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DAS VERLORENE TIER

von Susanne Stahr



Der bittere Zug um Brebas' Mund vertiefte sich als er seinen kleinen Bruder Niut mit einem Adler auf dem Arm auf den Anger von Vestralp, des Dorfs der Vogelmenschen, wanken sah. Das Gesicht des Elfjährigen war schweißüberströmt und vor Anstrengung verzerrt. Doch aus seinen Augen leuchtete Triumph.
Bald hatte sich eine Menschenmenge um ihn versammelt. Von allen Seiten waren anerkennende Worte zu hören.
Zuchilo, der N'Guru von Vestralp, nahm dem Jungen den Adler ab und warf ihn in die Luft.
"Mein N'Peko!", schrie Niut. Seine helle Kinderstimme klang krächzend vor Erschöpfung. Sekunden später schwang sich ein zweiter Adler empor, kleiner, schwächer. Nach ein paar torkelnden Runden landete er, nahm wieder menschliche Gestalt an und sank zu Boden.
"Niut, der Adler", verkündete Zuchilo und half dem Jungen auf die Beine. "Mögen die Winde dich tragen und der Große Alte dich schützen!" Der N'Peko-Zauber bekräftigte diese Worte.
Mit diesen Worten war Niut zu einem vollwertigen N'Dozo geworden. Die Dörfler wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Lohut, Brebas' und Niuts Vater, führte seinen Jüngsten stolz zum Wohnbaum der Familie.
Brebas blieb allein zurück. Seine Mutter würde nun ein Festmahl richten. Tief in seinem Inneren fühlte der junge Mann einen heftigen Schmerz. Nein, es war nicht Neid. Er liebte seinen Bruder wie er auch seine drei Schwestern liebte und gönnte ihm sein Glück. Der bohrende Schmerz kam von der Frage: Wann würde er endlich seinen Vertrauten finden? Brebas, das Eichhörnchen, spotteten seine Freunde, weil er so gut klettern konnte. Das schmerzte.
Für gewöhnlich begegnete ein N'Dozo dem Tier, in das er sich von diesem Tag an verwandeln konnte, zwischen seinem zehnten und fünfzehnten Jahr. Brebas hatte nun schon zwanzig Winter erlebt und noch immer wartete er auf seinen Vertrauten. Er wusste, dass hinter seinem Rücken von dem Verlorenen Tier getuschelt wurde. Je länger Brebas auf das Auftauchen seines Vertrauten wartete, umso mehr verfestigte sich in ihm der Gedanke, dass es nichts Anderes sein konnte.
Das Verlorene Tier! Niemand konnte Genaueres darüber sagen. Sieben Vögel wurden zu N'Pekos, Vertrauten der Vogelmenschen: Rabe, Krähe, Falke, Adler, Habicht, Uhu und Eule. So wurde es seit Äonen gelehrt. Doch im Medizinhaus gab es acht Nischen. In jeder stand eine Steinfigur eines N'Pekos, nur die achte war leer, für das Verlorene Tier.
Gesenkten Kopfes, sodass das lange, schwarze Haar fast das fein gezeichnete Gesicht verbarg, trottete Brebas zum Rand des Dorfs, wo das Medizinhaus stand, die einzige auf den Boden gebaute Hütte. Er stellte sich in die Mitte des Raumes und drehte sich um seine Achse. Die N'Pekos starrten ihn mit ihren steinernen Augen stumm an. Keiner nannte ihn 'Bruder'. Dann blieb sein Blick an der leeren Nische hängen.
In jedem Lebensalter kam es mehrmals vor, dass ein Kind keinen Vertrauten fand. Spätestens mit fünfundzwanzig Jahren musste er Vestralp verlassen, auf der Suche nach dem Verlorenen Tier. Keiner war je wieder aufgetaucht. Auch Brebas' Onkel Gues hatte dieses Schicksal ereilt. Andererseits wurde immer wieder ein erschöpfter Fremder zwischen den Wohnbäumen gefunden, der einen Vertrauten bei sich hatte. Nach einer ausgedehnten Zeremonie wurde er unter die N'Dozo aufgenommen. Brebas kannte zwei Männer und eine Frau, die auf diese Weise Mitglieder der kleinen Gemeinschaft geworden waren. Sie alle nannten den Süden ihre Heimat, die Wilden Berge. Von ihrem vorherigen Leben sprachen sie jedoch kein Wort.
Auf ein leises Geräusch drehte sich Brebas um. Vor ihm stand Zuchilo.
"Ich werde nach Niuts N'Peko-Fest gehen", sagte der junge Mann. Eine eiserne Klammer legte sich bei diesen Worten um sein Herz. Er konnte nicht verhindern, dass ein schmales Gesicht vor seinem geistigen Auge auftauchte. Jernis, das Mädchen, das er liebte. Er würde sein Leben für sie geben. Er wusste, dass sie ihm zugetan war.
"Es tut mir Leid, Brebas", seufzte Zuchilo. "Du bist ein guter Junge." Er musste zu Brebas aufsehen, denn dieser war zwei Spannen größer als er, wenn auch sein Körper feingliedriger gebaut war als der des alten Mannes. Auch Zuchilos Augen waren grün, eine seltene Farbe unter den N'Dozo. Die meisten Menschen hatten gelbe oder braune Augen.
Wider alle Vernunft behauptete Brebas: "Ich werde zurück kehren. Wirst du mich dann unterrichten?"
Zuchilo seufzte wieder. "Noch habe ich keinen Schüler gewählt. Wenn du aber zurück kehrst, wirst du eingeweiht", versprach er. Doch es klang nur halbherzig. Dann klopfte er dem jungen Mann begütigend auf die Schulter. "Wenn ich noch etwas für dich tun kann .."
"Ein Traumritual!", stieß Brebas hervor.
Zuchilos gelbe Zähne nagten an seiner runzligen Unterlippe. "Nun, wenn du es willst", meinte er. "Aber ich warne dich ..."
"Ja, ja, ich weiß", unterbrach ihn der junge Mann ungeduldig. "Es mag sein, dass ich mich im Traum verliere. Was macht es aus, ob ich in einem Traum bleibe oder in den Bergen sterbe? Ich bin so oder so tot. Ein Traum ist meine einzige Chance, etwas über das Verlorene Tier zu erfahren."
"Du willst es und ich werde tun, was ich kann." Glücklich klang das nicht.
Mit einer respektvollen Verbeugung verließ Brebas das Medizinhaus und strebte dem Baumhaus seiner Familie zu. Frustriert sah er zu wie seine Schwestern als Krähen durchs Geäst zur Tür flogen.
"Ich werde das auch bald können", quetschte er leise zwischen den Zähnen durch und kletterte behände zur Haustür.

Zuchilo hatte das Traumritual vier Tage nach Niuts N'Peko-Feier angesetzt, damit Brebas sich würdig vorbereiten konnte. Es waren viele Gebete zu sprechen und er durfte in diesen Tagen kein Fleisch zu sich nehmen.
Am Morgen des vierten Tages nahm er seine Schlafrolle unter den Arm und schwang sich hinunter ins Gras. Ein kleiner Vogelschwarm umringte ihn, ein Habicht, drei Krähen, eine Eule, ein Adler. Wenig später stand er im Kreis seiner Familie.
"Ich gehe nach dem Ritual", sagte Brebas.
Seine Geschwister starrten ihn nur an. Andret, seine ältere Schwester, biss sich auf die Lippen. Wie oft hatte sie ihn gehänselt, weil er keinen Vertrauten hatte. Brebas konnte sehen, dass es ihr jetzt Leid tat.
Lohut scharrte mit den Füßen im Gras und umarmte ihn dann unbeholfen. "Ich wünsche dir Glück, mein Sohn", brummte er heiser. "Hinter den Bergen soll es Dörfer geben ..." Er fuhr sich durchs Haar und Brebas sah mit erschreckender Deutlichkeit die grauen Strähnen.
Geschäftig reichte ihm seine Mutter einen prallen Rucksack. "Du wirst drei Tage nicht jagen müssen", erklärte sie. "Warme Kleidung hab ich dir auch eingepackt." Schluchzend schlang sie die Arme um ihn.
Brebas schluckte. "Ich werde zurück kehren", sagte er so fest als er konnte. Dann ging er, über einer Schulter den Köcher, über der anderen den Riemen seines Rucksacks, den Bogen in der Linken. Am Gürtel seines fast knielangen Kilts hing sein Obsidian-Messer. War er wirklich gerüstet für die Reise durch die Wilden Berge? Wenn er fliegen könnte, wäre es leichter! Aber dann müsste er ja gar nicht gehen.
Auf dem Weg zum Medizinhaus machte er einen Umweg zur Große Weide. Er wusste, dass Jernis dort die Schafe hütete.
Brebas fand sie unter einem Baum. Wie immer blieb ihm bei ihrem Anblick zuerst einmal die Luft weg. Gelbe Augen, braunes, glattes Haar und ein scharf geschnittenes Gesicht.
"Du gehst", stellte sie mit unsicherer Stimme fest.
Er nickte, noch immer sprachlos. Jede Faser seines Körpers sehnte sich danach, sie zu umarmen.
"Es tut mir Leid, Brebas." Sie zuckte mit den Schultern.
"Ich komme wieder", brachte er endlich heraus. "Wirst du auf mich warten?"
Eine Weile starrte sie ihn an. Dann murmelte sie: "Du glaubst tatsächlich daran."
Er antwortete nicht. Unverwandt sah er sie an.
"Einen Winter." Jernis hob einen Zeigefinger hoch. "Ich warte einen Winter auf dich, Brebas. Und wenn du dann ein N'Dozo bist, gehöre ich dir."
"Drei Winter", versuchte Brebas zu handeln. Ein einziger Winter kam ihm verdammt knapp vor. Jetzt war Hochsommer. Jernis ließ ihm nicht einmal ein ganzes Jahr Zeit.
"Ein Winter", blieb das Mädchen hart und schwang sich als Falke in den Sommermorgen.
"Dann muss ich es eben in einem Winter schaffen", rief er ihr nach und ging steif auf die Medizinhütte zu.
Zuchilo erwartete ihn in seinem zeremoniellen Federmantel. "Tritt ein, Suchender", schnarrte er und schob den Türvorhang zur Seite.
In der Mitte des Raumes war ein weiches Lager aus Schaffellen bereitet. Brebas entledigte sich neben der Tür seiner Habseligkeiten, auch seiner Kleidung.
Nun reichte ihm der N'Guru einen Becher. "Trink schnell", riet er. "Es schmeckt nicht sehr gut."
Zögernd setzte Brebas den Becher an die Lippen und schüttete dann das Zeug mit einem Ruck hinunter. Zuchilo hatte die Wahrheit gesprochen. Es schmeckte scheußlich. Eine Gänsehaut jagte über sein Rückgrat und ließ ihn schwanken. Der N'Guru führte ihn zu dem Lager. Sobald er sich ausgestreckt hatte, breitete Zuchilo einige Felle über ihn.
Leise begann der alte Mann zu singen. Dazu führte er komplizierte Tanzschritte aus. Die Rasseln an seinen Fußgelenken schlugen den Takt dazu.
Brebas fixierte den Blick auf den Federfächer an der Decke der Medizinhütte. Eine Feder von jedem N'Peko. Die Gänsehaut wandelte sich in eine Armee von Ameisen und der Fächer begann zu rotieren.
Zuchilos Gesang wurde lauter und schneller. Die Rasseln dröhnten in Brebas' Ohren. In der Mitte des Fächers öffnete sich ein schwarzes Loch, das rasch größer wurde. Unaufhaltsam wurde der junge Mann hinein gezogen. Eine übermenschliche Kraft zog ihn nach Süden.
Schwärze legte sich wie eine kühle Decke um ihn. Er stand auf einem freien Platz der von hohen Zacken umgeben war. Nein, das waren Häuser mit spitzen Dächern, erkannte er. Vorerst umgab ihn Stille. Doch jetzt wurde sie von einem Geräusch durchbrochen, das wie das Weinen eines Kleinkindes klang. Vor ihm, auf dem Dach einer Hütte, nahm er eine Bewegung wahr. Grüne Augen starrten ihn an. Dann schoss ein schwarzer Schatten an ihm vorbei und verschwand in der Finsternis.
Die Hütten rückten näher an ihn heran und drehten sich in einem grotesken Tanz. Brebas wollte aus dem Kreis ausbrechen, konnte aber kein Glied rühren. Panische Angst ergriff ihn.
Da strich etwas Seidenweiches, Warmes an seinen Beinen vorbei. Dabei erklang ein eigentümlich kratzendes Geräusch. Zu seiner Überraschung schwand bei diesen Lauten seine Angst. Das musste das verlorene Tier sein! Vorsichtig beugte er sich hinunter und tastete mit der Hand nach dem Wesen. Da erfasste ihn eine mächtige Kraft und zog ihn weg. Fort aus diesem ungewöhnlichen Dorf, fort von dem Verlorenen Tier. Verzweifelt wehrte er sich dagegen.
"Brebas!" Eine knorrige Hand rüttelte an seiner Schulter.
Mühsam öffnete er die Augen. Zuchilos fleischige Nase war so nahe, dass sie fast die seine berührte. "Komm zu dir, Brebas!"
"Nein", flüsterte er heiser. "Lass mich zurück gehen. Ich habe das Verlorene Tier getroffen. Es wartet im Süden auf mich."
Zuchilo wich ein wenig zurück und setzte sich mit unterschlagenen Beinen vor Brebas' Lager. "Im Süden? Du auch? Wie sah es aus?", fragte er scharf.
"Ich weiß es nicht", musste Brebas zugeben. "Welcher Vogelruf klingt wie das Weinen eines Säuglings oder wie ein Raspeln? Das Gefieder ist weich wie Seide und die Augen sitzen nebeneinander im Kopf wie bei einer Eule, grüne Augen."
"Das ist mehr als dein Onkel Gues gesehen hat", war Zuchilos trockene Entgegnung.
Überrascht setzte sich Brebas auf. Sein Onkel Gues war für ihn nur eine schattenhafte Erinnerung. Als er Vestralp verließ, war Brebas erst fünf Winter alt gewesen.
"Was hat Gues gesehen?", forschte er.
"Nur Krallen. Fünf Krallen an einem Fuß, der wie eine winzige Hand geformt war", antwortete Zuchilo. "Der Traum muss ihn getäuscht haben. Kein Vogel hat fünf Krallen nebeneinander. Auch er wurde nach Süden gewiesen, wie alle vor und nach ihm."
"Glaubst du, dass mich der Traum auch getäuscht hat?"
"Das kann ich nicht sagen." Zuchilo erhob sich. "Der Große Alte hat uns bisher das Verlorene Tier nicht enthüllt."
Seufzend kam auch Brebas auf die Beine und ging zum Fluss um sich zu waschen. Dann legte er seinen Kilt und ein kurzärmliges Hemd an, schlüpfte in seine Halbstiefel und hievte den Rucksack auf den Rücken. Zuletzt ergriff er seine Waffen.
"Der Große Alte möge dich beschützen", betete Zuchilo und ließ seinen Federumhang zu Boden gleiten.
Brebas verbeugte sich noch einmal. Dann schritt er in den Wald hinein. Einen endlosen Moment kämpfte er gegen den Wunsch, Jernis noch einmal zu sehen. Ich komme zurück, sagte er sich immer wieder vor. Dann wird alles gut.
Festen Schrittes folgte er dem Trampelpfad nach Süden. Die Sonne stand schon hoch. In zwei Stunden würde sie im Zenit stehen. Bis zum Abend wollte er die Ausläufer der Berge erreicht haben.
Er war noch nicht weit gekommen, da vertrat ihm eine schmale Gestalt den Weg. Das war doch Gaina, die Tochter Somirs, der mit seiner Familie den Nachbarbaum gewohnte. Nein, korrigierte er sich in Gedanken, nur die Tochter Somirs. Er hatte keine Nachbarn mehr. Das Mädchen hielt einen kurzen Speer in der Hand.
"Bist du auf der Jagd, Gaina?", fragte er freundlich. "Hinter den Haselbüschen wohnen Kaninchen."
"Nein." Sie schüttelte heftig den Kopf, dass ihre braunen Locken flogen. "Ich gehe mit dir."
"Aber, Gaina", begann er und wurde sofort von ihr unterbrochen.
"Das Verlorene Tier ist auch mein Vertrauter. Zu zweit haben wir bessere Chancen zu überleben. Ich bin stark im Kampf und listig auf der Jagd."
"Dein Vertrauter kann jeden Tag zu dir kommen", widersprach er. "Du bist doch erst vierzehn ...."
"Sechzehn", korrigierte sie wütend. "Ich bin kein Kind mehr!"
"Nun gut, dann eben sechzehn." Tatsächlich, aus dem mageren Kind war eine junge Frau geworden. Ihre Bluse bauschte sich an den richtigen Stellen und die Hüften rundeten sich. "Trotzdem kannst du noch leicht einen Vertrauten unter den Sieben finden. Roxo, der Uhu, war fast neunzehn."
"Nein, ich weiß, dass es das Verlorene Tier ist", beharrte sie trotzig. "Ich habe es geträumt. Nimm mich bitte mit, Brebas. Ich hab solche Angst, allein weggehen zu müssen." Nun schniefte sie und Tränen füllten ihre dunklen Augen. Plötzlich sprang sie auf ihn zu und klammerte sich mit verzweifelter Kraft an ihn. "Du musst mich mitnehmen, ich lasse dich nicht mehr los."
Brebas fühlte den hastigen Bindezauber und wehrte ihn ab. "Geh nach Hause, Gaina", sagte er sanft und ließ nun seinerseits einen Beruhigungszauber über das Mädchen fließen. "Du hast noch neun Winter Zeit. Bis dahin bin ich sicher zurück mit dem Verlorenen Tier."
"Bis dahin bist du längst tot", widersprach sie, ließ aber seinen Arm los.
"Nein, sicher nicht." Er hauchte einen Kuss auf ihre Wange und genoss dabei ihren frischen Geruch.
"Hast du gar keine Angst?", fragte sie, schon halb im Gehen.
"Jetzt noch nicht", antwortete er. "Das hebe ich mir für später aus, wenn's wirklich gefährlich wird."
Nun musste sie sogar lächeln. "Wenn du nicht zurück kommst, werde ich dich verprügeln", versprach sie völlig unlogisch. Dann ging sie gesenkten Kopfes zurück nach Vestralp.
Arme Gaina!, dachte er. Wenn sie nicht bald ihren Vertrauten fand, erging es ihr wie ihm. War sie für das Leben in den Wilden Bergen geschaffen? Er fürchtete, sie war es nicht.
Kräftig schritt er den Trampelpfad entlang. Noch kannte er den Wald von früheren Jagdausflügen oder dem Sammeln von Beeren und Nüssen. Einige Bäume trugen bereits reife Früchte. Brebas aß davon im Vorbeigehen, denn er wollte den Vorrat, den ihm seine Mutter mitgegeben hatte, so lange als möglich aufsparen.
Als er an der Tellerlichtung vorbeikam, sah er nach den Walderdbeeren, die dort wuchsen. Die Früchte waren dort immer besonders groß, weil eine kleine Quelle sie stets mit genügend Feuchtigkeit versorgte. Er aß und trank sich satt. Dann überschritt er die Grenze zum Unbekannten. In seinem Herzen dehnte sich ein unsichtbares Band und riss schmerzhaft mit einem lautlosen Knall.

