilte die Frau des Professors aus dem Haus. Der hörte sie nur noch einen kurzen Hinweis murmeln, mit welcher Freundin sie sich im Gesundheits-Verwöhnzentrum treffen wollte. Doch das interessierte den zerstreuten Moral-Inspektor vom Amt für Ethik und Bürgerpflicht ohnehin wenig. Es galt, den Zerfall der Gesellschaft zu bremsen, der immer offensichtlicher wurde. Das Jahr 2084 war kein gutes Jahr für die Moral der Bürger. Glücklicherweise hatte der "Aufstand der Vernunft" vor einigen Jahren die grenzenlose Freiheit des Individuums in der Demokratie beschränkt. Die Funktionalität des Individuums und seine Nützlichkeit für die Gemeinschaft standen nun im Vordergrund.
"Zugang zum Netzwerk 666 geöffnet", ließ eine Stimme in seinem Kopf wissen. "Du darfst eintauchen, Bürger Melwin Schneider!"
Wie alle Bürger trug der Professor eine Kontrolleinheit in den Nacken implantiert, die ihm den Zugang in den globalen virtuellen Raum erlaubte. Dort wartete auch seine Aufgabe, seine Berufung auf ihn: Die Wiederherstellung der moralischen Ordnung!
"Kann ich heute in die Jugendbetreuungsanstalt gehen?" vernahm der Professor eine weitere Störung. Die Stimme gehörte seiner Tochter Gabriele Schneider. Ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden und dementsprechend in einem schwierigen Alter.
"Nein! Du weißt doch, was ich von diesen Treffpunkten der jungen Leute heute halte! Du solltest lieber etwas für deine Bildung tun - lerne mit dem Hauskommunikator!"
Gereizt nahm er aus den Augenwinkeln heraus wahr, wie seine Tochter zornig in ihr Zimmer zurück trottete. Was hatte diese Jugend nur? Diese aufreizende Kleidung, der forsche Umgangston und dann noch diese Barbarenmusik! Seine Tochter würde nicht dem Verfall der Moral anheim fallen, dafür würde er Sorge tragen!
"Überblick über Netzwerk 666", meldete die Stimme in seinem Kopf nun, "wähle deinen Suchpfad!"
Während er bequem in seinem Lehnstuhl ruhte, konnte er seiner Arbeit nachgehen, und für das Amt für Ethik und Bürgerpflicht nach den schlimmsten Vergehen im Netzwerk 666 suchen. Die Kinder heute wussten gar nicht, welches Glück sie hatten, wenn die Eltern zuhause ihren Dienst für die Gesellschaft verrichteten, und nicht, wie früher, getrennt von der Familie in Büros oder Werkstätten ihren entmenschlichten Tätigkeiten nachgehen mussten. Diese Jugend hatte ja keine Ahnung…
Virtuelle Pfade, Datenströme, Verzeichnisse, Piktogramme, Werbeanimationen - was war das?
Erschrocken sah er plötzlich Bilder vor sich, die der schlimmsten Vorstellung von Versuchung spotteten. Nackte Leiber konnte man sehen, einzeln und auch sich umschlingend. Absolut angewidert musste Schneider sich überwinden, eines dieser Portale des Netzwerkes zu betreten.
Man musste bedenken, diese dreidimensionalen Abbilder von Menschen waren die virtuelle Masken von Personen, die sich in der realen Welt bevormundet fühlten und hier ihren perversen Gelüsten nachgaben. Noch gestattet vom Amt für Ethik und Bürgerpflicht, um jenen ein Ventil zu geben, die sonst in der Gesellschaft nicht funktioniert hätten. Und der Dienst an der Gesellschaft hatte als oberste Norm natürlich Priorität!
Trotzdem! Bei derart unappetitlichen Entwicklungen konnte man einer der Lust und Freude verfallenen Gesellschaft einfach nicht alles gestatten. Es galt, Statistiken und Berichte vorzubereiten, um der Regierung eine Grundlage für weitere Einschränkungen und Schutzmassnahmen in die Hand zu geben.
"Komm doch", lockte ein frivoles Weib, "in unserem Kennenlernraum findest auch du jemanden…"
In der Gestalt eines muskulösen Adonis betrat der Professor den Raum. Die Neugier siegte über die Empörung. Schließlich konnte er doch der dienstlichen Pflicht nicht entsagen. Er riskierte einen Blick auf die illustre Runde im besagten Kennenlernraum.
Zwei Frauen verlustierten sich in einer Ecke. Wider die Natur! Sollten sie doch lieber Kinder gebären und den Pflichten einer Mutter im Familienverbund folgen! Daneben dieses Pärchen mit einem Wesen, das wohl einem dieser futuristischen Filme entsprungen schien. Abartig!
Nur in einer Ecke, da stand schüchtern und zurückhaltend eine junge Frau. Vielleicht hatte sie sich nur verirrt? Man konnte sie vielleicht noch vor diesem Sumpf retten…
"Darf ich mit dir plaudern?"
