STORIES


DER FREMDE

von Fred H. Schόtz



Matt und Elmer saßen am Pokertisch und schwiegen sich an. Die anderen Tische waren leer, zum Teil noch mit den umgekehrten Stühlen darauf, die Mary-Ellen nach dem Ausfegen noch nicht zurückgestellt hatte. Rio lehnte am Tresen und spielte verlegen mit einem Pokerchip; Mano hatte sich geweigert, den Chip als Zahlung für einen Drink anzunehmen. Mano war der Barman. Sein rundliches Mexikanergesicht wurde von einem riesigen schwarzen Schnurrbart in eine obere und eine untere Hälfte geteilt. Er hatte einen Arm über die Zapfsäule gehängt und kaute auf einem Streichholz.
Heute war Donnerstag. Jeder weiß, daß man an einem Donnerstag besser gar nicht erst aufsteht. Und es war noch nicht einmal Mittag …
Die bleierne Stille wurde jäh von Türeklappen im Oberstock unterbrochen. Ein gedämpftes Lachen aus einer Männerkehle, dann ein schrilles "Huch!" Die Männer im Barraum grinsten sich an; Mr. Harper hatte Mary-Ellen in die Kehrseite gekniffen. Das tat er immer wenn er sich von ihr verabschiedete. Was sie sagte war unten nicht zu verstehen, aber er lachte noch einmal als er mit schweren Schritten zur Treppe ging.
Mr. Harper war ein großer schwerer Mann. Stufen ächzten unter seinen Tritten als er die Treppe herunterkam. Mano richtete sich auf, griff nach der Whiskeyflasche und als Mr. Harper am Tresen stehen blieb, stand das volle Glas schon vor ihm. Mr. Harper legte einen Geldschein auf den Tresen. "Gib meinen Jungs auch einen, Mano!"
Mit dem vollen Glas in der Hand drehte er sich um. "Aber nur einen, hört Ihr. Ich brauche Euch nüchtern bis die Hündchen verladen sind!"
Hündchen war der Kosename der Cowboys für Rinder. Hundert Köpfe bestes Rindfleisch auf dem Huf warteten im Verladepferch des Bahnhofs auf den nächsten Zug nach Osten. Die Tiere waren unruhig und ein Cowboy der seine Sinne nicht beisammen hat gerät leicht unter die trampelnden Hufe.
So ein Stier wiegt leicht eine Tonne. Wenn hundert über dich hinweglaufen bleibt nicht mehr viel zum Begraben übrig.
"Danke, Mr. Harper!" Matt und Elmer sprangen eifrig auf und gesellten sich zu ihrem Boss. Selbst der schweigsame Rio gab ein brummelndes "Danke" von sich als sie die Gläser ergriffen. Mr. Harper leerte sein Glas in einem Zug und stellte es auf den Tresen zurück. Er tippte einen Finger an die Hutkrempe, "Bis dann!" und ging zur Tür.

Mr. Harpers Urgroßvater hatte keinen Cent in der Tasche als er vor mehr als hundert Jahren die Stadt gründete und die Eisenbahn herholte. Heute war Mr. Harper der reichste Rancher der Gegend.
Kurz vor der Tür blieb Mr. Harper noch einmal stehen und wandte sich um. "Mach's gut, Mary-Ellen," rief er und sandte einen Handkuß in Richtung der Treppe. Dann stieß er die Schwingtüren auf und trat hinaus. Mary-Ellens "Bye, Darling!" hörte er nicht mehr.
Dann blieb es wieder still bis die Tür im Oberstock erneut klappte. Die Männer drehten sich um und schauten zur Treppe als Mary-Ellen herunterkam. Ihre Absätze klapperten auf den Stufen und schon eilte sie hinter den Tresen. Neben dem Barmann blieb sie stehen. "Gib mir auch einen, Mano!"
Auf den ersten Blick sah Mary-Ellen aus wie das junge Mädchen das vor zwanzig Jahren in die Stadt geschneit kam, ein naives Landei dem die Arbeit auf der Farm ihrer Eltern in Oklahoma zu beschwerlich geworden war. Heute verdeckte Makeup die Spuren allzuvieler Nächte in rauer Gesellschaft.