Wie nicht anders erwartet, präsentierte sich der Wald hier auch nicht anders als um Vestralp. Großteils bestand er aus Laubbäumen, zwischen denen sich ab und zu eine Fichte behauptete. Natürlich musste er hier wachsamer sein als sonst. Dann würde schon alles gut gehen. Und was geschah mit denen, die vor dir Vestralp verlassen haben?, fragte eine kleine, böse Stimme in seinem Hinterkopf. Brebas ignorierte sie und ging weiter.
Als es dunkelte, hatte er sich den Wilden Bergen zwar genähert, aber die Ausläufer lagen noch weit vor ihm. Da hatte er sich wohl verschätzt.
Müde wählte er einen Baum zum Übernachten. In den oberen Ästen fand er eine alte Plattform, die er nur ein wenig ausbessern musste, um sie für ein Nachtlager tauglich zu machen. Das erste Zeichen seiner Vorgänger.
Fünf Fuß über der Erde machte er es sich gemütlich und packte endlich seinen Rucksack aus. Gute Mutter! Sie hatte an alles gedacht. Neben einer großen Menge in Würfel gepresste Früchte, genannt Tubtan, und Trockenfleisch gab es auch einige Säckchen mit Heilkräutern. Da waren Kräuter gegen Husten, Fieber, zur Wundbehandlung und noch einige mehr. Drei Tage keine Jagd? Oh Mutter! Er würde mindestens zwei Wochen davon leben können, vielleicht sogar drei.
Für den Winter fand er neben seinem Mantel ein langärmliges Hemd, dicke Strümpfe und einen warmen Kilt. In der rechten Außentasche hatte sie einen Feuerstein, ein Nähzeug, eine Bogensehne und ein engmaschiges Tragnetz untergebracht. Die linke Seitentasche offenbarte ihm die Liebe seiner Mutter. Sie war voll geschälter Nüsse. Dankbar stopfte er sich eine Handvoll in den Mund und kaute genüsslich. Seine Gedanken wanderten zu Jernis. Würde sie auf ihn warten? Sie hatte es versprochen, einen Winter lang.
Sechs Tage brauchte Brebas um die Ausläufer der Wilden Berge zu erreichen. Zum Teil, weil er sich sehr vorsichtig vorwärts bewegte, zum Teil, weil er unterwegs jagte und sammelte. Die Lebensmittel in seinem Rucksack waren nach wie vor unberührt. Nur die Nüsse hatte er aufgegessen.
Das Gehen wurde beschwerlicher, da das Gelände streckenweise steil anstieg. Der Wald wurde lichter. Zwischen den Bäumen lagen oft große Felsbrocken. Zuerst wurden die Fichten häufiger, dann gesellte sich ein Nadelbaum dazu, den er noch nie gesehen hatte. Die Nadeln waren fast eine Spanne lang und das Harz hing in großen, klebrigen Krusten an der wie Plättchen geformten Rinde. Dazu strömte er einen Duft aus, der Brebas ein wenig an Mutters Hustensaft erinnerte. Das waren die Wilden Berge. Außer dem seltsamen Baum sah er aber keine große Veränderung. Es gab dasselbe Wild und auch von den schrecklichen Ungeheuern, die es hier geben sollte, hatte er noch nichts bemerkt. Trotzdem war er auf der Hut.
Brebas lernte bald, dass es leichter war, den Tälern zu folgen als die Berge übersteigen zu wollen. Es gab immer wieder Abzweigungen. So fiel es ihm nicht schwer, eine südliche Marschrichtung bei zu behalten.
Immer tiefer drang Brebas in die Berge ein. Das Gelände stieg immer mehr an und wurde streckenweise ziemlich steil. Dadurch kam er langsamer vorwärts. Die Tage vergingen mit Jagen, Sammeln und Wandern. Jeden Abend betete er zu dem Verlorenen Tier. Doch es kam keine Antwort.
Anfangs dachte er oft an Jernis. Was mochte sie gerade tun? Würde sie ihm treu bleiben? Dachte sie auch an ihn? Mit der Zeit verblasste ihr Bild in ihm und eines Tages konnte er sich ihre Gesichtszüge nicht mehr vorstellen. Das machte ihn traurig. Wieder war ein Teil seiner Heimat verloren gegangen. Schließlich konzentrierte er sich ganz auf sein unbekanntes N'Peko.
Wo sollte er das Verlorene Tier suchen? Vielleicht in einer Siedlung? Bis jetzt hatte er noch keine Anzeichen von der Anwesenheit anderer Menschen gefunden, abgesehen von einigen Schlafplattformen, die aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Leuten seines Stammes stammten.
Langsam wurde es kühler. Der Herbst zog ins Land. Die Blätter der Bäume und Sträucher leuchteten gelb und rot. Der Wald war eine reich gedeckte Tafel. Brebas hatte erst wenig von seinem Trockenfleisch gegessen und noch gar nichts von dem Tubtan.

Auf der Suche nach einem Pass kam Brebas in ein gewundenes Tal. Die Felswände ragten links und rechts steil empor und fast nur von den Bäumen mit den langen Nadeln bewachsen. Fast den ganzen Tag hatte es genieselt. Deshalb trug der junge Mann seinen Mantel. Vor einer halben Stunde war die Sonne durch die Wolken gebrochen. Da hatte er die Kapuze zurück gestreift. Die Luft roch nach feuchter Erde und frischem Gras. Brebas sog sie tief in seine Lungen.
Sein anfängliches Unbehagen gegenüber den Bergen hatte sich gelegt als er erkannte, dass der Wald sich hier kaum von seiner Heimat unterschied. So schritt er munter dahin, immer auf der Suche nach einer Abzweigung, denn dieses Tal führte ihn zu sehr nach Westen.
Eine hohe Felszinne versperrte ihm den Weg. Er musste durchs Gebüsch kriechen, um sie zu umrunden. Dahinter verbreiterte sich das Tal zu einem idyllischen Kessel. Hier ging es nicht mehr weiter. Er würde umkehren müssen.
Nicht mehr heute, entschied er. Es würde bald dunkeln. So suchte er sich einen Schlafbaum. In den kräftigen Ästen fand er die Überreste einer Plattform. Also war auch hier schon einmal ein Vestralper gewesen. Es musste schon sehr lange her sein, denn die Reparatur der Plattform dauerte fast so lange wie der Bau einer neuen. Als er endlich fertig war, legte er sich probeweise darauf und erstarrte. Über ihm hingen die zerfetzten Überreste eines Rucksacks. Daneben hing ein brüchiger Bogen nebst Köcher mit Pfeilen. Was war aus seinem Besitzer geworden? Ein Unfall vielleicht?
Der Bogen war unbrauchbar, das sah Brebas auf einen Blick. Doch als er die Pfeile aus dem Köcher zog, sah er, dass bei einigen der Harzüberzug unbeschädigt war. Die konnte er noch verwenden. Der Rest war hoffnungslos verbogen. So nahm er die Obsidian-Spitzen ab und steckte sie in seinen Rucksack.
Der Talkessel war eine einzige bunte Wiese. Kein Lüftchen regte sich. Die untergehende Herbstsonne ließ die Bergspitzen rot glühen. Das halbe Tal lag bereits im Schatten und die dunkle Linie wanderte schnell weiter. Die Natur atmete Ruhe und Frieden.
Hier könnte ich einige Tage ausruhen, überlegte er. Zuerst musste er aber sehen, ob es nicht vielleicht doch einen Weg nach Süden gab. Behände kletterte er hinunter auf den Boden und schlenderte durch den Kessel, den Blick auf die umgebenden Berge gerichtet. Seine scharfen, dunklen Augen suchten nach einem Pfad.
Da stieß sein Fuß gegen etwas Hartes. "Schon wieder ein Stein", murmelte er ärgerlich und sah nach unten. Erschrocken schlug er die Hand vor den Mund. Was er für einen Stein gehalten hatte, war in Wahrheit ein menschlicher Schädel. Nun sah er auch den Rest des Skeletts. Der Mann hatte im Tod die Beine angezogen. Eine Hand lag noch auf einem Oberschenkelknochen. Jetzt war das Rätsel der Plattform gelöst.
Brebas kniete sich ins Gras. Wer war das? Vielleicht sein Onkel Gues? Woran war der Mann gestorben? Vielleicht gab es hier Bären? Nein. Ein Bär hätte ihn gefressen und dabei das Skelett auseinander gerissen.
Da brach sich das letzte Licht der Sonne auf etwas, das im Oberschenkelknochen stak. Eine Pfeilspitze aus einem ihm unbekannten, rötlich-grauen Stein. Scheu berührte er die Spitze und riss die Hand sofort mit einem Schmerzenslaut zurück. Kaltes Feuer hatte seine Haut verbrannt. Nein, die Haut war unversehrt und der Schmerz ließ auch schon nach. Aber sein Arm war bis zum Ellbogen taub. Er massierte ihn bis das Gefühl prickelnd wiederkehrte. Wenn schon eine leichte Berührung großen Schmerz und einen wenn auch vorübergehenden Kräfteverlust verursachte, was bewirkte dann eine Wunde?
Welch eine Waffe! Mit erheblichem Respekt betrachtete er die Pfeilspitze, die den Tod des Mannes verursacht haben musste. Schlagartig schwand das Gefühl der Sicherheit, das er bis jetzt hier empfunden hatte. Die Berge türmten sich bedrohlich über ihn. Der Wald wirkte feindselig. Hinter jedem Baum konnte ein Krieger mit so einem tödlichen Pfeil lauern.
Sollte er das Tal doch noch verlassen und ein anderes Nachtlager suchen? Nein. Eben versank die Sonne hinter einem Felsengrat und Dunkelheit breitete sich aus. Die kalten Himmelslichter schwiegen ihn an und der Schädel grinste.
Fröstelnd kletterte Brebas auf seinen Schlafbaum und wickelte sich in seinen Mantel. Seine Hand kribbelte immer noch. Wieder sandte er ein Gebet zu dem Verlorenen Tier und jetzt erhielt er Antwort. Grüne Augen in einem runden Kopf starrten ihn an. Dazu klang wieder dieses eigentümliche Raspeln. Da wusste er, dass er nahe an seinem Ziel war. Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Am nächsten Morgen überdachte er seine Lage. Irgendwo in dieser Gegend lebten Menschen mit einer tückischen Waffe. Und das Verlorene Tier hatte ihm geantwortet. Konnte es sein, dass das Verlorene Tier die Nähe der Menschen suchte wie es auch die Sieben taten?
Vorsichtig machte er sich auf die Suche nach einem anderen Weg aus dem Tal, auch wenn er über die Berge wandern musste. Im Südosten fand er dann auch tatsächlich eine Lücke zwischen den Bäumen, wo die Erde unnatürlich festgetreten war.
Vorsichtig machte er sich auf den Weg. Dabei achtete er sorgfältig darauf, keine Spuren zu hinterlassen.
Noch am selben Tag entdeckte er in einem von Bäumen abgeschirmten Winkel die Reste eines Lagers. Das Gras war nieder getreten und ein Häufchen kalter Asche zeugte von einem Feuer. Warum hatte der Fremde im Gras geschlafen? Es wäre leicht gewesen, eine Plattform zu bauen. Ein neues Rätsel.
Brebas schätzte, dass der Unbekannte am Morgen aufgebrochen war. Nun hatte die Sonne den Zenit bereits überschritten.
In welcher Richtung war er gegangen? Brebas' scharfes Auge entdeckte eine Fährte, die zu dem Pfad und dann nach Süden führte. Der Fremde war also vor ihm.
Er musste kleiner als Brebas sein, nach der Größe seiner Fußstapfen zu urteilen. Trotzdem bewegte sich der Vestralper jetzt noch vorsichtiger. Die tödliche Pfeilspitze hatte ihm gehörigen Respekt eingeflößt.
An diesem Abend suchte er seinen Schlafbaum besonders bedachtsam aus. Es war eine mächtige Ulme, die noch einen Großteil ihrer Blätter hatte, sodass er von unten nicht zu sehen war. Dennoch schlief er mit einem wachen Ohr.