"Gerne."
Diese Stimme, süß und unschuldig! Ihr ganzes Wesen wirkte wie ein Fremdkörper in diesem Sündenpfuhl. Als hätte ein Engel sich in die Hölle verirrt!
"Ich heiße M… Malte, und du?"
Sie lächelte, und ihr bezaubernder Blick verwirrte den Professor zunehmend.
"Wir haben alle Decknamen hier drinnen", beruhigte die junge Frau. "Mein Name hier im Netzwerk lautet Lara!"
Auch er lächelte nun. Der Name passte zu ihr. Sie wirkte sauber und brav, ein anständiges Mädchen eben. Nicht mehr leicht zu finden in diesen Tagen. Hübsch, eine prachtvolle Erscheinung, trotzdem bescheiden und freundlich.
"Ich fühle mich hier etwas unwohl", gestand das Mädchen leise und etwas verschüchtert. Dann flüchtete sie sich in die Arme von Melwin und blickte treuherzig zu ihm hoch.
Melwin war hochgradig verwirrt. Was konnte sie wollen? Gerade von ihm? Ein chaotisches Gefühl erfasste ihn und er fragte sich, ob sie es ehrlich meinte, gestand sich aber gleichzeitig ein, dass ihm das im Moment ziemlich egal war. Er war aufgeregt wie selten zuvor. Sein ganzes Leben lang hatte er auf so einen Augenblick gewartet, doch nie war ihm eine so zu Herzen gehende Szene vergönnt gewesen.
"Du liebe Seele, was machst du an so einem Ort?"
"Ich hüte in der realen Welt meine Reinheit für den Dienst an der Gesellschaft. Doch hier möchte ich mich vorbereiten für den Tag, an dem ich eine Familie gründen soll. Möchtest du mich vielleicht in diese Geheimnisse einweisen?"
Er begann schwer zu atmen. Die Grenzen seines Dienstes für das Volk waren klar umrissen. Seine moralische Gesinnung felsenfest und durch keine Gefahr in Versuchung zu führen. Auch nicht durch die Verlockungen des Netzwerkes.
Jedoch, sollte er diese suchende Seele diesen Hyänen überlassen? Wenn er sich nicht erbarmte, was würden die Perversen aus dieser Unschuld machen? Ein moralisches Dilemma! Er konnte sich der Verantwortung nicht entziehen.
Vorsichtig streichelte Melwin über ihren Kopf, die langen schwarzen Haare entlang abwärts über ihren zarten Rücken, dann hielt er sie in seinen starken virtuellen Armen fest und genoss es, wie sie sich an ihn schmiegte.
Unglaublich zärtlich begann Lara seine Brust zu küssen. Ihre Lippen und ihre Zunge offenbarten ihren Hunger nach Leidenschaft. Es musste wohl sein, die primitiven Triebe beherrschten auch einen Engel wie sie. Und wollte er ihre reale Unschuld retten, musste er sie von dem schlimmen Gesindel fern halten.
Seine Hände packten ihren Hintern und er zog sie fest zu sich. Er beugte sich vor und begann behutsam ihren Mund zu küssen. Mal fordernd, dann wieder zurückhaltend. Er merkte, wie dieser Wechsel ihre Neugier auf mehr weckte. Es sollte wohl so sein…
Als er sich aus der virtuellen Welt zurückgezogen hatte, öffnete er in der realen Welt die Augen. Salziger Schweiß tropfte ihm von der Stirn, benetzte seine Lippen. Der Geschmack erinnerte ihn an die virtuelle Welt im Netzwerk. Geschmack und Düfte hatten so echt gewirkt. Er fühlte sich schuldig. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können. Irgendwo auf der Welt gab es jetzt ein verstörtes junges Mädchen.
"Warum habe ich mich nicht bremsen können?" klagte er sich selbst an. In der realen Welt hatte er nie so über die Stränge geschlagen. Stets ein braver Bürger und Familienvater war er gewesen. Nie mit den Direktiven der Moral und des Anstandes in Konflikt geraten. Streng aber gerecht zu sich und anderen.
Schwer atmend erhob sich Melwin aus seinem Stuhl und wandelte wie in Trance in die Küche. Vielleicht konnte ein Baldriantee ihn beruhigen? Ihm die Bilder und Empfindungen ausblenden oder zumindest mildern?
Wie hatte das nur geschehen können? Wie ein wildes Tier hatte er sich benommen, animalisch und ohne jede Hemmung. Herrlich. Er schämte sich zwar, aber diese Triebhaftigkeit bestimmte trotzdem weiter sein Denken.
"Ich muss mich ablenken", ermahnte sich der Professor, "sonst verliere ich alles, was ich mir im Leben aufgebaut habe!"
