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ZEITWEISE ZEITLOS

von Andreas Leder



Ich traf ihn am Ende der Zeit. Er hatte es sich auf einer Nanosekunde bequem gemacht und sah aus als hätte er Mühe, vor lauter Langeweile die Augen offen zu halten. Aus leidlicher Erfahrung weiß ich aber, dass dieser Eindruck täuscht.
"Aequalis, es ist gut, dass du endlich vorbeikommst", begrüßte mich Aeternus etwas sarkastisch. Ich war mir jedoch keiner Schuld bewusst. Es ist ja schließlich kein vergnüglicher Spaziergang, bis man hier ankommt. Und gemeldet hatte er sich auch erst vor …, na ja, vor kurzem und ich habe mich redlich beeilt.
"Was gibt es", reagierte ich kurz angebunden und ein bisschen eingeschnappt. Mit ihm zu diskutieren hätte ja doch keinen Sinn.
"Fällt dir was auf?" wollte er wissen.
Das sind genau die Fragen, die ich hasse. Egal welche Antwort man gibt, sie ist ganz sicher völlig falsch. Ich sah mich trotzdem ein wenig um - nun ja, wenn man genau hinsah, konnte man schon einige Veränderungen zu früher erkennen.
"Geht dir nicht was ab?" fragte er weiter.
Ja! Jetzt fiel es mir auf. Zu dumm, dass er mich erst darauf aufmerksam machen musste.
"Ja, es schaut so aus, als ob gerade die kleineren Zeiteinheiten momentan nicht da sind." Ich versuchte das herunterzuspielen, aber offensichtlich gelang es mir nicht, denn er regte sich fürchterlich auf.
"Bist du denn ganz von Sinnen? Was heißt hier momentan? Wieso passt du nicht auf? Wozu habe ich dich gerade auf diese Problematik aufmerksam gemacht? Müsstest du nicht jederzeit wissen, wo die sind? Es ist ganz wichtig, dass du auf die kleinsten Zeiteinheiten besonders acht gibst!"
"Das weiß ich schon. Aber ich kann ja auch nicht überall sein", versuchte ich mich zu rechtfertigen.
"Es ist mir egal, wann und wo du bist und wann und wo du sein kannst. Du hast nicht aufgepasst und jetzt bringst du das schleunigst wieder in Ordnung! Klar!?"
"Natürlich, mache ich das - ist doch selbstverständlich. Und was ich dich noch fragen wollte..."
"Du hast nicht zu fragen, du hast zu handeln!", und weg war er.

So ist das immer mit ihm. Er kommt immer zum schlechtesten Zeitpunkt, stiftet Unruhe und verschwindet wieder.
Mir war ja bewusst, dass gerade die kleinen Zeiteinheiten, die Zepto- und Yoccto-Sekunden, also die Trilliardstel- und Quadrillionstelsekunden, die von den Menschen gar nicht richtig wahrgenommen werden konnten, wichtig für den Zeitfluss waren.
Und in den letzten Minuten vor seinem Ruf war mir schon etwas seltsam vorgekommen. Ich hatte den Eindruck alles verliefe ein bisschen ruckartig, so wie ein Film, der schlecht abgespielt wurde und da war auch so ein leises Hintergrundgeräusch, das mich auf einmal störte. Aber bevor ich diese Sache überhaupt noch bewusst registriert hatte, musste ich ja hierher kommen.

Jetzt war Aeternus wieder verschwunden und ich hatte ihn nicht einmal fragen können, wen er verdächtigte. Es gab sicher mehrere Gruppen, die für diesen Diebstahl in Frage kommen, und dass es ein Diebstahl sein musste, war völlig klar. Zeiteinheiten verschwinden schließlich nicht einfach so. Äeternus hätte wahrscheinlich einen guten Tipp für mich gehabt, was meine Arbeit auf jeden Fall abgekürzt hätte. Er hatte da einen besonderen Zugang zu der Materie. Als einfacher Zeitwächter musste ich mich erst durch einen Wust von Problemen kämpfen, bis ich vielleicht einmal eine Antwort bekam, die zur Frage passte.
Missmutig machte ich mich auf den Rückweg. Allein der Gedanke an die Berge von Daten, durch die ich mich arbeiten musste, nur um die Ahnung einer Spur zu erhalten, machte mich richtig grantig. Dem nächsten größeren Zeitkiesel, der am Weg lag, gab ich einen Tritt, um mich ein wenig abzureagieren und achtete gar nicht darauf, dass ich ihn in eine Zeitspalte beförderte, in der er verschwand. Als ich den nächsten Schritt machen wollte, hatte ich immer noch den Punkt fixiert, wo der Zeitkiesel verschwunden war. Ich war mit meinen Gedanken so beschäftigt, dass ich fast die kleine Rauchfahne übersehen hätte, die sich plötzlich aus dieser Zeitspalte kringelte.
Meine Neugier war geweckt. Ich wollte wissen, was sich in der Zeitspalte tat. Also kniete ich mich hin, nahm vorsichtig die Ränder der Zeitspalte in die Hände und zog sie langsam auseinander. Solche Gebilde darf man nicht zu schnell bewegen, man weiß ja nie, welche Auswirkungen das auf den speziellen Zeitfluss hat. Ich bemühte mich also, die Spalte langsam aufzuziehen und siehe da, ich hatte einen Zufallstreffer gelandet, im wahrsten Sinne des Wortes.
Allerdings wusste ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