Die nächste Feuerstelle fand er am Vormittag des folgenden Tages. Und sie war noch warm. Wie nahe war er dem Fremden gekommen?
Wieder hatte der Fremde auf dem Boden übernachtet. Diesmal nahm er auch Blutspuren und Haare eines Tieres wahr. Ein Jäger, stellte Brebas fest. Als er wenige Schritte von der Feuerstelle entfernt auf eine Stelle mit frischer, lockerer Erde stieß, überlegte er, ob der Jäger hier die Reste seiner Mahlzeit vergraben oder nur seine Notdurft verrichtet hatte. Prüfend stocherte er mit einem Ast in der lockeren Erde und förderte einen Kaninchenknochen zu Tage. Dann besah er die Fährte. Wieder führte sie nach Süden.
Jetzt verließ Brebas den Pfad und hielt sich mehrere Schritte rechts. Jede Deckung nutzte er aus und kletterte lieber über Felsen als sich durch Spuren im Waldboden zu verraten.
Von Zeit zu Zeit prüfte er die Spur des Fremden. Sie wurde immer frischer, was bedeutete, dass er langsam aufholte.
Das Gelände fiel nun auf der rechten Seite des Weges immer mehr ab und Brebas wechselte auf die linke Seite. Nur noch vereinzelt wuchsen hier Nadelbäume oder stachelige Büsche. Überall lagen große und kleine Felsbrocken, auch auf dem Weg. Das Laub deckte manche Steine zu, was einem unachtsamen Wanderer zur Falle werden konnte.
Da! Ein rumpelndes Geräusch! Brebas ging hinter einem Strauch in Deckung und spähte durch die Zweige. Links vorne rollten ein paar Steine den Abhang hinunter. Ein verhaltener Schreckenslaut ertönte. Das musste der Fremde sein.
Vorsichtig schlich Brebas zum nächsten Busch, den Boden vor jedem Schritt genau prüfend. Da erblickte er eine schlanke Gestalt auf dem Weg. Eine Frau, die in ein hemdartiges Gewand aus einem unbekannten Material gekleidet war. An den Füßen trug sie Schuhe aus demselben Stoff. Verwundert verglich Brebas seine Filzstiefel mit dieser Fußbekleidung. In der Hand hielt sie einen kleinen Bogen und legte eben einen Pfeil auf. Brebas konnte nicht sehen, ob die Spitze aus dem tödlichen Stein war, nahm es aber an.
Nun zielte sie ..... Ungläubig schüttelte er den Kopf. Sie zielte auf einen Baum! Neugierig schlich einige Schritte näher. Entsetzen und Abscheu ergriff ihn als er erkannte, worauf sie zielte. Es war eine Krähe, die sich auf dem Ast eines der Langnadelbäumen, wie Brebas sie bei sich nannte, nieder gelassen hatte. Welch ein Frevel!
Die Jägerin spannte den Bogen. Nein! Das konnte er nicht zulassen. Die Sieben waren heilig!
Mit einem erzürnten Schrei sprang er vorwärts. Die Jägerin schrak zusammen. Der Pfeil verließ die Sehne, stieg hoch in den Himmel und verschwand den Abhang hinunter. Die Krähe schrie auch und schwang sich in die Luft.
Blitzschnell fuhr die Frau herum. Brebas sah ein ebenmäßiges Gesicht, umrahmt von feuerrotem Haar. Erstaunen, Wut, dann Erschrecken zeichneten die Züge. Ihr Fuß war zwischen zwei Steine gerutscht. Der Bogen entfiel ihr. Mit den Armen rudernd kämpfte sie um ihr Gleichgewicht und verlor. Mit einem schrillen Schrei stürzte sie den Abhang hinunter, bis ein breiter Busch ihren Fall auffing. Reglos blieb sie liegen. Eine kleine Steinlawine folgte ihr.
Brebas wartete, bis das Geröll zur Ruhe gekommen war. Dann streifte er seinen Rucksack ab, ließ Bogen und Köcher fallen und kletterte vorsichtig zu der Frau hinunter. Ob sie tot war? Der Atem ging flach. Bewusstlos, aber nicht tot. Wer einen der Sieben tötete, hatte es verdient zu sterben. Blitzschnell zog er seinen Dolch. Ein Schnitt durch die Kehle und es war vorbei.
Plötzlich erklang in seinem Geist ein Fauchen. Scharfe Krallen schienen seine Hand zurück zu halten. Das Verlorene Tier, sein N'Peko, wollte nicht, dass er die Frau tötete. Seinem Vertrauten musste er gehorchen. Das war eins der heiligsten Gesetze der N'Dozo.
Nachdenklich betrachtete er die Reglose. Ein Bild blitzte in seinem Geist auf. Sie würde ihn zu dem Verlorenen Tier führen. Sein Blick glitt von dem stillen Gesicht über die sehnige Gestalt. Ihr rechter Fuß bildete einen unnatürlichen Winkel. Ausgerenkt. Auf ihrer Stirn wuchs eine große Beule. Systematisch suchte er nach weiteren Verletzungen, fand aber keine. Da nahm er sie hoch und trug sie hinauf zum Weg. Dort sammelte er seine Habseligkeiten wieder auf. Mit der Frau in den Armen arbeitete er sich querfeldein.
Jetzt galt es, einen sicheren Baum zu finden. Nadelbäume eigneten sich nicht zum Wohnen. Mühsam setzte er Fuß vor Fuß, immer in der Gefahr, ab zu rutschen.
Endlich fand er eine dicke Buche. Er legte die noch immer Bewusstlose ins Gras und baute eine Plattform. Darauf machte er es der Jägerin bequem.
An ihrem Gürtel hing ein Messer in einer hölzernen Scheide. Neugierig zog er es heraus. Die Klinge war aus einem fremdartigen, grauen Stein, gefährlich glänzend. Hier fehlten zwar die roten Sprenkeln, die er an der Pfeilspitze gesehen hatte, dennoch fühlte er, dass dies das tödliche Material war. Er schnitt die Scheide los und vergrub sie samt dem Messer unter der Buche.
Jetzt der Knöchel. Brebas tastete das Gelenk, das bereits angeschwollen war, ab. Eine schwache Hand tappte nach seinem Arm. "Was ....?", hauchte sie schwach.
"Dein Knöchel ist verrenkt", erklärte er, ohne sich umzudrehen. "Beiß die Zähne zusammen."
Verrenkungen hatte Brebas schon öfters gerichtet. Seine Mutter war eine Heilerin und hatte ihn einiges gelehrt. Ein rascher Griff, ein Ruck und der Fuß war wieder eingerenkt. Schreiend bäumte sie sich auf und fiel ohnmächtig zurück.
"Das war die Strafe dafür, dass du auf einen der heiligen Sieben gezielt hast", brummte Brebas und kramte in seinem Rucksack. Seine Mutter hatte ihm auch einen Tiegel mit Heilsalbe mit gegeben. Davon strich er auf den wunden Knöchel, wickelte große Blätter darum und fixierte den Fuß mit zwei dünnen Ästen. Auch auf die Beule brachte er ein wenig Salbe auf. Dann sprach er einen Heilzauber über die Bewusstlose.
Als Nächstes machte er sich daran, ihren Unterschlupf wetterfest zu machen. Es war stockdunkel als er endlich zufrieden war. Schnell aß er ein paar Paradiesäpfel, die er tagsüber unterwegs gesammelt hatte. Dann breitete er seinen Mantel über die Frau und sich selbst. Das Verlorene Tier schickte ein 'Rrrrr, rrrrr, rrrr' in seinen Geist während er in den Schlaf glitt.
Es zeigte sich, dass die Verletzungen der Jägerin doch ernster waren als es für Brebas vorerst ausgesehen hatte. Hohes Fieber ließ den Körper der Frau glühen als er am nächsten Morgen erwachte. Obwohl ihre Augen halb geöffnet waren, schien sie ihre Umgebung kaum wahr zu nehmen. Die Beule auf ihrer Stirn hatte sich bläulich verfärbt, ein scharfer Kontrast zu dem geröteten und schweißfeuchten Gesicht.
Als erstes kochte er Fiebertee für sie und flößte ihn ihr ein. Den aufgeweichten Tubtan spuckte sie aber aus. Nun kochte er seine letzten Streifen Trockenfleisch auf. Davon nahm sie nur wenig zu sich, aber immerhin. Zwei Tage fütterte er sie damit während ihr Geist in einer anderen Welt zu weilen schien. Er selbst ernährte sich von Tubtan.
Seine Vorräte schwanden dahin. Deshalb legte er Kaninchenfallen aus. Aber erst am dritten Tag hatte er Erfolg. Nun hatten sie frisches Fleisch und die Fremde aß ein wenig mehr. Immer noch fieberte sie und mehr als ein Murmeln kam nicht über ihre Lippen. Sie nahm Brebas Pflege hin, machte aber nicht auch nur den Versuch zu antworten. Auch ließ sie es ruhig geschehen, dass er sie an der Plattform festband, wenn er dieselbe verließ. Er hatte zwar Wände und ein Dach gegen die Witterung gebaut. Aber mit Vestralps Baumhäusern war dieser Unterschlupf nicht zu vergleichen.
Am vierten Morgen war die Hitze von ihr gewichen. Brebas war mit dem Zwitschern der Vögel erwacht während sie noch schlief. Schnell fixierte er sie auf ihrem Lager und kletterte hinunter auf den Boden. Diesmal fand er zwei Kaninchen in seinen Fallen. Zufrieden kehrte er zu seiner Buche zurück.
Die Frau war wach, sehr wach sogar. Er konnte sie von unten schimpfen hören und die Plattform schwankte. Hurtig erklomm er den Baum.
Zwei sehr klare, graue Augen blitzten ihn wütend an. "Wenn du mich anrührst, wird es dir Leid tun!", fauchte sie. Sie betonte die Worte anders als er es gewohnt war. "Mach mich sofort los!"
Brebas hing die Kaninchen an einen Ast und kniete sich neben sie. Sie fletschte die Zähne.
"Ich werde dir nichts tun", versprach er und löste die Bänder, die sie auf der Unterlage festhielten.
Sofort setzte sie sich auf, griff stöhnend nach ihrem Kopf und sank wieder zurück. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht.
"Dein Kopf hat einen bösen Schlag bekommen", erklärte er sanft. "Du musst dich ganz langsam aufsetzen."
"Ich bleibe lieber liegen", entschied sie. "Oh, Große Mutter! Ist mir übel!"
Er hielt ihr einen Becher mit Tee an die Lippen. "Trink das. Dann wird es besser."
Sie nahm ihm den Becher aus der Hand und trank. Brebas setzte sich neben ihr Lager und sah ihr zu. Nun entdeckte er feine Linien um ihre Augen und den Mund. Sicher war sie etliche Winter älter als er. Nach einer Weile hatte sie sich erholt. Auch die Farbe war in ihre Wangen zurück gekehrt.
"Warum hast du mich festgebunden?", wollte sie wissen. "Ich kenne dich nicht. Wer bist du? Aus welchem Dorf stammst du? Wo hast du mich hin gebracht? Warst du in Edfu? Hast du meine Leute verständigt? Wo sind meine Waffen?"
So viele Fragen prasselten auf Brebas nieder. Unsicher, welche Frage er zuerst beantworten sollte, schwieg er vorerst und überlegte. Diese Frau erschien ihm sehr selbstbewusst und befehlsgewohnt. Eine Aura von Autorität ging von ihr aus, der er sich nicht entziehen konnte. Es wäre nicht gut, sie zur Feindin zu haben. Hatte sie vergessen, welchen Anteil er an ihren Verletzungen hatte?
"Nun? Sprich!", unterbrach sie seine Gedanken ungeduldig. Ihre Hand tastete nach der Beule. "Welch ein Ei!", murmelte sie. Es ging ihr wohl doch so gut wie sie vorgab.
"Ich bin Brebas aus Vestralp", begann er.
"Von diesem Dorf habe ich noch nie gehört", wunderte sie sich.
"Es liegt viele Tagereisen entfernt von hier .....im Norden", antwortete er. Eine innere Stimme mahnte ihn zur Vorsicht. "Ich habe noch keine Dörfer gesehen seit ich Vestralp verlassen habe. Du hast einen Unfall gehabt. Deshalb habe ich dich in mein Lager gebracht. Und diese Bänder sollten nur verhindern, dass du hinunter fällst."
"Hinunter? Wohin hinunter?" Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen.
"Mein Haus befindet sich acht Fuß über dem Boden", erklärte er stolz. "Die Wände sind so dünn, weil ich nicht lange hier bleiben werde. Ich ...."
"Waaas?", fuhr sie auf und sank gleich wieder stöhnend zurück. Ihre Hände glitten über das Geflecht und blieben an einem dicken Ast hängen. "Heißt das, dass wir uns auf einem Baum befinden?"
"Auf einer schönen Buche", bestätigte er.
"Bist du verrückt?", schrie sie.
"Wo sollte ich denn sonst ein Lager machen?", verteidigte er sich. "Diese Buche ist ein idealer Wohnbaum, nicht schlechter als der Ahorn meiner Familie."
Noch mehr Misstrauen zog ihre Brauen zusammen. "Wo sind meine Waffen? Ich hatte Bogen, Pfeile und einen guten Dolch."
"Dein Messer habe ich unter dem Baum vergraben und dein Bogen ..."
"Spinnst du!?" Nun war sie wirklich wütend. "Dort rostet es doch! Bring es sofort her! Augenblicklich!"
Verdattert von diesem Wutausbruch gehorchte Brebas. Sie musste in ihrem Dorf eine wichtige Person sein. Eine Aura natürlicher Autorität umgab sie wie er es nur von Zuchilo kannte. Wenig später hielt sie das Gewünschte in Händen. Grummelnd wischte sie die feuchte Erde ab und zog das Messer aus der Scheide. Die Klinge glänzte makellos in hellem Grau.
"Warum sollte die Erde deinem Messer schaden? Was ist rosten?", fragte Brebas neugierig.
Wieder traf ihn ein nachdenklicher Blick, vermischt mit tiefem Misstrauen. "Rost entsteht, wenn das Eisen nass wird. Das zerstört eine gute Klinge. Deshalb muss sie immer geölt werden."
Ihr Tonfall wäre eher für ein Kind geeignet gewesen als für einen erwachsenen Mann, ärgerte sich Brebas. Nun erinnerte er sich auch an die rötlichen Flecken, die er an der tödlichen Pfeilspitze gesehen hatte. Diese Menschen waren ziemlich dumm, sich Messer und Pfeilspitzen aus einem derart anfälligen Stein zu machen. Stolz zog er sein eigenes Messer heraus.
"Das kann mir nicht passieren. Mein Dolch ist aus bestem Obsidian."
"Eisen ist besser als Stein", behauptete sie. "Sieh her!" Sie hielt das Messer senkrecht hoch und drückte mit einem Finger seitlich gegen die Spitze. Die Klinge bog sich ein wenig. "Eisen ist flexibel", grinste sie wölfisch. "Außerdem ist es die einzige Waffe gegen Dämonen."
"Dämonen? Was ist das?" In Brebas' Geist formte sich ein schreckliches Ungeheuer.
"Sie sehen aus wie Menschen, können aber die Berührung mit Eisen nicht ertragen", erklärte sie. "Du willst mir doch nicht weismachen, dass es in deinem Dorf keine Dämonen gibt."
"Ich habe noch nie davon gehört", beteuerte er. "Allerdings haben wir kein Eisen ...."
"Dann leben sie unerkannt unter euch." Wachsam musterte sie ihn. "Vielleicht bist du selbst ein Dämon."
"Ich?!" Ein Dämon musste ein böses Ungeheuer sein, so wie sie sprach. Nein, das konnte nicht auf ihn zutreffen. "Nein, ich bin ganz sicher ein Mensch", sagte er fest. Leider noch kein N'Dozo, fügte er in Gedanken hinzu.
"Das können wir leicht feststellen. Gib mir deine Hand!" Auffordernd streckte sie ihre Hand aus.
Zögernd hielt ihr Brebas den Zeigefinger hin und sie tippte mit der flachen Klinge dagegen. Wieder fuhr kaltes Feuer durch seine Hand bis in den Arm und er sprang mit einem Schmerzenslaut zurück. Sogleich begann er seinen Arm zu massieren, der Jägerin einen bitterbösen Blick zuwerfend.
"Dämon!", knurrte sie. "Komm mir nicht zu nahe! Was hast du mit mir vor? Willst du mich fett füttern für ein teuflisches Mahl oder opferst du mich deinen verruchten Götzen? Ich werde es dir nicht leicht machen!"
Gekränkt begann er ein Kaninchen zu häuten. Das lief nicht gut für ihn. Wie konnte er ihr Vertrauen erwerben? Sie war sein Weg zu seinem N'Peko. In Gedanken versunken bereitete er ein Mahl. Gebratenes Fleisch. Nüsse und klares Quellwasser. Schweigend aßen sie. Brebas hielt dabei seinen Blick gesenkt.
Den Rest des Tages verbrachte er mit Ausbesserungsarbeiten an seinem Haus, wobei er einen großen Bogen um sie machte. Dann kontrollierte er noch einmal seine Fallen. Sie waren alle leer. Dafür entdeckte er Brombeeren und Haselsträucher. Eine Bereicherung seines Speisezettels.
Die ganze Zeit dachte er darüber nach, wie er ihr Vertrauen gewinnen konnte. Wie er die Sache auch drehte, es fiel ihm nichts ein. So wartete er nach dem Abendessen bis sie sich auf ihrem Lager zusammenrollte. Er lauschte ihrem Atem und als er dachte, dass sie schliefe, betete er zu seinem unbekannten N'Peko.
"Hilf mir, N'Peko. Zeig mir den Weg zu dir", flüsterte er. "Ich habe die Frevlerin nicht getötet, weil du es nicht wolltest. Doch nun bin ich selbst in Gefahr. Sie hat eine teuflische Waffe. Vielleicht ersticht sie mich damit im Schlaf. Schütze mich, N'Peko. Ich danke dir."
Zwei grüne Augen starrten ihn an. Dazu erklang wieder dieses raspelnde Geräusch. Dann kamen die Augen näher und ein seidiges Köpfchen rieb sie an seiner Schulter. Alle Angst verließ ihn. Beruhigt legte er sich hin und schlief bald ein.
Neben ihm runzelte die Jägerin in der Dunkelheit die Stirn. Der Junge war ein Dämon, das war eine Tatsache. Aber sein Verhalten...? Konnte es sein, dass er sich so gut verstellte? Dämonen waren schlau. Sie legte eine Hand an den dicksten Ast, den sie erreichen konnte und sandte ein Gebet an die Große Erdmutter.
Zwei Tage vergingen, in denen sie kaum zehn Worte sprachen. Die Jägerin erholte sich nun schnell. Nur ihr Knöchel war noch steif und schmerzte, wenn Brebas frische Salbe auftrug. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
"Ich habe dir meinen Namen und meine Herkunft verraten", sagte er leise. "Von dir weiß ich aber nichts." Finster blickte er sie an.
Lange kam keine Antwort von ihr. Ihre Augen schienen in sein Innerstes dringen zu wollen während sie vorsichtig ihren Fuß bewegte.
"Ich bin Ancade .... von Edfu", sagte sie endlich. "Wie es aussieht, bin ich auf deine Hilfe angewiesen. Lass dir aber gesagt sein, dass mehr als ein Dorf hinter dir her sein wird, wenn ich nicht bald heim kehre."
An das hatte er noch gar nicht gedacht. Natürlich! Ihre Leute suchten sie vielleicht jetzt schon. Wie lange konnte es noch dauern, bis sie hier auftauchten? Er musste sie irgendwie überzeugen, dass er kein böser Dämon war.
"Warum nennst du mich einen Dämon?", fragte er. "Nur weil mein Körper die Berührung von Eisen nicht ertragen kann? Das ist doch kein Grund, einen Menschen zu hassen. Vielleicht reagiere ich nur deshalb so, weil ich Eisen nicht gewöhnt bin."
"Dämonen sind Geschöpfe des Bösen", dozierte sie. "Sie sind die Feinde der Erdmutter. Sie verwandeln sich in ein beliebiges Tier um ihr böses Werk zu verrichten. Dämonen verletzten die heiligsten Gesetze der Erdmutter. Ihre Gelüste überschreiten die Grenzen der Familie. Sie nehmen Tiergestalt an um sich mit diesen zu paaren und neue Dämonen zu zeugen. Das ist widernatürlich. Deshalb hassen wir sie. Gegen Dämonen hilft nur Eisen oder der Kuss der Erdmutter."
Brebas starrte sie mit offenem Mund an. Er konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Das einzig Wahre an ihrem Vortrag war, dass sich ein N'Dozo verwandeln konnte. Alles andere waren Gräuel, die keinem N'Dozo in den Sinn gekommen wären. Minutenlang rang er um Fassung..
"Das müssen andere Dämonen sein", stieß er endlich hervor. "Mein Volk ist nicht so. Dioxa gab sich selbst den Tod, weil sie Mosynes liebte, der ihr Cousin war."
Brebas erinnerte sich noch genau an den Tag als Dioxa als Adler hoch in den Himmel stieg und dann wie ein Stein zu Boden fiel. Mosynes starb bald danach im Kampf mit einer Bärin. Es wurde gemunkelt, er habe das Muttertier absichtlich gereizt.
"Und eine eheliche Gemeinschaft mit ihren N'Pekos?" Brebas schüttelte sich. "Die Großen Sieben sind das Heiligste unseres Volkes. Wir würden sie nie mit niederen Gelüsten besudeln." Wut und Abscheu ließ seine Hände zittern. Welch kranker Geist hatte sich solche Ungeheuerlichkeiten ausgedacht?!
Die grauen Augen Ancades musterten den jungen Mann lange und sorgfältig. Er hielt ihrem forschenden Blick stand, denn er war überzeugt, dass ihr seine ehrliche Entrüstung nicht entgangen sein konnte.
"Nun brauchst du nur noch zu behaupten, dass ihr euch nicht verwandeln könnt und die Erdmutter verehrt", brummte sie trocken.
"Nur ein N'Dozo kann sich verwandeln, in die Gestalt seines N'Peko. Von der Erdmutter habe ich noch nie gehört. Doch wenn sie deinem Volk heilig ist, will auch ich ihr Respekt zollen."
"Was sind Nenpekos und Nendozos?" Ihre Zunge konnte die Worte nicht richtig aussprechen.
"Ein N'Peko kann nur einer der Großen Sieben werden." Oder das Verlorene Tier, fügte er in Gedanken hinzu. "Ein N'Dozo wird man, wenn man seinem N'Peko begegnet. Dann kann man die Gestalt seines N'Peko annehmen. Der N'Peko ist der Vertraute, der seinem Schützling sein ganzes Leben lang beisteht und ihn vor Gefahren gewahrt. Er gibt auch Anweisungen, was man tun oder lassen soll. Ein Mensch ohne N'Peko ist nicht gut dran, weil er alles ganz allein entscheiden muss."
"Nun hast du dich verraten, Dämon Brebas", triumphierte sie. "Dein N'Peko stachelt dich zu Verbrechen an!" Drohend hob sie ihr Messer.
"Dann war es ein Verbrechen, dass ich dich nicht getötet habe", meinte er trocken.
Verwirrung und Unglauben malte sich in ihren Zügen. "Was meinst du damit?", fragte sie mit schief gelegtem Kopf.
"Ich wollte dich töten, aber mein N'Peko hielt mich zurück." Offen starrte er sie an. Er setzte alles auf eine Karte.
Als Erstes zischte sie wütend und drohte wieder mit dem Eisen. "Du wolltest mich töten, aber dein N'Peko verbot es dir? Das musst du mir erklären."
"Du wolltest eine Krähe töten, einen der Großen Sieben. Ein entsetzlicheres Verbrechen gibt es gar nicht", dozierte nun Brebas. "Aber mein N'Peko hielt mich zurück, weil du mich zu ihm führen sollst."
"Ach?" Sie grinste. "Du hast dein Nenpeko verloren und ich soll dir nur helfen es wieder zu finden, damit du mich danach verderben kannst? Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich da mitspiele. Wer ist denn dein Nenpeko? Die Krähe, die ich wegen dir verfehlt habe? Du bist entlarvt, Dämon! Krähen sind böse Tiere, weil sie die Saat von unseren Feldern fressen und wir müssen dann hungern."
"Nein, nein!", rief er. "So ist das nicht! Ich weiß nicht, was ein Feld ist. Wächst in eurem Wald nicht genug für euch? Könnt ihr nicht auf die Jagd gehen? Warum müsst ihr ein heiliges Tier töten um nicht zu hungern?"
"Du weißt nicht, was ein Feld ist? Habt ihr denn keine Felder, wo ihr Getreide anbaut?"
"Was ist Getreide?", fragte er unschuldig. "Wir sammeln, was der Wald uns schenkt und jagen."
"Das ist aber eine sehr unsichere Lebensweise", tadelte sie. "Ein Feld ist eine freie Fläche, die wir umgraben. Dort säen wir Getreidekörner und wenn das Korn reif ist, ernten wir es. Die Krähen fressen diese Körner. Wenn die Ernte zu gering ist, hungern wir im Winter. Deshalb schießen wir jede Krähe, die wir sehen."
"Das ist doch keine sichere Lebensweise", wunderte er sich. "Es ist doch klar, dass die Krähen sich die Körner holen, wenn ihr sie auf die Erde werft. Das ist ihre Natur. Der Wald gibt doch genug her für alle."
"Bei uns nicht", sagte sie bitter. "Auf Steinen wächst nichts. Wir müssen jedes Fleckchen Erde ausnützen, wenn wir überleben wollen. - Nun? War die Krähe dein Vertrauter?"
"Nein, es ist ganz anders."
Sie hatte alles falsch verstanden. Wie konnte er ihr nur klar machen, wie es wirklich war.
"Nun bin ich aber neugierig, wie du dich da heraus reden willst", feixte sie und lehnte sich erwartungsvoll zurück.
Ich werde von ganz vorne anfangen, dachte Brebas und holte tief Luft. "Das ist eine längere Geschichte."
"Nur zu. Ich höre."
"Ich musste mein Dorf verlassen, weil ich mein N'Peko noch nicht getroffen habe. Die meisten anderen Kinder finden ihren Vertrauten bis zu ihrem fünfzehnten Winter. Aber ich bin schon zwanzig Winter alt. Deshalb musste ich gehen. Mein N'Peko ist das Verlorene Tier. Niemand weiß, wie es aussieht. Auch ich habe es nur in Träumen gefühlt. Und seit einigen Tagen spricht es zu mir. Es muss hier irgendwo sein. Du kannst mir glauben, dass ich nur mein N'Peko finden will, damit ich heim fliegen kann." Und Jernis erringen, fügte er in Gedanken hinzu. Gleichzeitig stellte er überrascht fest, dass die Liebe mit weit weniger Heftigkeit in ihm brannte als er in Erinnerung hatte.
Ancade sah ihn aufmerksam an. "Du suchst einen Vogel?", überlegte sie. "Vielleicht eine Amsel oder ein Rotkehlchen?"
"Nein!" Nun musste Brebas sogar lachen. "Singvögel können nicht N'Peko werden. Die Großen Sieben sind Krähe, Rabe, Falke, Habicht, Uhu, Eule und Adler. Es muss einer sein, den es bei uns nicht gibt. Ich vermute einen Nachtvogel, weil er die Augen nebeneinander hat wie eine Eule. Seine Laute klingen wie das Weinen eines Säuglings, dann wieder wie ein Kratzen oder Raspeln."
"Ich kenne keinen Vogel, auf den dies zutrifft", erklärte sie bestimmt.
"Sein Gefieder ist seidenweich", fügte Brebas dennoch hinzu, aber sie schüttelte den Kopf.
"Welches Tier ist denn dein Vater?", forschte sie. "Vielleicht ist es ja auch dein Vogel."
"Nein, leider nicht", wehrte er ab. "Mein Vater ist eine Eule und meine Mutter ist ein Habicht, aber ...."
"Das ist ja noch abartiger als ich dachte!", rief sie aus. "Wie kann sich eine Eule mit einem Habicht paaren!? Dein Nenpeko muss ein Blendling aus diesen beiden Vögeln sein. Da wundert es mich nicht, dass du deinen Vertrauten nicht findest."
"Du hast schon wieder nicht verstanden", stellte er resigniert fest.
"Dann erkläre es mir."
"Meine Eltern sind Menschen. Mein Vater hat eine Eule als Vertrauten und kann sich in eine Eule verwandeln, so wie sich meine Mutter in einen Habicht verwandeln kann. Mein Bruder ist ein Adler, meine Schwestern aber sind alle drei Krähen. Es gibt keine einzige Familie in Vestralp, in der alle Mitglieder denselben N'Peko haben."
"Hm, hm", brummte sie. "Wie kommt dein Nenpeko darauf, dass ich dich zu ihm führen kann? Wenn du ihn nicht kennst, wie soll ich ihn kennen?"
"Vielleicht ...." Brebas spielte verlegen mit den Schnüren seiner Stiefel. "Vielleicht wohnt mein N'Peko in deinem Dorf?" Jetzt war es heraus, was er sich die ganze Zeit gedacht hast.
"Ach! Ich soll dich in mein Dorf bringen, damit du uns verhexen kannst?"
"Habe ich dich schon verhext?", fragte er ruhig.
"Nein, bis jetzt nicht."
"Du irrst", widersprach er ihr. "Ich habe einen Heilzauber angewandt. Deine Beule ist schon viel kleiner geworden und dein Fuß ist auch nicht mehr so geschwollen. Natürlich hat auch die Salbe von meiner Mutter geholfen." Er hatte kein gutes Gefühl, mit seiner Hilfsbereitschaft zu prahlen. Aber vielleicht konnte eine Erinnerung sie gewogen stimmen.
Ihre Hand tastete nach der Stirn. Dann bewegte sie ihren Fuß und nickte. "Ja, ich fühle mich besser. Nur weiß ich nicht, wie ich von diesem Baum kommen soll. Du kletterst wie eine Katze, aber ich habe mein Leben auf der Erde verbracht."
"Wo wohnst du denn dann?", fragte er verwundert.
"Natürlich in einem Haus", gab sie zurück und zögerte. "Gibt es in deinem Dorf nur solche Baumhäuser?"
"Ja", nickte er. "Nur das Haus der Heiligen Sieben steht auf der Erde. Es ist zu groß um auf einem Baum Platz zu haben. Willst du wirklich behaupten, dass du unten auf dem Boden wohnst? Das kann doch gefährlich sein, wenn ein wildes Tier nachts jagt."
"Wir haben eine Palisade, die uns schützt. Außerdem haben wir Hunde." Als sie sein verständnisloses Gesicht sah, erklärte sie: "Vierbeinige Tiere, die uns beschützen."
"So wie unsere N'Peko?", fragte er eifrig. "Dann verwandelt ihr euch in Hunde?"
"Nein!" Energisch schüttelte sie den Kopf. "Niemand kann sich bei uns verwandeln. Das können nur Dämonen. Sie werden Vögel oder ....." Stirnrunzelnd musterte sie ihn. "Katzen. Dein Vertrauter könnte eine Katze sein. Aber das ist kein Vogel."
Brebas war bei ihren Worten immer aufgeregter geworden. Doch nun malte sich Enttäuschung in seinen Zügen. "Kein Vogel? Dann kann es nicht eine Katze sein."
"Das Fell einer Katze ist seidenweich", fuhr Ancade unbeirrt fort. "Ihr Miauen kann man schon mit dem Weinen eines Kindes verwechseln. Auch sitzen ihre Augen neben einander in einem runden Kopf. Und ihr Schnurren, rrrrr, rrrrr, rrrrr. Klang es so?"
Widerwillig nickte er. Alles in ihm sträubte sich, zu glauben, dass ein Säugetier ein Vertrauter sein könnte. Das warf alles über den Haufen, das er gelernt hatte. Aber Ancade sagte doch ....
"Beschreibe mir eine ... Katze", bat er.
"Nun." Ancade legte die Stirn in Falten. "Eine Katze .... Kennst du einen Luchs?"
Brebas nickte.
"Eine Katze sieht wie ein Luchs aus, nur viel kleiner. Ihr Schwanz ist aber länger und sie hat keine Pinsel auf den Ohren. Sie frisst die Mäuse, die unsere Vorräte bedrohen."
"Dafür haben wir die Eulen", sagte Brebas automatisch. Er versuchte sich einen kleinen Luchs vorzustellen. Das sollte sein N'Peko sein? Er hatte immer schon die Geschmeidigkeit dieses Räubers bewundert. Aber als Vertrauten konnte er ihn sich nicht vorstellen.
"Ich muss meine Fallen nachsehen", erklärte er und kletterte hinunter auf den Boden. Es war ein Vorwand, denn er wollte nur allein sein. Inzwischen kannte er die Umgebung seines Wohnbaumes recht gut.
Zuerst ging er zu der Stelle, an der Ancade gestürzt war. Irgendwo hier musste ihr Bogen liegen. Er hatte schon einmal danach gesucht, aber nichts gefunden. Auch jetzt waren seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Nachdenklich setzte er sich am Rand des Pfades auf einen größeren Stein. Eine Katze .....
Ein Geräusch ließ ihn alarmiert aufhorchen. Waren das Stimmen? Lautlos verschmolz er mit dem Wald. Ja, hier kamen zwei Männer den Weg entlang. Sie waren ähnlich gekleidet wie Ancade. Einer war jung, etwa in Brebas' Alter, den anderen schätzte er in mittleren Jahren. Bewaffnet waren sie mit Bogen und Pfeilen. Auch trugen beide große Messer an den Hüften. Ab und zu sagte einer etwas. Brebas war zu weit weg um sie zu verstehen. Sorgenvoll sah er, dass sie sich seinem Wohnbaum näherten. Vorsichtig schlich er hinter ihnen her. Nun standen sie unter dem Baum und riefen etwas. Verdammt! Er hörte Ancade antworten. Dreimal verdammt!
Gespannt beobachtete die Männer. Das Gespräch dauerte einige Zeit. Dann verschwanden sie in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Brebas verfolgte sie ein Stück um sicher zu gehen, dass sie ihm nicht irgendwo auflauerten. Dann kehrte er in sein Haus zurück.
"Wer waren die Männer, mit denen du gesprochen hast?", fragte er gerade heraus.
Sie zuckte zusammen, fasste sich aber schnell. "Männer aus meinem Dorf", gab sie zu. "Sie haben mich gesucht und gefunden."
"Was hast du ihnen gesagt?"
"Dass es mir gut geht und sie nach Hause gehen sollen."
Brebas schüttelte den Kopf. "Sie werden mit mehr Männern kommen. Du bist eine wichtige Person. Dann werden sie dich holen. Und was werden sie mit mir machen? Töten sie mich?"
"Nein, das werde ich nicht zulassen", erklärte sie. "Ich habe auch nachgedacht. Du bist zwar ein Dämon, aber du hast mir auch geholfen. Du hättest sehr oft Gelegenheit gehabt, mich zu töten und hast es nicht getan. Ja, meine Männer werden wieder kommen und dann muss ich nach Edfu gehen. Wenn du dich unter den Schutz der Erdmutter stellst, wird dir nichts geschehen."
"Bist du sicher?" Der junge Mann traute dem Frieden nicht so recht.
"Mein Wort gilt", sagte sie schlicht. Ihre grauen Augen blickten ihn fest an und er glaubte ihr. "Du musst genau das tun, was ich dir jetzt sage." Dann erklärte sie ihm, wie er sich zu verhalten hatte.