Für die Männer auf der anderen Seite des Tresens war sie eine Göttin, wenngleich eine für sie erreichbare. Man raunte hinter der Hand, daß sie es schon mal für fünfzig Cent gemacht habe, nur erscheint das für eine Göttin doch zu schäbig. Aber wenn gegen Monatsende keiner mehr Geld in der Tasche hatte, ja, dann tat sie es auch für zwei Dollar.
So standen die drei nebeneinander an der Bar, die geleerten Gläser vor sich, und himmelten sie an. Was konnten sie auch anders tun; sie hatten nicht einmal mehr Geld für einen Drink und von dem halben Dollar den sie als Mindestlohn für ihre Gunst fordern würde konnte keine Rede sein.
Das Leben eines Cowboys ist hart. Tag für Tag, bei Wind und Regen, ist er draußen auf der Weide und kümmert sich um die Herde. Mitunter singt er auch ein Lied; das vertreibt die Einsamkeit und beruhigt die Tiere. In die Stadt kommt er bestenfalls einmal im Monat, wenn er dann einer hübschen Frau begegnet hat er einen Knoten in der Zunge.
So auch jetzt. Sie standen da, verlegen wie kleine Jungen die man bei einem Streich ertappt hat, und schwiegen. Mag sein, daß ihre Gedanken umeinander schwirrten wie Bienen um den Stock und daß ihnen doch nichts einfiel mit dem sie bei ihr Eindruck machen konnten. Mary-Ellen, die daran gewöhnt war, nippte an ihrem Whiskey und sagte nichts. Mano kaute auf seinem Streichholz und schwieg.
Rio schob ihr gerade verstohlen seinen Pokerchip zu als die Schwingflügel der Eingangstür auf und zu schwappten. Köpfe flogen herum und fünf Augenpaare richteten sich auf die Tür.
Der da stand war kein Bürger von Harperville und auch kein Cowboy. Man stelle sich vor: er hatte blank gewichste Halbschuhe an den Füßen und ein merkwürdiger Hut saß auf seinem Kopf!
Den nahm er jetzt ab als er einen Augenblick stehen blieb, wie jeder der aus gleißendem Sonnenschein kommt und ein Gebäude betritt. Das erlaubte seine Züge zu erkennen: ein hageres Gesicht mit prominenter Nase, das unter der Sonnenbräune merkwürdig fahl war - als sei er gerade von schwerer Krankheit genesen. Sein Haar war kurz geschnitten und ebenso grau wie sein gleichfalls kurz gehaltener Bart.
"Tag," sagte er mit vor Verlegenheit rau klingender Stimme als er zögernd näher trat. Am Tresen blieb er stehen. Neben ihm lümmelte sich Rio mit dem Ellbogen auf den Tresen und starrte ihm unverhohlen ins Gesicht.
"Tag, Fremder," sagte Mano, ganz gegen seine Gewohnheit auf englisch. "Was darf's sein?" Das Streichholz wanderte vom linken zum rechten Mundwinkel.
"Eh," sagte der Mann und legte seinen Hut auf den Tresen. Er warf einen Blick zur Seite wo Mano die Gläser noch nicht weggeräumt hatte. Der Mann räusperte sich und setzte von neuem an. "Eh, was die Herren haben …?" Seine Stimme hatte einen kultivierten Klang; er sprach als hätte er eine Frage gestellt.
"Die Herren," sagte Mary-Ellen mit einem unverhohlen sarkastischen Seitenblick auf die Männer, "haben nichts! Sie müssen noch Vieh verladen!" Mano, der die Whiskeyflasche bereits ergriffen hatte, stellte sie wieder auf den Tresen zurück und blickte Mary-Ellen vorwurfsvoll an.
"Eh …" sagte der Fremde erneut. Rio richtete sich auf, griff nach dem Hut und hielt ihn einen Augenblick in Brusthöhe. Seine Augen bohrten sich in die des Fremden. Dann ließ er den Hut fallen, trat darauf und drehte den Fuß wie man eine Zigarette austritt.
"Rio!" rief Mary-Ellen erbost, "ist das eine Art?" In diesem Augenblick erscholl draußen der unverkennbare Pfiff einer Lokomotive und Mary-Ellen fuhr im gleichen Ton fort: "Marsch, Männer, hinaus! Eure Arbeit wartet!"