Die Familie, Frau und Tochter, das zählte! Er ließ den Tee stehen und ging ins Zimmer seiner Tochter. Ja, sie lag ruhig auf ihrem Bett und nutzte den Kommunikator der Wohneinheit, um ihr heutiges Wissenspensum über das Kontrollgerät im Nacken aufzunehmen.
Sie wirkte so unheimlich konzentriert. Der Professor war stolz auf seine Tochter. Wenn sie weiter so gut lernte, würde er sie später einmal im Amt auf gehobenem Posten unterbringen können. Das Amt für Ethik und Bürgerpflicht brauchte guten Nachwuchs, um mit den Abweichlern in der Gesellschaft aufzuräumen.
Ja, die Pflicht. Er konnte sich auch nicht ausruhen, denn es gab noch so viel zu tun. Seine Frau außer Haus, die Tochter fleißig beim Lernen. Solche Zeiten im Haus musste man nutzen. Sich selbst nützlich machen, für die Gesellschaft und die Zukunft der Menschheit.
Wieder nahm er Platz und schaltete die Kontrolleinheit im Nacken ein. Übermorgen würde er im Amt einen Vortrag halten. Dann musste er sich einen Überblick über die Aktivitäten im Netzwerk verschafft haben, um eine gangbare Strategie ausarbeiten zu können, die den Auswüchsen dieses Netzwerkes einen Riegel vorschob.
"Hallo, ich habe auf dich gewartet", hörte er wieder die Stimme der jungen Schönheit, versuchend, ihn verlockend. Eigentlich unabsichtlich war er wieder im Kennenlernraum gelandet. Entsetzt musste er wahrnehmen, wie anzüglich ihn Lara nun betrachtete. Als hätte er ihr die Unschuld geraubt, die er doch so bewunderte.
"Darf ich mich entschuldigen für vorhin. Ich habe mich ungehörig verhalten…"
Sie hörte nicht wirklich zu und umrundete ihn. Dabei ließ sie ihre langen, zarten Finger über sensible Zonen seines Körpers streichen. Das ging wirklich zu weit!
"Hör auf, ich will das nicht!"
Sie lachte schrill auf und begann ihn mit ihren dunklen Augen anzufunkeln. Mit eindeutigen Berührungen und Gesten begann sie ihn weiter zu umgarnen. Ohne Erfolg.
"Du bist wohl in der Realität ein verklemmter Schlappschwanz, der seiner Frau den Moralapostel vorspielt und hier sie Sau 'raus lässt!"
Musste er sich das sagen lassen? Von einer solchen verdorbenen Göre? Schließlich hatte er im Geiste der Moral sein ganzes Leben geopfert. Hatte sich nie Freude gegönnt, sondern immer nur versucht, die Mitbürger auf den richtigen Pfad zu leiten.
"Lass mich in Ruhe, sonst..."
"Sonst? Beginnst Du dann zu predigen? Du armer Wicht!"
Einem inneren Impuls folgend, packte er sie und riss sie zu Boden. Dann warf er sich auf sie und begann sie zu schlagen. "Du Hure", rief er immer wieder und zog damit sogar die Aufmerksamkeit des Pärchens mit dem Außerirdischen auf sich. Doch anders als in der Realität, stimulierte ihn dies hier noch mehr. Der Genuss an der Macht über den Körper des Mädchens steigerte sein Verlangen. Er fühlte ihren zarten Körper, die junge Haut und ihre Widerspenstigkeit, die sich bald in lustvolles Beben wandelte.

Ein langer Abend im Dienste der Moral ging zu Ende. Natürlich blieb ein bisschen schlechtes Gewissen nicht aus. Aber nun zurück in der Realität sah er vieles klarer. Wenn er die Strukturen dieser abartigen Welt aufbrechen wollte, dann musste er wahrlich hinter die Kulissen dieser Szene blicken. Und das hatte er getan, nicht mehr und nicht weniger.
Melwin erhob sich nun, um schlafen zu gehen. Seine Frau weilte immer noch im Verwöhn-Zentrum, also hatte er gut daran getan, sich an diesem Abend der Arbeit zu widmen. Auch wenn sich manches doch aufwühlender gestaltet hatte als zuvor gedacht.
Durch den Türspalt sah er auf dem Weg ins Schlafzimmer die noch immer fleißig lernende Tochter auf ihrem Bett liegen. Sogar Schweißperlen erkannte er schon auf ihrer Stirn. Das konnte er nicht mehr mit ansehen.
"Lernprogramm beenden!" befahl er dem Kommunikator des Hauses. Genug war genug. Gabriele konnte auch morgen noch weiter lernen. Klugheit gehörte zu ihren Tugenden, daher lag wohl eine Erfolg versprechende Karriere im Amt vor ihr.
"Es ist kein Lernprogramm aktiviert", meinte der Kommunikator jedoch überraschend. "Es muss Gabriele gelungen sein, sich in eines der Netzwerke einzuschleusen."

ENDE


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