In der Zeitspalte war ein CTT versteckt gewesen. Also richtig heißen die Dinger ja Castor-Time-Transporter, aber so ein Wortungetüm spricht ja keiner aus. Wir verwenden da schon lieber die Abkürzung, wenn wir schon einen CTT brauchten, denn ungefährlich war das ja auch nicht.
Der Zeitkiesel, den ich in die Zeitspalte gestoßen hatte, war genau auf der Zugmaschine eines CTT gelandet und hatte diese beschädigt.
Das muss man sich einmal vor Augen halten: Castor-Time-Container werden nur verwendet, um Zeiten von einem Universum in ein anderes zu schaffen. Man will ja schließlich nichts kontaminieren. Man stelle sich die Auswirkungen vor, wenn eine Sekunde aus einem anderen Universum hier bei uns zur Wirkung käme - nicht auszudenken, was alles geschehen könnte. Und genauso war es mit unserer Zeit, die nicht in einem falschen Universum losgelassen werden durfte.

Die Leute also, die dieses technisch-energetische Ungetüm lenkten, standen nun ratlos um ihr Gefährt herum und wussten nicht weiter. Sie waren offensichtlich nur zum Transport ausgebildet worden aber nicht, um das Ding auch zu reparieren. Dabei hält so eine Zugmaschine schon einiges aus, für eine Kollision mit einem fliegenden Zeitkiesel ist sie aber nicht gebaut worden.
Langsam näherte ich mich der Gruppe. Ich versuchte zwar harmlos auszusehen, augenscheinlich gelang es mir jedoch nicht so richtig. Als sie mich endlich wahrnahmen, erstarben alle Gespräche und sie starrten mich nur an. Na, na, so fürchterlich sehe ich doch auch nicht aus! Vielleicht war es aber auch nur der Schrecken, von einem Zeitwächter entdeckt worden zu sein, der ihnen in den Gliedern saß.

"Herr, wir... äh... also..."
Ich setzte eine noch strengere Miene auf: "Sag' schon! Was ist los?"
"Wir sitzen hier fest, Herr. Uns hat etwas getroffen, aber wir wissen nicht, was es war. Es hat da vorne in die Zugmaschine eingeschlagen und jetzt ist sie kaputt."
"So, so. Jetzt ist eure Zugmaschine kaputt. Und was ist mit eurer Fracht? Ist die noch in Ordnung?"
"Ja, Herr, da ist nichts passiert. Es ist nur unsere Zugmaschine,...." Er brach ab, weil ich ihm mit der Hand deutete, endlich den Mund zu halten. Es hatte den Anschein, als wollte er mich von den Behältern ablenken, damit ich mich auf die Zugmaschine konzentriere. Ich aber wollte die Siegel kontrollieren, die an den Behältern angebracht waren, um sicherzugehen, dass wirklich nichts passiert war.
Umso erstaunter war ich, als ich erkannte, welcher Inhalt im ersten der beiden Behälter lagerte und wunderte mich daher auch nicht mehr, als ich die Siegel und Plaketten am zweiten Behälter in Augenschein nahm. Ja, der Inhalt war derjenige, den ich vermutet hatte.