Matt, der neben Rio stand, ergriff seinen Arm und zerrte ihn zur Tür. "Komm, Rio!" Rio stieß einen spanischen Fluch aus, doch dann folgte er widerstrebend. Die Männer schoben sich durch die Schwingtüren, die hinter ihnen hin und her schwang. Kehlige Männerstimmen verklangen als die Männer sich entfernten.
Mary-Ellen versuchte ein gewinnendes Lächeln das maskenhaft wirkte; sie spürte die Steifheit ihrer Gesichtsmuskeln. "Sehen Sie's ihm nach, Fremder! Monatsende, wissen Sie, und die Männer …" Sie ließ den Satz unvollendet und wandte sich an Mano. "Gib ihm einen auf's Haus, Mano! Für den Schreck …"
Mano rührte sich nicht und sie drängte: "Mach schon! Ich sorge dafür, daß Mr. Harper bezahlt!"
Als Mano sichtlich widerstrebend die Flasche ergriff bückte sich der Fremde. Dann tauchte er wieder über den Tresen und legte seinen Hut darauf. Mary-Ellen starrte verblüfft und Mano bekam Stielaugen: der Hut war unversehrt!
Der Mann sah die Blicke und lächelte schüchtern. "Panama," sagte er, "aus Ekuador." Als ob der Umstand, daß ein Hut aus Ekuador Garantie dafür sei, daß Stiefelabsätze ihm nichts anhaben können, wenn er "Panama" genannt wurde.
Dann bemerkte er das volle Glas das vor ihm auf dem Tresen stand. "Oh, dankeschön!" Er griff in die Tasche und holte einen Geldschein hervor, legte ihn neben das Glas. "Bitte genehmigen Sie sich auch einen!"
Mary-Ellen hob ihr halb geleertes Glas und der Whiskey schwappte. "Danke, habe schon!"
Mano ergriff den Schein. "Ich lasse mich gern einladen!" Ohne auf Mary-Ellens vorwurfsvollen Blick zu achten griff er sich ein sauberes Glas und schenkte ein. Er hob es an die Lippen und trank. Sein Adamsapfel rutschte auf und nieder.
Der Fremde starrte fasziniert auf das Streichholz in Manos Mundwinkel: es saß wie festgewachsen.
Dann griff er erneut in die Tasche und holte ein zusammengefaltetes Papier hervor, breitete es auf dem Tresen aus. "Bitte, kennen Sie diese Frau? Haben Sie sie schon mal gesehen?"
Ein dunkler und ein blonder Schopf beugten sich über die Zeichnung. Mano schüttelte den Kopf und Mary-Ellen sah wieder zu dem Mann auf. "Wer ist das?"
"Ich habe das Bild aus dem Gedächtnis gezeichnet," sagte der Mann und wiegte den Kopf als ob er unschlüssig sei. "Sie nannte sich Ceni …"
Mano sah überrascht hoch. Der Fremde hatte das C in dem Namen als Zischlaut ausgesprochen. "Ceni, das ist doch kein Name!" sagte Mano laut. Er sprach das C wie S aus.
"Sicher nicht." Der Fremde bewegte den Kopf verneinend. "Ich denke, es wird ein Kosename sein, den ihre Familie ihr gegeben hat …"
Im Grenzgebiet spricht jeder zumindest ein bißchen spanisch. Mary-Ellen zog die Augenbrauen zusammen. "Aber was bedeutet er?"
"Da bin ich überfragt." Der Fremde schüttelte wieder den Kopf. "Kennen Sie sie? Haben Sie sie schon mal gesehen?" Seine Züge waren angespannt als sein Blick zwischen den beiden hin und her wanderte.
"Eine Mexikanerin ist sie nicht," sagte Mano in einem Tonfall der erkennen ließ daß man ihm kein X für ein U vormachen konnte. "Vielleicht eine Indianerin."
"Sie sieht so traurig aus," sagte Mary-Ellen mit gedämpfter Stimme. "Wie sind Sie denn an sie geraten?"
Er wandte sich an Mary-Ellen: "Sie war eine Anhalterin die ich eine kurze Strecke mitnahm. Vor Jahren …" Er ließ den Satz ausklingen und sein Blick wurde dunkel.
"Und Sie können sie nicht vergessen," bemerkte Mary-Ellen. Die Sprache des Herzens war ihr geläufig.