Die Männer kamen am Vormittag des nächsten Tages. Diesmal waren es aber sechs. Die zwei vom Vortag waren auch dabei. Einer trug einen dicken Rucksack.
"Dürfen wir sprechen, Ehrwürdige?", rief der ältere Mann als sie sich um die Buche versammelt hatten.
"Sprich, Karnan", antwortete Ancade.
"Wir werden jetzt eine Leiter bauen, damit wir dich aus deinem Gefängnis holen können. Ist der Dämon bei dir?"
"Was ist eine Leiter?", fragte Brebas leise.
"Ein Gestell aus Holz, das das Klettern erleichtert", sagte sie schnell.
"Das ist nicht nötig. Ich trage dich hinunter. Du bist nicht schwer."
Sekundenlang überlegte sie. Dann rief sie hinunter: "Lass es sein, Karnan. Ich komme."
"Sie sollen zur Seite treten", raunte der junge Mann.
"Geht ein paar Schritte weg vom Stamm!", rief sie und die Männer gehorchten zögernd.
"Nun? Wie stellst du dir das jetzt vor?", fragte sie.
"Leg die Arme fest um meinen Hals."
Sie wollte der Anweisung nachkommen, doch er wich zurück. "Dein Messer. Wenn du mich damit berührst, verlässt mich die Kraft und wir stürzen ab."
Sie nickte ernst, nestelte die Scheide samt Messer von ihrem Gürtel und steckte sie unter ihre Kleidung. "Hier kann es dir nicht schaden. Das Leder meiner Tunika ist sehr fest."
"Leder?" Neugierig strich er mit einem Finger über den unteren Rand des Kleidungsstücks.
"Ich erkläre es dir später", drängte sie. "Jetzt will ich hinunter."
Brebas kletterte aus Rücksicht auf sie langsam und vorsichtig. Dennoch keuchte sie schon nach kurzer Zeit erschrocken und klammerte sich so fest an ihn, dass sie ihm fast die Luft abschnürte. Bald erreichten sie wohlbehalten den Boden.
Die Männer verbeugten sich tief vor Ancade und erhoben sich erst auf einen Wink von ihr. Brebas stand stocksteif neben ihr und hielt den Atem an. Sechs Augenpaare starrten ihn feindselig an. Sehnige Hände griffen nach dem Heft langer Messer.
"Das ist Brebas von Vestralp", stellte sie ihn ihren Männern vor. "Er ist ein Dämon. Dennoch steht er unter meinem Schutz." Damit warf sie ihm einen auffordernden Blick zu.
"Ich ...ich stelle mich u-unter d-d-den Schutz der Erdmutter", stotterte er.
"Habt ihr seine Worte gehört?", herrschte sie die kleine Gruppe an.
Die Männer stampften und scharrten unbehaglich. Der Vestralper wollte wieder auf den Baum klettern, aber Ancade hielt ihn zurück.
"Meine Sachen!", protestierte er. "Ich will nur meinen Rucksack holen."
"In Edfu wirst du alles bekommen, was du brauchst." Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Wieder beugte er sich ihrer Autorität.
."Vielleicht hat er dich verhext", wagte Karnan zu murmeln. Er schien in der Rangordnung Edfus nicht weit unter Ancade zu stehen.
"Er wird sich der Erdmutter ausliefern", beharrte sie kalt. "Wenn er das nicht tut, könnt ihr ihn haben."
Brebas sog entsetzt die Luft ein, doch sie nickte ihm beruhigend zu.
"Bindet ihm die Hände zusammen, wenn ihr euch dann sicherer fühlt", kam sie ihren Leuten noch mehr entgegen. Sofort sprangen zwei junge Männer auf ihn zu und rissen seine Arme nach hinten. Lederschnüre wanden sich um seine Handgelenke. Triumphierend nahm ihm einer sein Messer weg und steckte es in den Gürtel. Dann stießen sie ihn vorwärts. Zwei andere hatten eine geflochtene Trage ausgepackt. Darauf setzten sie Ancade.
"Du hast mich verraten", warf ihr der Vestralper bitter vor als er hinter ihr her stolperte.
"Ich habe dir mein Wort gegeben", entgegnete sie ruhig.
Da schwieg er und achtete nur darauf, dass ihm keiner der Männer zu nahe kam. Die Fesseln behinderten ihn. Deshalb geriet er oft in Gefahr zu fallen, was den Männern jedes Mal ein schadenfrohes Lachen entlockte. Er konnte ihren Hass fast körperlich spüren.
Um die Mittagszeit machten sie Rast. Sie aßen gebratenes Fleisch und etwas, das Ancade Brot nannte. Auf ihr Geheiß nahmen sie ihm die Fesseln ab und gaben ihm auch zu essen.
"Wir werden Edfu noch vor dem Abend erreichen", beantwortete sie Brebas' stumme Frage. "Hab keine Angst."
Brebas sah die verbissenen Mienen der Männer und fühlte sich in keiner Weise beruhigt. Hilf mir, N'Peko, betete er lautlos. Ein schläfriges Brummen antwortete ihm. Es wirkte zwar ein wenig beruhigend, nahm ihm aber nicht alle Angst.
In der Mitte des Nachmittags tauchte eine Mauer aus dünnen Baumstämmen vor ihnen auf. So etwas hatte Brebas noch nie gesehen. Wie konnten Bäume so eng wachsen? Wo waren die Äste, die Blätter? Als sie näher kamen, sah er dass die Stämme tot waren. Menschenhand hatte sie mit Lianen zusammen gebunden. Karnan holte ein dünnes Rohr hervor und blies hinein. Eine melodische Folge von Tönen erklang und hinter der hölzernen Wand antwortete ein anderes Rohr. Dann wich ein Teil der Umfriedung zurück und gab den Weg in die Siedlung frei.
Als Erstes wurde Ancade hinein getragen. Sie rutschte von der Trage, sobald sie das Dorf betreten hatte und griff nach Karnans Arm. Gestützt von ihm humpelte sie auf einen freien Platz in der Mitte des Dorfs. Brebas folgte ihr wie in Trance. Das war das Dorf, das er in seinem Traum gesehen hatte. Alle Hütten waren auf den Boden gebaut und hatten spitze Dächer. Wo war sein N'Peko?
Ein Tier, das ihn an einen kleinen Wolf erinnerte sprang bellend auf ihn zu. Ancade rief einen Befehl und das Tier wich zurück. Ein zweiter Befehl und es legte sich flach auf die Erde, den Blick auf die Frau gerichtet.
"Braver Hund!", sagte sie und beugte sich zu ihm hinunter um ihm über den Kopf zu streichen.
Das ist also ein Hund, stellte Brebas fest. Und was ist eine Katze? Sein Blick wanderte über die Häuser, aus denen nun die Bewohner traten. Es waren nur Erwachsene. Sie verstecken ihre Kinder, weil sie Angst vor mir haben, dachte er. Dann sah er, dass einige der Männer Stöcke oder Messer in den Händen hielten. Ihre finsteren Gesichter verhießen nichts Gutes. Panik stieg in ihm hoch. N'Peko, hilf mir!, betete er verzweifelt.
Wegen dir hab ich die Maus nicht gekriegt , kam das erste Mal eine deutlich verständliche Botschaft. M ch dir keine Sorgen.
Ancade griff nun mit der freien Hand nach seinem Arm und zog ihn neben sich. "Dieser Mann ist ein Dämon", sagte sie zu den Versammelten. "Trotzdem hat er mich vor einem schrecklichen Tod bewahrt. Er hat mich gepflegt als ich verletzt danieder lag. Ich wäre längst tot, wenn er das nicht getan hätte. Deshalb steht er unter meinem Schutz."
In der Menge entstand Bewegung. Ein hagerer Mann mit schulterlangem, grauem Haar, der sich auf einen langen Stock stützte, trat vor. Eine grau getigerte Katze schmiegte sich an sein Bein.
"Kannst du uns garantieren, dass er nicht nachts unsere Kinder stiehlt? Oder unser Vieh verhext? Oder unsere Frauen schändet?" Seine Stimme war nicht laut, aber durchdringend. Mit Sicherheit konnte ihn auch der am weitesten entfernte Dörfler verstehen.
"Er hätte tausend mal Gelegenheit gehabt, mir Böses zu tun. Außerdem hat er sich unter den Schutz der Erdmutter gestellt. Ich bürge für ihn", entgegnete Ancade.
"Du wagst viel, Ancade, Königin der Fünf Dörfer."
"Willst du mein Wort in Frage stellen, Meliot, Priester der Fünf Dörfer?", zischte sie und trat einen Schritt auf
Er wich um keinen Zoll vor ihr zurück. Seine grünen Augen funkelten genauso angriffslustig wie ihre. Ein stummes Duell tobte zwischen den Beiden.
Brebas Solarplexus zog sich vor neu erwachter Angst zusammen. Er spürte den Hass, der ihm von den Menschen und besonders dem Priester entgegen schlug. Sein Blick wanderte von Haus zu Haus. Wo war nur sein N'Peko? Plötzlich hörte er das raspelnde Geräusch zu seinen Füßen und etwas Seidenweiches strich an seinem Bein vorbei. Ein Tier, halb so groß wie der Hund saß nun neben ihm und leckte sein pechschwarzes Fell.
"Ist das eine Katze?", fragte er Ancade leise.
Sie nickte und sprach weiter zu ihren Leuten. Brebas hörte nicht mehr hin. Er hockte sich nieder und betrachtete den runden Kopf, die spitzen Ohren, den langen Schwanz. Nun sah er auch, dass sie einen kleinen, weißen Fleck auf der Brust hatte. Es war geradezu unglaublich, wie sie sich bei der Fellpflege verdrehen konnte. N'Peko? , fragte er in Gedanken.
Was hast du denn gedacht? Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu. Das wurde aber Zeit! Ich dachte schon, ich müsste mein ganzes Leben allein bleiben. Übrigens, du kannst mich Maunis nennen. Meinen wahren Namen kannst du ohnehin nicht aussprechen.
Du bist wunderschön, Maunis , antwortete er ihr. Zaghaft streckte er die Hand aus und berührte ihr Fell. Da geschah etwas, das er noch nie erlebt hatte. Der Boden schoss auf ihn zu. Die Farben der Welt verblassten. Erstaunt fand er sich auf allen Vieren wieder und seine Hände und Füße waren zu schlanken Pfoten geworden. Wie geschmeidig doch dieser Körper war!
Das hättest du besser nicht tun sollen , sagte eine Katze zu ihm, die nur wenig kleiner war als er selbst.
Da kam ihm erst zum Bewusstsein, dass er sich verwandelt hatte. Wie werde ich denn wieder ein Mensch? , fragte er.
Indem du es willst.
Da wurde er grob an seinem Nackenfell gepackt und eine Stimme schrie: "Dämon!" Eine blitzende Klinge fuhr auf ihn nieder. Fauchend krallte sich Maunis in die Hand mit der Waffe und der Stoß, der sein Herz treffen sollte, streifte nur seine Schulter.
Eisiger Schmerz explodierte an der getroffenen Stelle und breitete sich blitzschnell über seinen ganzen Körper aus. Gleichzeitig wurde er so schwach, dass er nicht einmal mehr einen Schmerzensschrei ausstoßen konnte.
Dafür fluchte der Mann, der ihn gepackt hatte. Die Hand öffnete sich und Brebas sank zu Boden. Nur am Rande registrierte er, dass er wieder ein Mensch war.
Da lag er nun zu Ancades Füßen, unfähig sich zu bewegen während er wie durch einen roten Schleier sah, wie Ancades Faust einem stämmigen Mann mit rotem Haar gegen das Kinn knallte. Wie ein Baum fiel der Getroffene um, die zerkratzten Hände weit ausgebreitet. Nicht Meliot wollte ihn töten, schoss es Brebas durch den Kopf, es war ein anderer.
Warmes Blut sprudelte aus seiner Schulter und mit ihm floss das Leben aus ihm. Ancades wütende Stimme entfernte sich immer weiter. Er konnte die Worte nicht mehr verstehen, fühlte aber, dass sich der Dorfplatz leerte. Nur wenige blieben zurück.
"Simmer, Jarbes, tragt ihn in die Sakristei!", erklang nun Ancades Befehl.
Brebas fühlte sich hoch gehoben. Ledersohlen scharrten über die Erde. Seine einzige Hoffnung war Maunis, die nicht von seiner Seite wich. Im Halbdunkel eines Raums wurde er auf eine weiche Unterlage gelegt. Die schwarze Katze setzte sich neben seinen Kopf und fauchte jeden an, der sich ihm näherte.
"Sch, sch, ich will ihm doch helfen", klang leise Ancades Stimme.
Der warme Atem der Frau strich über Brebas' Gesicht als sie sich über ihn beugte. Sie öffnete sein Hemd und zog den blutgetränkten Stoff von der Verletzung. Das war zuviel für den jungen Mann. Endlich umfing ihn eine gnädige Ohnmacht.