"Okay, die Siegel sind in Ordnung", stellte ich fest und dreht mich zu der versammelten Runde um. Man sah förmlich, dass ihnen ein Stein vom Herzen fiel.
"Aber", begann ich mit erhobener Stimme, "aber, ihr seid auf dem falschen Weg!!" Das war jetzt schon ziemlich laut gewesen. Sie zogen die Köpfe zwischen die Schultern und schienen sich ihrer Schuld bewusst zu sein. "Ich möchte wissen, warum ihr euch in einer Zeitspalte versteckt und wieso ihr das da", ich deutete mit dem Daumen hinter mich auf die zwei Transport-Behälter "von hier wegschaffen wolltet!"
"Herr, wir ... äh... also..."
Ich war die Strenge in Person. "Spuck's aus! Aber rasch, ich habe nicht so viel Zeit, wie du!"
"Herr, wir wollten doch nur... nun ja,..."
"Jetzt reicht es mir! Ein falsches Wort und ich stopfe dich in den Behälter zu deiner Fracht!" Diese Drohung schien zu wirken und er begann von neuem: "Wir wollten doch nur .... ach, das versteht ihr ja doch nicht." Resignierend ließ er die Schultern hängen.
Das war nun wirklich die falsche Ansage! Ich sollte irgendetwas nicht verstehen? Ich packte ihn am Brustteil seiner Kombination, zog ihn zu mir herauf und schüttelte ihn, dass ihm Hören und Sehen verging. Dann stellte ich ihn wieder fest auf den Boden zurück, musste ihn aber stützen, damit er nicht gleich umfiel.
Bis jetzt war die ganze Angelegenheit relativ friedlich verlaufen. Doch nun hatten die Leute aus der Begleitmannschaft kleine Projektilwaffen in ihren Händen und zielten damit auf mich. Das ist zwar kein wirklicher Grund, Angst zu bekommen, zeigte aber ihre Entschlossenheit. Der von mir gebeutelte Sprecher der Gruppe zog seine Kombi zu recht, streckte die Brust raus, nahm die Schultern zurück, schaute mich keck an und legte los: "Ihr wisst ja überhaupt nicht Bescheid! Als König Tempus der Erste befehle ich dir: tritt zur Seite, oder schließe dich uns an!"
Der kleine Wicht wollte ein König sein? Was sollte das nun wieder heißen? Nun ja, es stimmt schon, die Zeiten, in der Könige an ihren goldene Kronen zu erkennen waren, sind lange vorbei. Heute ist ein König ja mehr ein Geschäftsmann, als ein adeliger Repräsentant seines Staates. Bei diesem König dürfte es sich aber mehr um einen Wegelagerer als um einen Unternehmer handeln. Ich trat also nicht zur Seite und ihm anschließen wollte ich mich auch nicht. Schon deshalb, weil ich ja überhaupt nicht wusste, worum es ging. Und man kann mir ja viel nachsagen, aber übereilte Entschlüsse bestimmt nicht!
"Warum sollte ich mich euch anschließen?" Mein Tonfall war trotz der auf mich gerichteten Waffen richtig schön autoritär. Schade, das der so genannte König das nicht zu schätzen wusste.
"Hier siehst du die Bürger des neuen Reiches Tempus, dessen erster König ich bin. Mit dem Inhalt dieser zwei Behälter erschaffen wir ein neues Universum. Ein Universum in dem ich und meine Nachkommen weise, gerecht und gütig herrschen werden." Diese Wahlrede hatte er gut einstudiert. Die umstehenden Begleiter nickten ihm zu.

"Wisst ihr, dass euer Plan gar nicht funktionieren kann?", stellte ich eine Frage, die sie mit Sicherheit nicht beantworten konnten. Vielleicht, wenn einer von ihnen Zeitphysik studiert hätte, sonst nicht. Aber ich hatte sie richtig eingeschätzt. Der Gute König Tempus hatte nur einfache Geister um sich geschart, auf keinen Fall Gelehrte und Professoren. Sie standen nur da und schauten sich ratlos an.
"Natürlich funktioniert das", begehrte Tempus auf. "Wir reisen ein paar Universen weiter, dann öffnen wir die Behälter und schon entsteht unser eigenes Universum. So machen wir das. Nicht wahr, Leute?"
Sie jubelten ihm zu. Das konnte man ihnen gar nicht übel nehmen. So schön hatte er sich das ausgedacht. Dann aber war ich gekommen, hatte mit einem Zeitkiesel seine Zugmaschine kaputt gemacht, und aus war es mit seinem Plan gewesen. Jetzt konnte er unser Universum nicht mehr verlassen und ich hatte den heimlichen Transport auch noch entdeckt. An manchen Tagen sollte man einfach im Bett bleiben.

Eigentlich erwartete ich, dass die Situation schön langsam eskalieren würde. Doch die paar Leute, die Tempus um sich geschart hatte, waren keine Kämpfer. Einfache Arbeiter waren sie, denen er Flausen in den Kopf gesetzt hatte, denen er vielleicht viel Geld und hohe Ämter versprochen hatte, aber Männer der Tat hatte er sich nicht ausgesucht. Da brauchte es schon einen direkten Befehl.
"Auf ihn, Männer," rief der König seinen Getreuen zu, "er ist alleine, gegen uns kann er nicht bestehen!" Jetzt richtete auch er eine Waffe auf mich und ich sah schon wie er den Finger krümmte. Offensichtlich war er der skrupelloseste unter ihnen.
Als das Projektil den Lauf verließ, hielt ich im nahen Umkreis die Zeit an, nahm ihm und seinen Leuten gemütlich die Waffen aus den Händen, stellte mich dann hinter sie und ließ der Zeit wieder ihren Lauf.