"Ihre Augen verfolgen mich," entgegnete der Fremde. "Sie muß sehr unglücklich gewesen sein und deshalb …"
"Aber warum haben Sie sich von ihr getrennt?" fragte Mary-Ellen.
"Sie wollte weiter nach Osten und ich über die Grenze nach Mexiko." Der Fremde verhielt einen Moment, den Blick nach innen gekehrt; die Erinnerung schmerzte ihn sichtlich. "Als ich es mir überlegte und umkehrte war sie verschwunden. Ein anderes Fahrzeug muß sie mitgenommen haben."
Mano räusperte sich. "Warum fragen Sie nicht in der Cantina nach ihr? Die Straße runter auf der anderen Seite. Das heißt," er räusperte sich ein zweites Mal, "wenn Sie spanisch sprechen?"
Der Fremde lächelte schwach. "Für meine Bedürfnisse reicht's" sagte er auf spanisch.
Mano gab einen gedämpften Pfiff von sich. Bei ihm galt das als Anerkennung.
Auch Mary-Ellen zeigte sich beeindruckt. "Die Cantina ist die Mexikanerbar," sagte sie unnötigerweise. "Dort gibt's Tequila!"
"Und Mescal," sagte Mano. "Wissen Sie was das ist, Mescal?"
"Der mit dem Wurm drin." Der Fremde nickte. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen und plötzlich erschien er Mary-Ellen um Jahre jünger als einen Moment zuvor. "Danke. Ich werde mein Glück dort versuchen." Er nahm seinen Hut vom Tresen und setzte ihn auf, dann wandte er sich um und ging zur Tür.
An der Tür wandte er sich noch einmal zurück und hob seine Hand zum Hut als wollte er ihn abnehmen. So grüßt man im Westen wenn man einer Frau begegnet. "Adiσs!"
Einen Augenblick später schwappten die Türflügel in der leeren Tür. Auf dem Tresen stand noch das volle Glas. Der Fremde hatte den Whiskey nicht angerührt. Mano ergriff es und hob es in Richtung der Tür. "Salud, Amigo!"
Mary-Ellen wartete bis er das Glas zurückstellte. Dann sammelte sie die leeren Gläser ein, stellte sie auf ein Tablett und trug dieses zum Waschbecken. Mano erblickte die Zeichnung die der Fremde zurückgelassen hatte und hob sie hoch als sei er plötzlich kurzsichtig geworden. In der linken unteren Ecke stand ein Name, den Mano mit einiger Mühe entzifferte: "S. S. Waitluck." Er sah auf. "Wer mag das sein?"
"Na, wer schon!" Mary-Ellen schüttelte den Kopf als wollte sie umherschwirrende Fliegen verjagen. "Das ist sein Name!" Sie begann die Gläser zu spülen. "Ich hoffe," sagte sie leise, "er findet es, das Glück …"
Eine Stunde später ging sie zum General Store um ein Seidenband für ihr neues Kleid zu kaufen. Mary-Ellen machte ihre Kleider selber, nach Fotos in einem Modejournal. General Stores sind Läden für alles was der Mensch im Westen braucht. Dort traf sie Teresa.
Teresa versah in der Cantina die gleichen Dienste wie Mary-Ellen im Hotel. "Ist der Fremde auch bei Euch gewesen?" fragte sie, und als Mary-Ellen nickte fuhr sie eifrig fort: "Ich glaube, ich habe diese Frau in Durango getroffen und da habe ich ihm gesagt …"
"Wie lange ist es her daß du sie gesehen hast?" fragte Mary-Ellen. Teresa war schon vor Jahren eingewandert.
Terea hob die Schultern und zog die Mundwinkel nach unten. "Etwa zehn Jahre, mehr oder weniger …"
"Mehr oder weniger," wiederholte Mary-Ellen bedrückt. Das Glück für Waitluck schien in weite Ferne gerückt …
Stuart Waitluck saß am Steuer eines alten klapprigen Ford dessen Farbe unter einer dicken Staubschicht verborgen war. Er fuhr in Richtung Grenze. Sein Gesicht wirkte angespannt und müde, aber seine Augen glänzten. Er hatte ein Ziel vor sich.


ENDE


zurück