Lange Zeit befand sich Brebas in einem eigenartigen Schwebezustand. Sein Geist wanderte mit Maunis durch das Dorf. Manchmal saß er mit ihr auf dem Fensterbrett und sah hinab auf den reglosen Körper eines jungen Mannes mit einer dick eingebundenen Schulter. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, aber das war nicht wichtig.
Dann wieder erwachte er, gepeinigt von tobenden Schmerzen. Es war so schlimm, dass er kaum atmen konnte. Durch seine Adern floss ein glühender Strom. Verzweifelt sehnte er sich nach dem Tod, der nicht kommen wollte.
"Du wirst wieder gesund", schnurrte Maunis. "Komm, ich hab Mäuse in Simmers Vorratskammer gerochen."
Dankbar löste er sich von seinem Körper und ging mit der Katze.
Er konnte nicht sagen, wie oft er zwischen seinem N'Peko und seinem verletzten Körper hin und her wechselte. Schließlich kam der Tag, an dem er zwar schwach, aber ohne Schmerzen erwachte.
Vor seinem Lager saß Ancade und sah ihn forschend an. "Brebas?"
"Ancade?", antwortete er und seine Stimme war nur ein Flüstern.
Nun lockerte ein Lächeln ihre strengen Züge. "Jetzt bist du über den Berg."
Eine Hand schob sich unter seinen Nacken und hob seinen Kopf. Ein Becherrand drückte gegen seine Lippen. "Trink das, es wird dir gut tun", sagte eine ruhige Altstimme.
Als er den Kopf drehte, sah er eine ältere Frau an der anderen Seite seines Lagers knien. Er schluckte etwas Würziges. Sogleich breitete sich angenehme Wärme in seinem Bauch aus. Außerdem stellte er fest, dass er hungrig war. Ancade strahlte noch mehr als er um Nahrung bat.
"Tagina, bring unserem Gast zu essen!", befahl sie sofort.
Während er wartete ließ Brebas den Blick durch den kleinen Raum schweifen. Feste Holzwände umgaben ihn. Ein schmales Fenster spendete spärlich Licht und frische Luft. Tagina verstopfte es mit Tüchern, wenn es draußen stürmte. Sein Lager nahm soviel Platz ein, dass rechts und links nur schmale Steifen frei blieben. Nur am Fußende seines Lager, war etwas mehr Platz frei. Dicke Wolldecken hielten ihn warm, denn über Edfu war der Winter herein gebrochen.
Warum wurde dieser Raum 'Sakristei' genannt? Auch in Vestralp gab es neben der Medizinhütte eine Sakristei. Doch da gab es heilige Symbole. Er wollte Ancade fragen, doch die Frau war schon gegangen. Scharrend schob sich ein Riegel von außen vor die Tür.