Ein paar Treffer konnten sie verbuchen,
aber sie trafen nicht mich, sondern nur die Castor-Behälter, die halten so was jedoch leicht aus. Da waren schon größere Kaliber notwendig.
Wieder einmal zeichnete sich Ratlosigkeit in den Gesichtern von Tempus und seinem Gefolge ab. Ihre Waffen waren verschwunden und sie konnten sich nicht erklären wieso.
Tempus war aber wild entschlossen. Hektisch sah er sich um, und als er mich erblickte, stürmte er mit gesenktem Kopf auf mich los. Ich packte ihn an den Schultern, hob ihn hoch, wirbelte ihn herum und hielt ihn mit der ausgestreckten Hand an einem Bein hoch. Jetzt hatte ich wirklich genug. Mit der anderen Hand löste ich das Siegel des Behälters mit der Zepto-Sekunde, und hatte gerade noch Zeit, sie zu packen, bevor sie an ihren Stammplatz zurückkehren konnte. Dann schob ich sie Tempus in den Kragen und damit war er weg.
Ich hörte noch, wie es ihn verwehte, und die Zepto-Sekunde sich in das Zeitgefüge wieder einordnete.

Ja, wenn man nicht wirklich gut ausgebildet ist, kann man mit der Zeit auch nicht umgehen. Fließen lassen, dass kann heute schon jeder. Aber mit der Zeit etwas auf die Beine stellen, können nur wenige. Ich besah mir die Gruppe, die um mich herumstand. Der Schreck saß ihnen noch in den Gliedern, wie einfach es für mich gewesen war, ihren Anführer zu beseitigen. Sie wollten sicher nicht auch diesen Weg gehen. Da trat einer von ihnen hervor.
"Herr, bitte sei gnädig, wir..."
Ich unterbrach ihn: "Warum sollte ich gnädig sein? Ihr seid Aufrührer und Abtrünnige. Ihr wolltet uns Zeit stehlen. Ihr wolltet ein Konkurrenzuniversum erschaffen und wahrscheinlich früher oder später auch über uns herrschen. Nein, Gnade ist da nicht angebracht." Sie senkten die Köpfe.
"Aber ich kann euch verzeihen." Hoffnung zeichnete sich in ihren Gesichtern ab. "Ich verzeihe euch, wenn ihr auch den letzten Teil eures Diebstahles zurückgebt und wieder an die Arbeit geht."
Unschlüssig schauten sie sich zuerst an. Doch dann nickte einer und schön langsam stimmten auch die anderen zu. Sie postierten sich rund um den Castor-Time-Container. Sie mussten die Siegel entfernen und die Verschlüsse öffnen und das alles ziemlich schnell.
Okay, bis jetzt machten sie alles richtig. Ihre Ausbildung hatte Früchte getragen.
Auf ein Kommando, das einer von ihnen gab, begannen sie wie rasend zu arbeiten. Die Arme flogen hoch, die Köpfe zogen sie zwischen die Schultern. Im Takt entfernten sie die Siegel und mit dem letzten Schlag öffneten sie gleichzeitig den Container. Sie machten alles richtig, keiner von ihnen wurde mitgerissen. Erstaunlich!
Jetzt konnte ich hörten, wie sich auch die Yoccto-Sekunde an ihrem Platz einfügte. Auf einmal war auch das leichte Hintergrundknirschen wieder weg, und die Zeit floss wieder gleichmäßig dahin.
Als ich die Zeitspalte verließ folgen mir Tempus' Leute, wie eine Herde ihrem Hirten. Ich prägte mir ihre Gesichter ein, schließlich wollte ich sie hin und wieder besuchen, damit sie auf keine dummen Gedanken kommen. Dann ließ ich sie gehen.

Ich sah ihn schon von weitem, er hatte es sich wieder auf der Nanosekunde bequem gemacht. "Diesmal hast du richtig schnell gehandelt," begrüßte mich Aeternus.
War das jetzt ein Lob oder meinte er es sarkastisch? Nun ja, bis die Yoccto-Sekunde wieder frei war, hatte ich mir schon etwas Zeit gelassen....
"Nein, nein, ich meine es, wie ich es gesagt habe. Du hast schnell gehandelt und das gefällt mir."
Konnte er jetzt auch schon Gedanken lesen? Ich war trotzdem erleichtert. So offensichtlich hat er mich noch nie gelobt.
"Du bist ein guter Zeitwächter, Aequalis. Aus dir kann noch etwas werden."
Und weg war er.
Ja, so ist das immer mit ihm. Er kommt und geht wann er will. Aber als einfacher Zeitwächter hat man nicht darüber zu befinden, was der Herr der Zeit macht oder nicht und vor allem wann.
Langsam nahm ich den Rückweg in Angriff. Nur nicht hetzen, da konnte immer was schief gehen. Zeit hatte ich schließlich genug.

ENDE


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