Von da an ging es Brebas von Tag zu Tag besser. Bald konnte er sitzen und allein essen. Seine Schulter schmerzte noch, wenn er den Arm bewegte, aber es war erträglich. Zuerst war er über die Magerkeit seines Körpers erschrocken.
Tagina kam dreimal täglich zu ihm und brachte ihm zu essen. Zweimal wöchentlich brachten Simmer und Jarbes einen Zuber in die Kammer und heißes Wasser für ein Bad. Die Frau sprach wenig, behandelte ihn aber freundlich, wenn auch stets ein bitterer Zug um ihren Mund lag.
Eines Morgens, es war mehr als eine Woche nach seinem Erwachen vergangen, kam Ancade zu ihm. Er hatte eben mit Taginas Unterstützung einige Schritte versucht und ruhte sich jetzt aus.
"Du machst Fortschritte," stellte sie befriedigt fest. "Hast du einen Wunsch, den ich dir erfüllen könnte?"
"Ein Wunsch?" Brebas überlegte. "Mein Rucksack und meine Waffen. Hast du sie holen lassen?"
"Ach, ja, deine Sachen", meinte sie zerstreut. "Wir hatten noch keine Gelegenheit, sie zu holen. Das Wetter war zu schlecht. Aber sobald der Schnee geschmolzen ist, werde ich einen Jäger aussenden, sie zu holen. Das kann allerdings einige Zeit dauern."
Dann holte sie ein Ledertäschchen, das an einem festen Band hing, aus ihrer Jackentasche. Ihr Gesicht nahm einen feierlichen Ausdruck an.
"Brebas von Vestralp", begann sie. "Du hast mein Leben gerettet und damit nicht nur mir, sondern auch den Fünf Dörfern einen großen Dienst erwiesen. Als Zeichen meiner Dankbarkeit überreiche ich dir dafür dieses Amulett." Blitzschnell streifte sie das Band über seinen Kopf.
Als der kleine Beutel gegen Brebas' Brust schlug, rang dieser sekundenlang nach Atem. Ancades Gabe hing wie ein Mühlstein an seinem Hals. So entging ihm auch das zufriedene Lächeln, das sie ihm zuwarf. Seine Gedanken flossen mit einem Mal träge dahin.
"Deine Güte beschämt mich", brachte er mühsam heraus.
Sie machte eine beschwichtigende Geste. "Ich werde jetzt gehen, denn ich sehe, dass du Ruhe brauchst. Aber ich komme bald wieder."
Brebas schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem er erst erwachte, als Tagina mit dem Mittagessen kam. Als ihr Blick auf Brebas' neuen Schmuck fiel, seufzte sie tief. Auch Maunis, die mit Tagina herein geschlüpft war, schlug fauchend nach dem Beutel.
Lass das, Maunis! , bat der junge Mann, Das ist ein Geschenk von Ancade.
Ein böses Geschenk. Du solltest es abnehmen . Die Geisterstimme der Katze klang leise als wäre sie sehr weit weg, obwohl sie doch neben seinem Lager saß.
Was ist denn Böses daran? , wunderte er sich. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.
Nimm es ab, dann wirst du es sehen.
Zögernd legte er die Hand auf den Beutel und zuckte zurück. Dumpfe Kälte hatte seine Finger gefühllos gemacht. Erste Zweifel regten sich in seinem Kopf. Konnte es sein, dass in dem Beutel ein Stück Eisen war? Warum sollte Ancade ihm das antun? Er zog an dem Band. Doch der Beutel war so schwer, dass er ihn nicht heben konnte.
"Hilf mir, Tagina", bat er.
"Das darf ich nicht, Dämon", flüsterte sie. Dabei wurde ihr Blick so traurig.
"Warum nicht?"
"Ancade würde mich streng bestrafen, vielleicht sogar töten", sagte sie leise. "Ich habe keine Rechte in Edfu."
Brebas drehte sich mühsam auf die Seite, doch der Beutel blieb wie fest geklebt auf seiner Brust. "Was ist das?", murmelte er und sah Tagina flehend an.
Angst und Mitgefühl kämpften in der verhärmten Frau. Unschlüssig lief sie ein paar Schritte zur Tür, dann verhielt sie wieder, kehrte zu Brebas zurück. Ihr Blick saugte sich an ihm fest und ihre Lippen formten einen Namen, den er noch nie gehört hatte. Nun eilte sie wieder zur Tür, öffnete einen Spalt und spähte hinaus. Nachdem sie sie wieder sorgfältig geschlossen hatte, kam sie zurück und zog ihm das Band mit dem Beutel mühelos über den Kopf.
Sogleich floss ein belebender Strom durch seine Adern. Er atmete tief durch. Jetzt fühlte er sich gleich viel besser. Ohne größere Anstrengung setzte er sich auf und verzehrte seine Mahlzeit. Dann setzte er zu neuen Fragen an.
Doch Tagina legte den Finger auf Lippen. "Nicht jetzt, Dämon", hauchte sie in sein Ohr. "Abends." Schnell legte sie ihm Ancades Gabe wieder um und verschwand mit dem Tablett.
Wieder legte sich eine tonnenschwere Last auf seine Brust. Mit einem Seufzer legte er sich hin. So ging es besser.
Glaubst du mir jetzt? , fragte Maunis anzüglich. Ihre Stimme schien wieder wie aus weiter Ferne zu kommen.
Ja , gab er widerwillig zu. Lass mich jetzt schlafen . Sein Inneres wehrte sich aber immer noch gegen diese Erkenntnis.

"Dämon." Eine Hand hob ein schweres Gewicht von seiner Brust. "Wach auf, Dämon. Es ist Zeit fürs Abendbrot."
"Warum nennst du mich nicht bei meinem Namen?", seufzte er. "Ich bin Brebas. Das Wort Dämon klingt so böse in meinen Ohren."
Wortlos nahm sie ihm den Beutel ab und setzte das Tablett mit Brot, Käse und fetten Würsten auf seinen Knien ab. Einen Krug mit saurer Ziegenmilch stellte sie neben sein Lager. Missmutig verzehrte er sein Mahl. Dann sah er sie fragend an.
Wieder vergewisserte sie sich, dass niemand in der Nähe war. Dann kauerte sie sich nahe zu ihm. "Nur tote Dämonen haben einen Namen", flüsterte sie. "Und ich möchte nicht, dass du stirbst."
"Wer sollte mir Böses wollen? Ancade hält ihr Hand über mich", entgegnete er.
"In dieser Hand kann jederzeit eine eiserne Klinge erscheinen."
"Sie hätte mich sterben lassen können, als ich verletzt war."
"Sie hat dich gerettet, weil sie dich noch braucht."
Brebas musterte die Frau scharf. Die grauen Augen in ihrem verhärmten Gesicht hielten seinem Blick mühelos stand. Schnell warf er den Zauber des Erkennens über sie. Sorge, Trauer und reine Wahrhaftigkeit wurde ihm enthüllt. Es gab da noch etwas, das sie hütete, doch Brebas drang nicht tiefer.
"Sprich!", forderte er sie auf.
"Beantworte mir zuerst eine Frage. Kannst du Dämonen von Menschen unterscheiden?", begann sie.
"Ich weiß es nicht", gestand Brebas. "Da müsste ich zuerst einmal ....." Gedankenvoll verstummte er. Was hatte er empfunden als er Ancade das erste Mal sah? Er war wütend gewesen, weil sie eine Krähe töten wollte. Diese Wut hatte alles andere überlagert. Doch nun erkannte er, dass da noch etwas Anderes gewesen war, das Fehlen eines ..... Schattens, einer Kontur, die jeder N'Dozo hatte. "Vielleicht, ich bin mir nicht sicher."
"Und kannst du auch Dämonen erkennen, wenn sie Tiergestalt angenommen haben?"
"Natürlich, das ist kein Problem. Ich habe noch nie eine Krähe angesprochen, in der Meinung, es sei eine meiner Schwestern." Bei diesem Gedanken musste Brebas lachen.
"Oh ja. Wie leicht könnte man einen Verwandten töten, wenn man eine Krähe abschießt", überlegte Tagina nachdenklich.
"Einen der Großen Sieben zu töten ist ein schwerer Sakrileg. Ich wollte Ancade töten, weil sie es versuchte. Aber mein N'Peko hielt mich zurück. Also habe ich nur geschrieen. Da ist sie ausgerutscht und hat sich verletzt. Der Pfeil verfehlte sein Ziel."
"Das verzeiht sie dir nie", behauptete die Frau nun. "Ancade ist sehr stolz auf ihre Zielsicherheit. Der letzte König der Fünf Dörfer starb durch einen Jagdunfall, einen verirrten Pfeil." Nun senkte sie ihre Stimme noch mehr, sodass Brebas sie kaum noch verstehen konnte. "Viele sagen, es war Ancades Pfeil."
"Aber, sie hat mir schon verziehen, weil ich ihr verziehen habe, dass sie auf einen der Sieben gezielt hat. Sie hat ja nicht getroffen", meinte Brebas schlicht.
"Du naiver Dämon!", rief Tagina nun aus. "Glaubst du wirklich an diesen Handel? Ancade ist ehrgeizig. Sie will die Dämonen in den Fünf Dörfern ein für allemal ausmerzen und du sollst ihr dabei helfen."
"Warum sollte sie das tun? Ich habe ihr doch bewiesen, dass wir Menschen sind, auch wenn wir unsere Gestalt wandeln können und ein wenig ...." Er verstummte als Taginas Worte seinen Geist erreichten.
"Es würde ihre Machtstellung festigen. Warum hat sie dir wohl ein Stück Eisen um den Hals gehängt?", bohrte diese nun weiter. Zum Beweis knüpfte sie den Beutel auf und zog eine rostige Schraube heraus. "Das soll dir die Kraft nehmen zu fliehen. Das Eisen verhindert auch, dass du dich verwandeln kannst. Denn als Katze könntest du leicht durchs Fenster entwischen."
Nun sagte der junge N'Dozo nichts mehr. Der Schmerz der Enttäuschung wütete in ihm. Er hatte Ancade geglaubt und sie hatte ihn verraten. Sie nannte ihn einen Dämon. Dennoch hatte sie weit weniger Menschliches an sich als er. Sie war der Dämon, nicht die N'Dozo.
"Warum willst du mir helfen, Tagina?", fragte er leise.
"Mein Sohn war so wie du und Ancade hat ihn eigenhändig mit einem Knüppel erschlagen wie einen tollen Hund. Als ich sah, dass seine Katze dich gewählt hat, wehrte ich mich nicht, dich zu pflegen." Sie legte ihm den Beutel wieder um den Hals und hob das leere Geschirr auf. "Ich muss jetzt gehen, Dämon. Fasse Mut. Ich helfe dir, auch wenn es mein Leben kostet."

Ancade besuchte Brebas nun fast jeden Morgen, oft in Begleitung eines alten Mannes, der aber nie ein Wort sprach. Etwas Vertrautes umgab den Alten, doch das Eisen verhinderte, dass Brebas erkennen konnte, was es war.
"Erzähle mir von deinem Dorf", forderte sie. "Die Menschen in Edfu sollen die Angst vor den Dämonen verlieren. Vielleicht könnten wir auch Handel treiben."
"Handel?", fragte Brebas verwirrt. Das Eisenamulett ließ seine Gedanken nur langsam fließen, beeinträchtigten aber nicht sein Misstrauen.
"Nun, wir haben viele schöne Dinge, die auch deinen Leuten gefallen würden", behauptete sie. "Was erzeugt denn dein Stamm?"
"Ich verstehe nicht, was du meinst. Wir nehmen von der Natur, was wir brauchen. Bei uns kann sich jeder selbst Nahrung beschaffen oder Kleidung und Werkzeuge herstellen."
"Nun ja, lassen wir das vorerst", gab sie endlich widerwillig nach. "Wie erkennt ihr euch, wenn ihr verwandelt seid? Gibt es bei euch auch Menschen, die sich nicht verwandeln können? Wie weit ist es bis zu deinem Dorf?"
Die Fragen prasselten nur so auf Brebas herunter. Bedächtig antwortete er ihr. Er log nie, wich aber manchen Dingen aus oder verdrehte sie ein wenig, sodass sie ein völlig falsches Bild von Vestralp erhielt.
"Wann werde ich die Erdmutter sehen?", fragte er sie einmal. "Ich will mich ihr ausliefern. Dann werden alle sehen, dass wir auch nur Menschen sind."
"Du musst erst gesund werden", wich sie aus. "Sieh doch, wie schwach du noch bist. Der Kuss der Erdmutter kostet auch uns viel Kraft. Dich würde er in deinem derzeitigen Zustand sicher töten." Sie lächelte ihn beruhigend an. "Wie hast du deinen Nenpeko erkannt? Es ist doch diese schwarze Katze, die die meiste Zeit bei dir ist."
"Ich habe sie berührt und mich verwandelt", erklärte Brebas wahrheitsgemäß. "Also muss sie doch mein N'Peko sein." Dass er mit Maunis telepathisch sprechen konnte, verschwieg er. Mit dem Eisenamulett um den Hals konnte er sich nicht verwandeln, das hatte er ausprobiert.
Klug geantwortet , kam eine leise Stimme vom Fensterbrett her. Dort saß sein N'Peko und leckte sich das Fell. Brebas hatte unwillkürlich den Kopf gewandt, als sie ihn ansprach. Nun folgte Ancade seinem Blick.
"Was würde geschehen, wenn diese Katze ... äh irgendwie zu Tode käme? Kannst du dich dann nicht mehr verwandeln?" Ein lauernder Ausdruck war in Ancades Zügen erschienen.
N'Pekos konnte man nicht töten, wusste er. Sie waren Geister, die die Körper der Großen Sieben benutzten. Wenn der Körper starb, suchte sich der Geist einen Neuen.
"Ich würde eine andere Katze finden. Es würde sich für mich nicht viel ändern, denn ich weiß nun, wie ich mich verwandeln kann. Es würde mich wohl nur sehr viel Kraft kosten, die ich jetzt noch nicht habe."
Jetzt wurde ihr Lächeln mitleidig. "Oh, du Armer!", rief sie aus. "Sicher möchtest du ruhen."
Brebas wartete bis sie sein Gefängnis verlassen hatte. Dann gestattete er sich auf zu atmen. Mit Spannung erwartete er Tagina.
Warum hast du mich nicht vor ihr gewarnt? Vorwurf lag in seiner Gedankenstimme.
Hab ich doch! Hast du mir geglaubt? Du warst doch so überzeugt davon, dass sie deine Wohltäterin ist . Maunis sprang vom Fensterbrett und setzte sich auf seinen Schoß. Kraule mir das Fell! bat sie. Dann erzähle ich dir, welch interessante Bekanntschaften ich geschlossen habe.
Gutmütig kam er ihrem Wunsch nach.
Hier gibt es eine kleine Kolonie von N'Dozos . eröffnete sie ihm. Sie leben hier im Dorf, in Tiergestalt. In den Bergen haben sie eine Höhle, wo sie Menschengestalt annehmen.
Warum gehen sie nicht fort? , wunderte sich Brebas. Einem N'Dozo bekam es nicht gut, länger als einen Mondwechsel in Tiergestalt zu verweilen. Gestaltwandler, die das taten, verloren den Bezug zu den Menschen.
Sie wissen nicht, wohin. Du könntest sie führen. Brebas' Schoß schien zu vibrieren als sie zu schnurren begann.
Ich bin gefangen. Tagina will mir zwar helfen ... . Er kratzte die Narbe an seiner Schulter ohne das Streicheln zu unterbrechen. Seine Wunde war jetzt gut verheilt. Eine Gruppe hätte gute Chancen, Vestralp wohlbehalten zu erreichen, überlegte er.
Heftiges Heimweh überfiel ihn mit einer Plötzlichkeit, die ihm den Atem nahm. Er sehnte sich nach seiner Familie, mehr noch aber nach Jernis. Würde sie auf ihn warten? Ein Gesicht formte sich in seinem Geist. Jernis, wie sie lachte, Jernis, wie sie ihn lockte und dann, wenn er die Hand nach ihr ausstreckte, als Falke in den Himmel stieß. Schuldbewusstsein erfüllte ihn, weil er so lange nicht an sie gedacht hatte. Alles war so fremd und neu gewesen ...
Oh, Jernis! Er würde zurück kehren. Wie er doch den Duft ihrer braunen Locken liebte, den ernsten Blick ihrer dunklen Augen. Verwirrt hielt er seinen Tagtraum an. Jernis hatte doch gelbe Augen und ihr Haar war glatt. Hatte er schon vergessen, wie sie aussah?
Kannst du mir helfen zu fliehen? , fragte er, doch die Katze war eingeschlafen.

Als Tagina mit dem Abendessen kam, huschte ein grau getigerter Kater mit in den Raum. Brebas betrachtete ihn träge. Doch als Tagina ihm das Amulett abgenommen hatte, setzte er sich kerzengerade auf.
"Du bist ein N'Dozo", flüsterte er.
Da streckte sich das Tier und Sekunden später kauerte ein kräftiger Mann um die Dreißig vor ihm. "Ich bin Lovel, der Kater", raunte er. "Ich bin der Sprecher der Gestaltwandler Edfus. Wenn du uns versprichst, uns nach Vestralp zu führen, holen wir dich hier heraus."
"Wie stellst du dir das vor?", wollte Brebas wissen. Die direkte Art des Mannes hatte ihn ein wenig verblüfft, aber er hatte sich schnell gefangen. "Ich bin hier eingesperrt und ein Eisenamulett verhindert, dass ich mich verwandle. Und wenn ich trotz allem fliehen könnte, würde Ancade mich sicher verfolgen. Sie hat mich nicht ohne Grund am Leben gelassen."
Es fiel ihm immer noch schwer in der Herrin der Fünf Dörfer eine Feindin zu sehen, so drückend die Beweise auch waren. Dann kam ihm ein neuer Gedanke.
"Was geschieht mit dir, Tagina, wenn ich fliehe?"
"Denk nicht an mich, Dämon", sagte sie wegwerfend. "Ich bin alt. Mein Mann und mein Sohn sind tot. Es wird mir eine Freude sein, mit ihnen vereint zu sein."
"Das heißt, dass Ancade sie zu Tode foltern lassen wird", erklärte Lovel hart. "So ein Schicksal hast du nicht verdient. Du kommst mit uns."
"Ich kann nicht", wehrte sie ab. "Ich bin zu alt und wäre nur ein Hindernis. Es ist wichtig, dass ......"
Vor der Tür erklang ein Schmerzensschrei, gefolgt von einem bösen Fauchen. Dann entfernten sich eilige Schritte. Ein dumpfes Geräusch ließ Brebas zum Fenster schauen. Dort hockte Maunis mit gesträubtem Fell. Ihr Schwanz war gut doppelt so dick als normal.
Lovel hatte sich blitzschnell verwandelt. Ein Sprung brachte ihn in eine Ecke, wo er sich zusammen rollte als schliefe er.
Das war Simmer, erklärte Maunis. Er kann nicht viel gehört haben, trotzdem, jedes Wort wäre zuviel.
Tagina und Brebas sahen einander an. "Du musst weg", stellte sie fest. "Morgen Abend beginnen die Feierlichkeiten zum Sieg des Frühlings über den Winter. Was ist los mit dir?"
Brebas war bleich geworden. "Das Ende des Winters?", stieß er hervor. "Ich muss nach Hause! Jernis ...." Die Stimme versagte ihm. Vielleicht würde sie ja ein wenig länger auf ihn warten. Oder anders. Wenn sie jetzt einer Werbung zustimmte, dauerte es sicher noch einige Monate bis zur Hochzeit. Mit solchen Gedanken versuchte er sich selbst zu beruhigen, aber der Zweifel nagte mit schmerzhafter Beharrlichkeit an ihm.
"Es wartet jemand auf mich in Vestralp", flüsterte er.
"Tagina spricht die Wahrheit, Brebas", bekräftigte Lovel nun. "Du musst schnellstens verschwinden. Ich habe gehört, dass Ancade dich als Frühlingsopfer ausersehen hat. Nachdem das Volk dich getötet hat, will sie es zu unserer Höhle führen. Ihre Spione haben alles entdeckt. Sie weiß auch, dass Tagina uns unterstützt. Deshalb musst du mit uns gehen, gute Frau. Wir verdanken dir zuviel."
Entsetzt schlug Tagina die Hand vor den Mund. "Wie konnte sie das erfahren?", flüsterte sie. "Ich war doch immer vorsichtig."
"Das ist uns selbst ein Rätsel. Ancade behauptet, Bapedis Magie hätte ihr alles enthüllt."
"Ihr habt hier einen Magier?", warf Brebas ein.
"Er ist unser Priester", klärte ihn Tagina auf. "Die meisten Gestaltwandler hat er entlarvt. Bapedi ist sehr gefürchtet und er unterstützt Ancade. Du kennst ihn doch. Er war einige Male mit Ancade hier."
"Das ist Bapedi?", rief Brebas aus. Er erinnerte sich gut an den schweigsamen Alten. Etwas Besonderes war an dem Mann, was war es nur? Im Stillen verfluchte er das Eisen, das seine Gedanken so träge fließen ließ.
"Welche Farbe hat dein Fell?", fragte Lovel scheinbar zusammenhanglos.
"Schwarz", antwortete Brebas überrascht.
"Wie viele schwarze Katzen gibt es hier in Edfu? Was schätzt du, Tagina?" Lovel hatte sich nur für diese Fragen verwandelt, denn als Katze konnte er nicht sprechen.
"Hm", überlegte Tagina. "Vielleicht ein halbes Dutzend, höchstens ein oder zwei mehr."
"Das genügt doch", meinte Brebas. Schnell verwandelte er sich und nun konnte er von Kater zu Kater mit Lovel sprechen. Bald hatten sie einen Plan geschmiedet, der auch Tagina einschloss. Mit unbewegtem Gesicht zerriss sie das Lederband und ließ das Amulett zwischen die Decken fallen. Wenig später verließ die Frau das Gefängnis. Mit dieser Tat hatte sie mehr als nur Leder zerrissen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Dass kurze Zeit später zwei Kater aus dem Fenster des Gefangenen sprangen, fiel niemand besonders auf. Die Bewohner von Edfu waren zu sehr mit den Vorbereitungen für das Frühlingsfest beschäftigt.

Immer den Schatten der Häuser ausnützend verließen die beiden Kater das Dorf. Sobald sie die Palisaden überklettert hatten, jagten sie mit weiten Sprüngen durch den Wald.
"Hier ist es", miaute Lovel, zwängte sich zwischen den Zweigen eines Haselstrauchs durch und war verschwunden.
Für Brebas sah es nur wie ein steiler Berghang mit viel Gebüsch aus. Trotzdem folgte er seinem Führer unverzüglich und stand alsbald in einer geräumigen Höhle, die durch ein kleines, rauchloses Feuer spärlich erhellt wurde. Der Fußboden war mit Grasmatten belegt und in Hintergrund konnte er undeutlich einige Schlafstellen erkennen. In einer kleinen Nische zu seiner Rechten sah er Körbe voll Trockenfleisch, Nüssen und getrockneten Früchten. Dieses Versteck machte direkt einen behaglichen Eindruck, wenn man seine Bewohner nicht beachtete.
Außer Lovel saßen noch zwei junge Männer am Feuer. Dann gab es noch eine blonde Frau um die Dreißig, die ein zwölfjähriges Mädchen im Arm hielt. Außer den N'Dozos tummelten sich noch einige Katzen in der Höhle. Nur auf der Schulter der Frau saß ein Habicht.
"Das ist meine Frau Elpina und unsere Adoptivtochter Acrana", stellte Lovel zuerst die weiblichen Mitglieder der Gruppe vor. Dann deutete er auf die Männer. "Das sind Wilchas und Parmen. Und Urien ist noch im Dorf. Er wird mit Tagina kommen. Sobald sie da sind, brechen wir auf. Du wirst uns führen."
Der letzte Satz war eine schlichte Feststellung. Brebas sah von einem zum anderen. Er fühlte sich in der Rolle eines Führers etwas unbehaglich. Parmen, ein kleiner, drahtiger Typ mit scharf geschnittenem Gesicht, schien in seinem Alter zu sein. Aber Wilchas war sicher einige Jahre älter als er. Ein Wust von roten Ringellocken umgab sein sommersprossiges Gesicht, das genauso hager wie sein Körper war.
"Nach Norden", sagte er schlicht. "Vestralp liegt im Norden." Dann beschrieb er den Weg, den er gegangen war, so gut er sich noch erinnern konnte. Zuerst hörten sie ihm ruhig zu, doch als er seinen Weg durch die Berge beschrieb, begann sie ihn zu unterbrechen.
"Die Stelle kenne ich!" "Da war ich auch schon mal!" "Dort steht doch der dreifache Baum!" Solche Kommentare häuften sich nun, bis er die Buche mit seinem provisorischen Baumhaus beschrieb.
Da sprang Parmen auf und lief in den Hintergrund der Höhle. Wenig später kam er zurück und ließ einen dicken Packen auf die Matte fallen. Brebas erkannte seinen Rucksack. Auch seine Waffen waren da, Bogen und Pfeile. Nur sein Messer fehlte ihm. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, zog Elpina einen Dolch hervor und reichte ihn ihm. Er war nicht so gut wie seiner, aber es würde genügen. Gerührt bedankte er sich. Sogleich holte er seine Reservekleidung aus dem Rucksack und zog sie an. Jetzt fühlte er sich besser.
Nun begann ein nervenaufreibendes Warten. Elpina brachte Acrana zu Bett um ihr noch ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Die Männer lehnten schweigend an den Wänden der Höhle. Sie waren zu angespannt um Ruhe zu finden. Mehr als ein kurzes Einnicken gab es nicht. Lovel schlüpfte immer wieder aus der Höhle. Doch bei seiner Rückkehr war seine Antwort auf die fragenden Blicke immer nur ein Kopfschütteln.
Brebas' Gedanken wanderten nach Vestralp. Verzweifelt versuchte er sich Jernis' Gesicht vorzustellen. Es gelang nicht. Da waren immer Ringellocken, obwohl Jernis doch glattes Haar hatte. Auch die kleine Stupsnase stimmte nicht. Resigniert gab er auf.
Da strich etwas Weiches an Brebas' Seite vorbei, kam wieder. Ein kleiner, runder Kopf rieb an seinem Bein. Maunis.
Sie haben sie erwischt , übermittelte sie. Urien ist tot. Tagina soll morgen der Erdmutter geopfert werden. Sinnigerweise wurde sie auch in der Sakristei eingesperrt.
Ein Menschenopfer? , fragte Brebas ungläubig.
Was hast du denn gedacht, was es bedeutet, sich der Erdmutter auszuliefern?
Wieder wurde ihm Ancades Hinterhältigkeit vor Augen geführt. Es ärgerte ihn immer mehr, dass er ihr vertraut hatte.
Das soll wohl heißen, dass sie mich von Anfang an opfern wollte? , vergewisserte er sich dennoch. Warum hast du mich dann gehindert, sie zu töten?
Du warst schon so nahe, aber nicht nahe genug, dass wir uns finden konnten. Du musstest ins Dorf kommen. Dann hätte ich dich schon raus gebracht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du verletzt wirst. Auch ich bin nicht allmächtig.
"Was ist los?" Lovels Hand lag auf seiner Schulter.
Die Gruppe hatte sich um ihn versammelt. Jeder N'Dozo konnte nur mit seinem eigenen N'Peko kommunizieren.
"Ancade hat sie erwischt", stillte er ihre Neugier. "Tagina soll geopfert werden und Urien ist ...kommt nicht mehr."
Minutenlang saßen sie in schweigender Trauer da. Jeder hatte seinen Vertrauten im Schoß und streichelte geistesabwesend das Fell. Elpina setzte sich zu Lovel. Ihre Hand kraulte das Gefieder ihres Habichts.
"Ist Tagina verletzt?", fragte Lovel schließlich.
"Nein", antwortete Brebas, nachdem er sich bei Maunis erkundigt hatte. "Sie hat ein paar blaue Flecken, ist aber sonst wohlauf."
Der Schock über den Verlust eines Freundes hielt nur kurz an. Die N'Dozos Edfus hätten nicht so lange überlebt, wenn sie das nicht gelernt hätten. Es war für alle klar, dass sie Tagina nicht im Stich lassen würden.
Elpina verschwand wortlos um der Frau Trost zu bringen. Die anderen steckten die Köpfe zusammen. Erstaunt stellte Brebas fest, dass diese N'Dozo keine Erfahrung mit Magie hatten. Vestralper lernten schon als Kinder kleine Zauber.
"Zaubern kann nur Bapedi", erklärte Lovel. "Wir können nur unsere Gestalt wandeln. Das ist schlimm genug für die anderen."
Ein schneller Erkennungszauber zeigte Brebas, dass in allen wohl die Macht schlummerte, sie aber nicht wussten, wie sie sie nutzen konnten. Bapedi. Etwas hatte ihn an diesem Mann irritiert.... Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Nun, da er nicht mehr unter dem Einfluss des Eisens stand, erkannte er klar die Wahrheit. Ein Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an. Aber dazu brauchte er die Hilfe seiner Kameraden.
Voll Enthusiasmus erklärte er den N'Dozos die Lage. Es dauerte eine Weile, bis er seine neuen Gefährten überzeugt hatte, dass auch sie Magie wirken könnten. Doch dann erntete er ungeteilte Zustimmung. Er zeigte ihnen, wie sie ihn mit ihrer Magie unterstützen konnten. Mehr war im Moment nicht möglich.
Kurze Zeit später überkletterten vier Katzen an vier verschiedenen Stellen die Palisade. Ihre N'Pekos hatten sich schon vorher auf den Weg gemacht. Elpina, die noch während ihrer Besprechung zurück gekehrt war, war bei Acrana geblieben.
Eben zog die Dämmerung herauf. Die Sonne stieg groß, in kräftigem Orange, über den Kamm der Berge und vergoldete die Ränder einiger Haufenwolken. Die Luft war still und eisig. In den schattigen Winkeln zwischen den Häusern lagen noch kleine Flecken schmutzigen Schnees. Brebas freute sich über sein dickes Fell.
Noch lag das Dorf in tiefem Schlaf. Brebas schlich, immer an den Wänden der Häuser entlang. Neugierig beäugte er das Podest, das man auf dem Dorfplatz errichtet hatte. Hier sollte wohl das Opfer dargebracht werden.
Schaudernd schlich er auf die Sakristei zu. Simmer lehnte dösend neben der Tür. Erst jetzt erkannte Brebas, dass sein ehemaliges Gefängnis der Anbau eines weit größeren Gebäudes war. Es lag nahe, dass dies der Tempel der Erdmutter war. Oben abgerundete, bis zum Fundament reichende Fenster und der flache Giebel gaben dem Gebäude ein bodenständiges Aussehen.
Neugierig schlich er zu einem der Fenster. Es war mit einem fremdartigen, glatten Material verschlossen, das aber zu Brebas Verblüffung durchsichtig war. Im Licht unzähliger Fackeln erkannte er die aus Holz geschnitzten Statue einer entsetzlich dicken Frau mit acht Armen. Jede ihrer Hände hielt den Kadaver eines N'Peko. Ihre Füße aber waren mit eisernen Klammern an eine ebenfalls hölzerne, liegende Figur geheftet.
Das soll den Sieg der Erdmutter über den Herrn der Dämonen darstellen , schnurrte es neben Brebas. Maunis war unbemerkt an seiner Seite erschienen.
Sie hat nicht gesiegt , antwortete er überzeugt. Vestralp lebt und sie ist nur eine Mörderin . Schaudernd wandte er sich ab.
Ein Mann kam aus einem der Hütten und trottete noch schlaftrunken zur Abfallgrube. Edfu erwachte. Beeilung war abgesagt.
Ein geschmeidiger Satz brachte ihn auf das Fensterbrett seines ehemaligen Gefängnisses. Tagina saß auf dem Lager und sah erschrocken auf. Der zweite Sprung brachte ihn vor ihre Füße. Dort verwandelte er sich. Hastig erklärte er ihr ihren Plan. Dann huschte er wieder hinaus und verschloss die Tür. Sekunden später räkelte sich ein schwarzer Kater am Dach der Sakristei.

Brebas schätzte, es würde ein sonniger Frühlingstag werden. Die Sonnenstrahlen leckten an den Schneeresten. Kleine Wasserrinnsale zeigten, dass sie schon einige Kraft hatte.
Bapedis Diener hatten die Statue der Erdmutter aus dem Tempel getragen und auf dem Podest aufgestellt. Wie eine Drohung kommenden Unheils lag der Gestank der toten N'Pekos in der Luft. Die Palisadentore waren weit geöffnet und Besucher aus den anderen Dörfern strömten auf den Dorfplatz.
Nun erschien der Priester. Er hatte sich für das Ritual in eine lange Robe aus purpurrotem Stoff gehüllt. Ein goldener Reif lag um seinen runzligen Kopf. In der Hand hielt er einen reich geschmückten Obsidiandolch. Als er auf das Podest trat, verneigten sich die Dörfler schweigend.
Der Priester berührt nie Gegenstände aus Eisen , flüsterte Maunis in seinem Geist. Es ist eine Tradition.
Kein Wunder , gab Brebas zurück.
Nun trat Ancade an seine Seite. Sie trug ein reich besticktes Kleid und ihr Haar schmückte ein glitzerndes Diadem. Auch sie wurde mit einer Verbeugung geehrt.
Auf einen Wink Bapedis wurde Tagina von Jarbes und Simmer auf das Podest geführt. Ihr Blick war auf die zitternden Hände gesenkt. Vor der Doppelstatue blieb sie stehen.
Nun kamen vier Männer in schwarzen Kitteln auf das Podest. Drei von Ihnen trugen Trommel, einer eine große Flöte. Schweigend stellten sie sich hinter Bapedi und Ancade auf.
"Meine lieben Freunde aus den Fünf Dörfern", ergriff Bapedi das Wort. "Diese Frau", Anklagend deutete er auf Tagina. "die selbst Mutter eines Dämons war, hatte Gemeinschaft mit Dämonen. Voll Hinterlist plante sie unsere Vernichtung. Doch die gute Erdmutter hat mir den bösen Plan offenbart. Zum Dank werden wir Tagina der Erdmutter überantworten."
Von wegen, die Erdmutter , knurrte Brebas. Simmer hat noch immer deine Kratzer im Gesicht.
Die Menge gab ein zustimmendes Murmeln von sich und die Musikanten begannen ihr Spiel. Bapedi sprang im Takt der Trommelschläge hin und her. Dabei fuchtelte er mit dem Messer in der Luft herum und sang mit schriller Stimme ein unverständliches Lied. Es sah grotesk aus, aber Brebas fühlte dass Magie am Werk war. Langsam breitete sie sich über den Ort aus. Die Zuschauer begannen zu summen und verstärkten den Zauber.
Tagina zitterte nun heftiger und versuchte von der Statue zurück zu treten. Doch Ancade schob sie wieder nach vorn. Das Summen der Menge wurde lauter. Brebas wartete gespannt, was nun geschehen würde. Sobald Bapedi zum Stoß ansetzte würde er seine Magie auf ihn werfen.
Doch hatte er nicht mit dem gerechnet, was nun geschah. Ein Zittern durchlief die Doppelfigur. Das alte Holz ächzte und plötzlich war es kein Holz mehr. Hier stand eine fette, achtarmige Frau, deren Füße mit eisernen Klammern auf den Leib eines Mannes geheftet waren. Auch der Mann war zum Leben erwacht. Stöhnend und sich windend versuchte er, die schmerzhafte Last von seinem Körper zu entfernen, vergeblich.
"Die Erdmutter nimmt sich ihr Opfer selbst!", kreischte der Priester ekstatisch und hielt in seinem Tanz inne.
Die Göttin hatte alle acht Hände geöffnet und die Kadaver fielen zu Boden. "Hunger!". kam es dröhnend aus ihrem Mund. Zwei ihrer Hände streckten sich nach Tagina aus. Doch die warf sich zu Boden und rollte sich geschickt vom Podest. Wütend fuhren nun alle acht Arme durch die Luft.
Jarbes und Simmer waren Tagina gefolgt und versuchten, sie einzufangen. Diesen Moment wählte Brebas um seinen Zauber zu wirken. Bapedi fiel plötzlich auf Hände und Knie. Seine Hände verwandelten sich für Sekunden in Pfoten. Der Priester wehrte sich gegen den Zauber. Brebas setzte all seine Magie ein. Das entlockte Bapedi einen wütenden Schrei, der sich in ein Maunzen verwandelte. Wieder begann seine Verwandlung. Schon hatte sein Kopf spitze Ohren, sein Körper bedeckte sich mit glanzlosem, grauem Fell. Und wieder machte er die Verwandlung rückgängig. Da rief Brebas seine Freunde um Hilfe und sie gaben ihre ungeübte Magie um ihm zu helfen. Da brach Bapedis Widerstand zusammen. Fauchend und spuckend kauerte ein magerer Kater auf dem Podest.
Die Zuschauer hatten alles in schweigender Erstarrung beobachtet. Nun, da sie ihren Priester plötzlich in Tiergestalt vor sich sahen, brach der Bann.
"Dämon!", schrie einer und andere fielen ein. Der Hass auf die Gestaltwandler, der all die Jahre geschürt worden war, richtete sich nun gegen Bapedi. Der alte Priester hatte nicht viel Gelegenheit, seine Handlungsweise zu bereuen. Eine der acht Hände der Erdmutter erwischte ihn. Sekunden später zeigte ein trockenes Knacken, dass sein Genick gebrochen war. Und die anderen sieben Arme grabschten nach neuen Opfern. Einer der Trommler war der Nächste.
Der Mann unter ihren Füßen schrie und wand sich. Und nun versuchte auch die Göttin, ihre Füße zu befreien. Die Menschen gerieten in Panik. Drängend und stoßend suchten sie ihr Heil in der Flucht.
Brebas verwandelte sich rasch. Tagina hatte sich, wie er es ihr geraten hatte, unter das Podest gerollt. Dort war sie relativ sicher. Nun half er ihr hervor und schloss sich den Fliehenden an. Aus dem Augenwinkel sah er ein Horde Katzen über die Palisade klettern. Gut. Seine neuen Freunde waren gerettet. Nun galt es noch, mit Tagina heil aus dem Dorf zu kommen.
Da ließ ihn ein markerschütternder Schrei innehalten. Entsetzt erkannte er, dass die Erdmutter einen Fuß befreit hatte. Wütend schleuderte sie die Klammer in die Menge. Eine Frau brach tödlich getroffen zusammen. Aus ihrem Kopf ragte das Eisen. Die Göttin hatte den freien Fuß auf das Podest gesetzt und zerrte nun an dem anderen Fuß. Stöhnend half der Mann mit. Und endlich löste sich auch die zweite Klammer aus seinem Leib.
Trotz der tiefen Wunden, aus denen helles Blut floss, war er im Nu auf den Beinen. "Halt ein, Tochter! Du hast genug gemordet!", donnerte seine Stimme so laut, dass fast alle Menschen zu Boden fielen. Nur die Stärksten konnten sich auf den Beinen halten. Auch Brebas und Tagina fielen zu Boden.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Brebas wie der Gott seine Tochter beim Genick packte und trotz heftiger Gegenwehr zu Boden drückte.
"Nie wieder wirst du meine Kinder töten!", brüllte er. "Missratenes Weib! Du sollst eine Kröte sein bis ans Ende aller Tage!"
Da veränderte sich der aufgequollene Leib und wurde fahlgrün und warzig. Aus einem breiten Maul kam ein klägliches Quaken.
"Meine Kinder!", rief der Gott nun mit sanfter Stimme. "Hütet euch vor dieser giftigen Kröte! Strebt nach Frieden zwischen Menschen und Gestaltwandlern. Es ist Platz für alle auf dieser Welt!" Aus seinen Fingern schossen goldene Strahlen und umspielten die Kröte. Da war sie wieder zu Holz und auch er verwandelte sich wieder in eine hölzerne Statue. Doch nun stand er aufrecht mit einem Fuß auf einer fetten Kröte. Nur vier Löcher in seiner Brust zeugten von den Klammern, die die Füße seiner Tochter an seinen Leib gefesselt hatten.

Langsam erhoben sich die Menschen und kehrten zu der Plattform zurück um das Wunder zu bestaunen. Dort stand Ancade bleich und zitternd. Ihr Diadem war verrutscht und hing schief auf ihrem Kopf. Ihr Mund bewegte sich, doch kein Laut kam heraus.
Niemand achtete auf Tagina und Brebas, die still das Dorf verließen. Kaum hatten sie die Palisade hinter sich gebracht, da rannten sie zur Höhle. Dort warteten schon die anderen N'Dozo mit ihren N'Pekos. Auch Maunis war da.
Als Erstes erzählte Brebas, was in Edfu geschehen war. "Ihr braucht eure Heimat nicht verlassen", schloss er. "Der Große Alte hat Frieden zwischen Menschen und N'Dozos geboten."
Doch Lovel schüttelte den Kopf. "Mag sein, dass das der Wille des Gottes ist. Aber in den Köpfen der Menschen ist noch soviel Hass. Sie werden nicht so schnell umdenken können. Ich gehe weg und wenn du mich nicht nach Vestralp mitnehmen willst, werde ich mir einen anderen Ort zum Leben suchen."
"Ich gehe mit dir"; stimmte Elpina zu. "Und Acrana wird mit uns gehen."
Auch die anderen waren dafür, diese Gegend zu verlassen. Fragend sahen sie ihn an.
"Natürlich könnt ihr mit nach Vestralp kommen", rief Brebas aus. "Da habe ich wenigstens nette Gesellschaft auf dem Weg."
Frohgemut machten sie sich auf den Weg. Die einen in Tiergestalt, die anderen als Menschen. Brebas hatte sie gewarnt, zu lange in Tiergestalt zu bleiben, da sie sonst ihr vorheriges Leben vergessen würden. Das war auch der Grund, warum die neuen N'Dozo nichts von ihrer Vergangenheit wussten.

Drei Wochen später erreichten sie Vestralp. Der Frühling hatte das Land mit jungem Grün und tausenden Blüten übergossen. Die Sonne war nun schon so stark, dass Brebas das warme Hemd mit einem ärmellosen tauschte.
Als er die ersten Baumhäuser erkennen konnte, bat er seine Freunde, zurück zu bleiben. Sie sollten als zusätzliche Überraschung später nachkommen. Brebas nahm Maunis, die in den letzten Tagen etwas träge geworden war, auf den Arm und ging forsch auf den Dorfplatz. Zwei Frauen saßen dort unter den Strahlen der Nachmittagssonne und flochten Grasmatten.
"Mein N'Peko!", rief Brebas mit lauter Stimme. "Ich habe das Verlorene Tier gefunden!"
Die Frauen sprangen auf und fuhren herum. Eine war seine älteste Schwester und die andere ..... Jernis. Überrascht erkannte er, dass beide guter Hoffnung waren. Für seine Schwester freute er sich, aber Jernis? Das schmerzte.
"Du hast nicht auf mich gewartet", sagte er vorwurfsvoll.
"Ich dachte .... alle dachten ....." stotterte sie. Dann wandte sie sich ab und lief weg.
Zahllose Flügel rauschten, als sich die Bewohner Vestralps um Brebas scharten. Maunis schlug erschrocken ihre Krallen in Brebas' Hemd. Da war sein Vater Lohut und seine Mutter. Auch seine Schwestern und der kleine Niut waren da. Endlich kam Zuchilo auf ihn zu und starrte mit zusammen gekniffenen Augen auf die Katze. Brebas ließ Maunis zu Boden gleiten und verwandelte sich. Von allen Seiten erklang ein erstauntes "Ohhh!"
"Brebas, der ..... was ist denn das?" Zuchilo sah sich außerstande, die N'Dozo-Formel auszusprechen.
"Ich bin Brebas, der Kater", half ihm dieser aus. "Das Verlorene Tier nennt sich Katze."
"Brebas, der Kater!", rief nun der Priester. "Möge ....äh." Schnell beäugte er die Katze. "Möge dir gute Jagd beschieden sein und der Große Alte dich beschützen!"
Jetzt war auch Brebas zu einem vollwertigen N'Dozo geworden. Der Reihe nach wurde er von seinen Eltern und Geschwistern umarmt. Doch als sie begannen, ihn mit Fragen zu bestürmen, bat er um Geduld.
"Ich habe noch eine Überraschung für euch", lächelte er und verwandelte sich blitzschnell. Als schwarzer Kater sprang er aus dem Dorf, zu seinen Freunden. Zurück kehrte er als Mensch und in seiner Begleitung waren die N'Dozos aus Edfu mit ihren N'Pekos und Tagina.
Das gab eine Aufregung! So viele Neulinge auf einmal hatte es noch nie gegeben. Unversehens sah Brebas, dass sich die Aufmerksamkeit der Vestralper von ihm wandte. Das machte ihm aber nichts aus. Er musste seine Gedanken ordnen. Still kletterte er auf einen Baum. Jernis hatte einen anderen zum Gatten gewählt. Daran war nichts zu ändern.
"Brebas?", erklang es von unten. Da stand Gaina.
Der junge Mann schwang sich zu ihr hinunter. "Wie geht es dir, Gaina?", fragte er. "Hast du schon .....?"
"Hast du mir eine Katze mitgebracht?", unterbrach sie ihn. "Ich weiß, dass das mein N'Peko ist."
Wie schön sich doch ihr Haar ringelte, wie ihre dunklen Augen strahlten! "Du bist noch schöner geworden seit ich dich das letzte Mal sah", sagte er mehr zu sich als zu ihr.
"Ich brauche eine Katze!", fuhr sie ihn an. "Du hast versprochen, mir eine zu bringen!"
"Äh, ... ja", meinte er verwirrt. "Mein N'Peko wird bald Junge werfen. Ich habe gehört, dass ein Wurf leicht acht Kätzchen sein kann und das dreimal im Jahr. Da wird doch ein hübscher Kater für dich dabei sein."
Plötzlich hing sie an seinem Hals und seine Arme legten sich wie selbstverständlich um sie. Lange Zeit waren sie nur miteinander beschäftigt, bis Zuchilo die Idylle störte.
"Die Frau kann nicht in Vestralp bleiben", brummte er.
"Tagina bleibt!", beharrte Brebas. "Ich habe das Verlorene Tier nach Vestralp gebracht. Du hast versprochen, mich zu unterrichten. Hältst du dein Wort, Zuchilo?"
"Ja", antwortete der Alte bedächtig. "Aber was hat das mit Tagina zu tun."
"Katzen brauchen mehr Fürsorge als Vögel. Sie soll unsere Katzenwärterin sein. Mein N'Peko wird bald werfen und auch die anderen Katzen werden es ihr früher oder später gleichtun. Acranas Kater war fleißig."
Zuchilo knirschte mit den Zähnen, doch es klang zustimmend.

ENDE


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